„Das sind Todesfallen für Menschen": Die Geschichte einer Mutter, die auf der Suche nach Lebensmitteln in Gaza erschossen wurde
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- 10. Juni
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Eine Familie ist nach dem Mord an einer Frau, die mit ihrem Sohn und ihrer Tochter stundenlang zu einem der von Israel unterstützten Verteilungspunkte gelaufen war, vollkommen verzweifelt.
Von Malak A Tantesh und Emma Graham-Harrison, The Guardian, 7. Juni 2025
(Originalbeitrag in englischer Sprache und dazugehörenden Fotos)
Reem Zeidan hatte schreckliche Angst, von ihren Kindern getrennt zu werden. Während sie stundenlang durch die Ruinen von Gaza in Richtung eines Lebensmittelverteilungszentrums gingen, ging sie mit ihrer 20-jährigen Tochter und ihrem 12-jährigen Sohn immer wieder durch, was sie tun und wo sie warten sollten, falls ein israelischer Angriff die Kolonne hungriger Menschen in eine chaotische, panische Masse verwandeln und die Familie auseinanderreißen sollte.
Es war das letzte Gespräch, das sie mit ihnen führte. Noch vor Tagesanbruch am Dienstag war sie tot, getötet durch einen einzigen Schuss in die Stirn. Ihre Tochter und ihr Sohn verbrachten fast drei Stunden neben ihrer Leiche, eingekesselt von Schüssen.
„Wir sind aus Verzweiflung dorthin gegangen. Der Hunger hat meine Mutter gezwungen, dorthin zu gehen. Sie war eine ganze Woche lang jeden Tag sechs Stunden gelaufen, um dorthin zu gelangen, und kam jedes Mal mit nichts zurück“, berichtet Mirvat, ihre Tochter, in einem Telefoninterview.
Ein paar Tage zuvor, nachdem israelische Streitkräfte das Feuer auf die müden Menschenmengen eröffnet hatten, die sich den neuen, von Israel und den USA unterstützten Lebensmittelverteilungszentren näherten, hatte Mirvat Reem angefleht, die beschwerliche Strecke nicht mehr zu riskieren.
Das lange Laufen, das Warten, der Kampf gegen das Chaos und dann mit leeren Händen zurückzukehren, schien ein sinnloses Risiko zu sein, eine Verschwendung der wenigen Energie, die sie nach Monaten kleiner, unregelmäßiger Mahlzeiten noch hatten. Aber ihre Kinder waren ausgehungert.
„Ich sagte meiner Mutter, es sei ein Zeichen Gottes, nicht mehr zu gehen, und das überzeugte sie“, sagt Mirvat. „Aber sie änderte ihre Meinung schnell, als meine kleine Schwester Razan, die erst fünf Jahre alt ist, vor Hunger schrie.“
Reem versuchte, die wenigen Vorräte, die der Familie nach monatelanger Belagerung noch geblieben waren, zu strecken, aber es ist schwer, ein hungriges Kind zu überlisten. Nach einer „Suppe“, die aus einer Handvoll Linsen mit Wasser für die ganze Familie bestand, bettelte Razan um Essen und sagte zu ihrer Mutter: „Wasser füllt meinen Magen nicht“, so Mirvat.
Am Montag sagte Reem zu Mohammad, ihrem Ehemann seit 28 Jahren, dass sie erneut versuchen wolle, etwas zu essen zu bekommen. Sie machten sich noch vor Mitternacht auf den Weg, denn die Ausgabestelle liegt mehrere Stunden Fußmarsch von Khan Younis entfernt, wo die Familie Zeidan in den Ruinen ihres alten Hauses Zuflucht gefunden hat. Die Verteilung von Lebensmitteln beginnt früh und endet schnell.
„Sechs Tage lang gingen meine Frau und ich dorthin und kamen mit nichts zurück“, sagt Mohammad. „Sie bestand darauf, [noch einmal] hinzugehen, in der Hoffnung, wir würden wenigstens ein Kilo Mehl bekommen. Stattdessen kam sie blutüberströmt und in ein Leichentuch gewickelt zurück. Es ist, als hätte ich einen Teil meines Körpers verloren, als hätte mir jemand das Herz aus der Brust gerissen. Die Seele unseres gemeinsamen Lebens ist weg.“
Reem betete und sorgte sich den ganzen Weg über, während die müde Familie lief und sich ausruhte, lief und sich ausruhte. Sie waren fast an der Lebensmittelverteilungsstelle, als sie plötzlich schwere Schüsse hörten. Reem vergewisserte sich noch einmal, dass ihr Sohn und ihre Tochter sich an den vereinbarten Treffpunkt erinnerten. Dann war sie verschwunden.
„Ihre letzten Worte waren: 'Wenn wir getrennt werden, wo werden wir uns wieder treffen?'“ sagte Mirvat. „Aber jetzt sind wir für immer getrennt worden.“
Beide sahen, wie ihre Mutter getötet wurde. Ahmad drehte sich um, als ein Mädchen hinter ihm zu schreien begann, und sah, wie seine Mutter mit dem Gesicht nach unten hinter ihm zusammenbrach.
„Ich habe versucht, sie aufzuwecken, ich habe sie geschüttelt und ihren Namen gerufen“, sagt Ahmad. „Das Geräusch der Explosionen wurde lauter, Scharfschützen schossen in alle Richtungen und Quadcopter [Drohnen] um uns herum schossen ebenfalls. In nur einer Sekunde brach völliges Chas aus, ohne dass wir wussten, warum.“
Reems Tod war eine vorhersehbare Tragödie; der Verlust ihrer Kinder ein Leid, das hätte verhindert werden können. Humanitäre Organisationen hatten davor gewarnt, dass die Vermischung von Waffen und Nahrungsmitteln die Zivilbevölkerung gefährden würde, seit Israel und die USA erstmals Pläne zur Konzentration der Nahrungsmittellieferungen in Zentren vorstellten, die von privaten Sicherheitsunternehmen und dem israelischen Militär bewacht würden.
Die Vereinten Nationen und große Wohltätigkeitsorganisationen haben seit Beginn des Krieges mehr als 2 Millionen Menschen mit Nahrungsmitteln versorgt und dabei auf Netzwerke zurückgegriffen, die in Gaza über Jahre hinweg aufgebaut wurden, sowie auf Sicherheitsprotokolle – ohne Waffen –, die in vielen Konflikten und Katastrophengebieten erprobt worden sind.
Israel hat während des gesamten Krieges den Zugang für UN- und andere Hilfsorganisationen, die wichtige Hilfsgüter nach Gaza liefern, eingeschränkt und von März bis Ende Mai eine totale Belagerung verhängt, die eine regelrechte Hungersnot auslöste.
Die israelische Armee behauptet, dass die Hamas während des gesamten Krieges Hilfsgelder abgezweigt und ausgebeutet hat und dass sie einen neuen Liefermechanismus braucht, um die Gruppe von Bargeld und Vorräten zu befreien. Sie hat jedoch nie Beweise zur Untermauerung dieser Behauptung oder Statistiken zu den Diebstählen vorgelegt.
Als Antwort auf diese Probleme stellte sie die Gaza Humanitarian Foundation (GHF) vor. Diese geheimnisvolle Gruppe, die ihre Finanzierung nicht offengelegt hat, wird von einem evangelikalen Christen aus den USA geleitet, der Verbindungen zu Trump hat, aber keine Erfahrung mit der Bereitstellung humanitärer Hilfe in großem Umfang in einem Kriegsgebiet. Weniger als eine Woche, nachdem die GHF ihre Arbeit aufgenommen hatte, wurden nach Angaben der Gesundheitsbehörden am Sonntag, dem 1. Juni, mindestens 27 Menschen bei dem Versuch getötet, einen ihrer Standorte zu erreichen. Am Montag und Dienstag kam es zu weiteren Massenangriffen, bei denen auch Reem zu den Opfern gehörte.
Das Rote Kreuz teilte mit, dass in diesem Zeitraum Hunderte von Opfern in sein Feldkrankenhaus in Rafah gebracht wurden, nachdem Angriffe auf Menschenmengen verübt worden waren, die versuchten, GHF-Standorte zu erreichen. In den drei Tagen gab es mindestens 50 Tote und mehr als 400 Verletzte.
Die GHF bestätigte am Dienstag die israelischen Militärangriffe. Ein Sprecher sagte der Nachrichtenagentur Associated Press: „Wir haben mit Bedauern erfahren, dass eine Reihe von Zivilist*innen verletzt und getötet wurden, nachdem sie den ausgewiesenen Sicherheitskorridor verlassen hatten“. Am Mittwoch und teilweise am Donnerstag wurden die Lebensmittelauslieferungen eingestellt, um „die Sicherheitsmaßnahmen zu verstärken“.
Das israelische Militär hatte zuvor bestritten, auf Zivilist*innen geschossen zu haben, die auf der Suche nach Lebensmitteln waren. Inzwischen hat es jedoch erklärt, dass seine Streitkräfte am Dienstag in der Nähe eines Lebensmittelverteilungszentrums das Feuer eröffnet und auf Menschen geschossen haben, die sich nach Ansicht der Soldaten „auf sie zubewegten“.
Mohammad, der 46 Jahre alt ist, sagt, dass bei wiederholten Besuchen in den Zentren nie auch nur ein Bruchteil der verzweifelten Menschen aus dem gesamten Gazastreifen mit Lebensmitteln versorgt werden konnte. Die Verteilung dieser begrenzten Vorräte sei brutal und entmenschlichend gewesen, berichtet er. „Dies sind keine Verteilungsstellen für Hilfsgüter. Das sind Todesfallen für die Menschen. Wenn die Schießerei beginnt, bleibt man unten. Jemand neben dir könnte angeschossen oder getötet werden, und du kannst ihn nicht einmal ansehen oder ihm helfen. Und wenn sie mit ihrem 'Spaß' fertig sind, öffnen sie um 6 Uhr morgens die Tore, und das Chaos bricht aus. Die Soldaten filmen, wie sich die Menschen um die Hilfsgüter streiten, und wenn sie fertig sind, werfen sie Tränengas, um die Menge zu vertreiben. Ich habe gesehen, wie Vertriebene, die keine Hilfe bekommen konnten, Nudeln aus dem Sand gepickt haben.“
Die Familie Zeidan hatte fast keine Lebensmittel mehr. Nach der Wiederaufnahme des Krieges im März aßen sie hauptsächlich in Wohltätigkeitsküchen, aber immer weniger davon blieben in Betrieb, als sich die Belagerung verschärfte und die Vorräte in Gaza schwanden. Jetzt, wo sie eigentlich das Opferfest feiern sollten, trauern Mohammads Kinder um ihre Mutter - ihr zweiter von Trauer geprägter Feiertag. Letztes Jahr haben sie am Ende vom Ramadan den ältesten Sohn des Paares, Nabil, beerdigt.
„Unsere Feiertage sollten eigentlich mit Freude, Süßigkeiten und Festen gefüllt sein. Jetzt begrüßen wir sie mit Tod und Blut“, sagt Mohammad. „Was haben meine Kinder getan, dass sie ihre Mutter verloren haben, weil sie versucht hat, Essen für sie zu besorgen? Der Jüngste ist erst fünf. Sie alle brauchen ihre Mama immer noch.“
Mirvat kann dem quälenden Bild des Todes ihrer Mutter nicht entkommen, das sich seit dem Ereignis in ihr Gehirn eingebrannt hat. „Jedes Mal, wenn ich die Augen schließe, um zu schlafen, sehe ich die Szene, in der meine Mutter stürzt und stirbt. Es ist, als würde ich es immer wieder erleben. Ich sah meine Mutter vor meinen Augen sterben, und ich war machtlos, etwas zu tun.“ Zuerst konnte sie nicht glauben, dass ihre Mutter getötet worden war. „Ich rannte zu ihr. Die Leute in der Umgebung sprachen ihr Beileid aus und sagten, sie sei ein Märtyrerin. Aber ich sagte ihnen: 'Nein, sie lebt noch'“, so Mirvat.
„Ich spürte wirklich, dass sie noch lebte. Ich konnte ihren Puls fühlen. Ich hielt sie, lag auf ihrer Brust. Ich spürte, dass ihre Seele noch da war. Ich konnte ihren Herzschlag hören. Ich begann sie zu rufen: 'Mama, kannst du mich hören? Komm, bitte, wach auf. Lass uns von hier verschwinden, wir kriechen auf dem Boden. Mach dir keine Sorgen, dir wird nichts passieren. Ich ziehe dich mit mir.‘ Aber sie hat nicht reagiert.“
Drei Stunden lang warteten Mirvat und Ahmad neben der Leiche ihrer Mutter darauf, dass die Schießerei aufhörte. Als sie endlich aufhörten, drängten die Menschen nach vorne, um etwas zu essen zu bekommen, und die Kinder begannen, nach einem Auto oder einem Wagen zu suchen, der ihre Mutter in ein Krankenhaus bringen konnte.
In dem Chaos wurden sie getrennt und Mirvat musste sich entscheiden, ob sie den Körper ihrer Mutter verlassen oder ihren kleinen Bruder im Stich lassen sollte. Sie beschloss, sich auf die Lebenden zu konzentrieren und flüsterte Reem zu: „Ich vertraue dich Gott an.“
Als sie ihren Bruder fand, hatten die Rettungskräfte die Leiche ihrer Mutter bereits abtransportiert, und so begaben sich die Geschwister auf eine trostlose Tour durch die zerstörten Krankenhäuser von Gaza, um sie zu finden. Zuerst das britische Krankenhaus, dann das amerikanische Krankenhaus, dann das Rote Kreuz. Als sie schließlich das Nasser-Krankenhaus erreichten, kam ein Krankenwagen mit nicht identifizierten Leichen an. Reem war unter ihnen.
Ein Journalist filmte, wie Ahmad über die Leiche trauerte und seine Mutter unter Tränen streichelte, küsste und umarmte. „Nein, nein, meine Mama ist nicht tot. Sie ist noch am Leben“, sagte er. Das Video verbreitete sich im Internet, nicht nur wegen seiner tiefen Trauer, sondern auch, weil ein Video von Reem selbst, die Nabils Leiche identifiziert, ein Jahr zuvor im Internet aufgetaucht war.
Ihr Sohn Nabil war im Januar 2024 bei einem Bombenangriff ums Leben gekommen, als Zivilist*innen angesichts des israelischen Vormarschs aus Khan Younis flohen, aber Reem konnte die Leiche ihres Sohnes monatelang nicht finden.
Der Moment, in dem sie seine Kleidung an einem nicht identifizierten Opfer erkannte und dann vor Schmerz zusammenbrach, spiegelt den Schmerz so vieler Palästinenser*innen in Gaza wider. Jetzt ist ihre Ermordung eine brutale Erinnerung an das Ausmaß von Leid und Tod, das die einfachsten Familien dort trifft.
Vor dem Krieg war die zehnköpfige Familie arm, hatte aber einander. Nabil arbeitete für eine Reinigungsfirma und verdiente neben Reem viele Jahre lang 50 Schekel (etwa 11 £) pro Woche. Sein Vater arbeitete als Tagelöhner, wenn er eine Arbeit finden konnte.
Reem war freundlich und fröhlich, berichtet Mirvat, lachte schnell und hatte immer ein Lächeln parat. Sie behandelte ihre Kinder mit Respekt und sorgte mit Liebe, nicht mit Angst, für Ordnung in ihrer großen Familie. Wenn sich ein Kind aufregte, weil es gescholten wurde, tröstete sie es mit seinem Lieblingsessen. „Sie kam mit einem Lächeln auf dem Gesicht und erklärte ihm, dass sie das alles nur zu seinem Besten tat. Sie hat es so lange versucht, bis er wieder glücklich war“, sagte ihre Tochter. „Sie hörte sich gerne unsere Gedanken an und schätzte unsere Meinung.“
Mirvat war im letzten Jahr des Gymnasiums, als der Krieg begann. Ihre Träume, Jura zu studieren, hat sie ad acta gelegt. An ihre Stelle ist die Hoffnung getreten, dass der Rest ihrer Familie den Krieg überlebt, und die neue Verantwortung nach dem Tod ihrer Mutter.
"Meine Zukunft ist klar. Es gibt Kinder, die von mir abhängig sind, und selbst wenn die Ausbildung wieder aufgenommen wird, kann ich nicht zurückkehren", sagt sie. „Ich kann mir nicht vorstellen, am Esstisch zu sitzen und den Platz meiner Mutter leer zu sehen, weil ich weiß, dass sie bei dem Versuch, uns Essen zu bringen, gestorben ist.“

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