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Die Tageszeitung Bild veröffentlichte Pro-Netanjahu-Desinformation. Wo bleibt der Aufschrei?

Die Rolle der größten deutschen Tageszeitung im „Bibileaks“-Skandal macht deutlich, dass die deutschen Medien eine weitaus differenzierte Betrachtung der israelisch-palästinensischen Situation vornehmen müssen.

Von Hanno Hauenstein, 972Mag, 7. Jänner 2025

(Originalbeitrag in englischer Sprache)

 

Der so genannte „Bibileaks“-Skandal hat in den letzten Monaten in Israel einen Sturm der Entrüstung ausgelöst. Nachdem sich herausstellte, dass geheimes Material vom israelischen Militär an einen Sprecher von Premierminister Benjamin Netanjahu durchgesickert und dann manipuliert und an ausländische Medien weitergegeben worden war – in einem offensichtlichen Versuch, die Wahrnehmung der israelischen Öffentlichkeit in Bezug auf die Waffenstillstandsverhandlungen zu beeinflussen und dabei die militärische Zensur zu umgehen – wurden der Sprecher und ein Militärreservist im November verhaftet und müssen nun mit erheblichen Haftstrafen rechnen.


Im Vereinigten Königreich Großbritannien gab es unterdessen einen großen öffentlichen Aufschrei gegen den Jewish Chronicle, nachdem aufgedeckt worden war – unter anderem durch die Berichterstattung des Magazins +972 –, dass die Zeitung über diesen Kanal völlig falsches Material veröffentlicht hatte, woraufhin mehrere ihrer führenden AutorInnen aus Protest kündigten. Doch in Deutschland, wo die größte Zeitung des Landes, Bild, in ähnlicher Weise jene Fehlinformationen veröffentlicht hat, die ihr von dem Netanjahu-Berater zugespielt worden waren, gab es kaum Nachfragen.


Der Skandal begann am 6. September, als Bild einen angeblich „exklusiven“ Bericht veröffentlichte, der den Inhalt eines geheimen Hamas-Dokuments enthüllte, in dem angeblich die Strategie der Organisation in Bezug auf Verhandlungen mit Israel über einen Waffenstillstand und einen Geiselaustausch dargelegt wurde. Das Dokument, das angeblich auf dem Computer des Hamas-Führers Yahya Sinwar in einem Tunnel in Gaza entdeckt wurde, sei der Beweis dafür, dass die Hamas „kein schnelles Ende des Krieges“ anstrebe und somit die volle Verantwortung für das Stocken der Verhandlungen trage, so der Bericht von Bild.

Der Bericht, der die israelische Regierung von jeglicher Verantwortung für das Scheitern der Gespräche freisprach, entsprach nicht nur inhaltlich, sondern auch hinsichtlich des Zeitpunkts den Interessen Netanjahus. Er kam im Zusammenhang mit massiven Protesten in ganz Israel, die einen Waffenstillstand forderten, nachdem bekannt wurde, dass die Hamas sechs israelische Geiseln im Gazastreifen getötet hatte, während das israelische Militär in der Nähe vorrückte. In einer Kabinettssitzung zwei Tage nach der Veröffentlichung des Bild-Berichts bezog sich Netanjahu auf eben diesen, um die DemonstrantInnen als unwissende Handlanger der angeblichen Hamas-Strategie darzustellen.


Es dauerte nicht lange, bis die Geschichte aufflog. Israelische Militärquellen teilten der Nachrichtenseite Ynet mit, dass die Armee tatsächlich ein solches Dokument im Gazastreifen gefunden hatte – jedoch mehrere Monate zuvor, nicht in der Nähe von Sinwars persönlichem Computer (es wurde offenbar von einem Hamas-Beamten mittleren Ranges verfasst) und ohne jeglichen Hinweis darauf, dass es als Strategie angenommen worden wäre.


Das Schlimmste jedoch ist, dass der von Bild zitierte Satz, der den Kern der Geschichte bildet – nämlich die Behauptung, die Hamas würde die Verhandlungen absichtlich in die Länge ziehen, da sie nicht an einer Einigung interessiert sei – im Originaldokument überhaupt nicht vorkommt. Tatsächlich hat die Hamas seit Beginn des Krieges wiederholt ihre Bereitschaft signalisiert, israelische Geiseln im Austausch gegen palästinensische Gefangene und ein Ende der israelischen Angriffe auf den Gazastreifen freizulassen – eine Tatsache, die Bild zu verschleiern versucht hat.


Indem sie sich zum willigen Komplizen in Netanjahus Propagandakampagne gegen die eigene Bevölkerung machte, trug Bild dazu bei, nicht nur die Freilassung jener israelischen Geiseln, die noch von der Hamas festgehalten werden, zu gefährden, sondern auch ein Ende der anhaltenden Gräueltaten, die das israelische Militär täglich gegen die PalästinenserInnen im Gazastreifen verübt. Doch bis heute wurde die Zeitung in keiner Weise zur Rechenschaft gezogen.

 

Die Bedingungen der Debatte gestalten

Seit Jahren spielt die Bild-Zeitung in Deutschland eine zentrale Rolle bei der Formulierung eines einseitigen Narrativs von Israel und Palästina. Sie schürt antipalästinensische Stimmungen und bringt jene Stimmen zum Schweigen, die die israelische Politik kritisieren.


Im Jahr 2021 nahm die Zeitung die deutsch-palästinensische Journalistin Nemi El-Hassan ins Visier, nachdem Bilder aufgetaucht waren, auf denen sie 2014 an einer Demonstration gegen Israels Angriff auf Gaza teilgenommen hatte, was dazu führte, dass El-Hassan von ihrem Posten bei der Wissenschaftssendung des WDR gefeuert wurde, noch bevor sie ihren Job angetreten hatte. Ein Jahr später wurde der Moderator Matondo Castlo aus dem Kinderprogramm eines anderen öffentlich-rechtlichen Senders gestrichen, nachdem Bild seine Teilnahme an einem Festival im palästinensischen Ökodorf Farkha im besetzten Westjordanland „aufgedeckt“ hatte, bei dem auch gegen Siedler- und Militärgewalt demonstriert worden war.


Seit dem 7. Oktober 2023 hat Bild seine Pro-Israel-Kampagne noch deutlich ausgeweitet und bezeichnet KritikerInnen der israelischen Militäraktionen – seien es PalästinenserInnen, MigrantInnen oder Juden/Jüdinnen – regelmäßig als AntisemitInnen oder IsraelhasserInnen. Der Einfluss von Bild reicht sogar so weit, dass sie die Reaktionen auf den Gaza-Krieg vor Ort in Deutschland mitgestaltet.


Im Mai löste die Bereitschaftspolizei gewaltsam ein pro-palästinensisches StudentInnenlager an der Freien Universität Berlin auf, das gegen die bevorstehende israelische Invasion in Rafah protestierte. Als über 100 AkademikerInnen – darunter auch der Holocaustforscher Michael Wild – einen offenen Brief unterzeichneten, in dem sie zu Dialog und Gewaltlosigkeit aufriefen, konterte Bild mit einem Artikel, in dem die UnterzeichnerInnen als „Universitäter“ bezeichnet wurden, eine abgekürzte Verleumdung, die die Worte „Universität“ und „Täter“ kombiniert. Die deutsche Bildungsministerin Bettina Stark-Watzinger beeilte sich, den offenen Brief in einem Interview mit Bild zu verurteilen.


Solche Episoden unterstreichen die übergroße Macht der Zeitung: Deutsche PolitikerInnen, die sich der Reichweite von Bild in der deutschen Öffentlichkeit bewusst sind, gehen vorsichtig mit ihr um oder nutzen sie sogar, um ihre Position zu festigen und sich gegen den Verdacht abzuschirmen, der Politik Israels gegenüber zu kritisch zu sein. Im Oktober 2024, zum Jahrestag des Anschlags vom 7. Oktober, wählte Außenministerin Annalena Baerbock die Titelseite von Bild, um ihre Unterstützung für Israel zu bekräftigen, und unterstrich damit die Rolle des Blattes als Anlaufstelle für israelfreundliche Botschaften selbst für liberale Politiker.


In einem Beitrag des öffentlich-rechtlichen Deutschlandfunks über eine umstrittene Bundestagsentschließung zum Antisemitismus beklagen sich führende deutsche Politiker zunehmend über den anhaltenden Druck, dem sie ausgesetzt sind. „Die Angst, von Bild als Antisemit oder Israelhasser diffamiert zu werden, hallt durch die Politik bis in die höchsten Ränge“, erklärte der Reporter.

Die israelfreundliche Haltung von Bild ist nicht neu; sie ist sogar ein Grundpfeiler des ideologischen Rahmens des Verlegers Axel Springer, der in den Arbeitsverträgen seiner deutschen Tochtergesellschaften verankert ist. Aber im letzten Jahr ist diese Haltung noch deutlicher geworden.


Im Juni ging Bild eine formelle Allianz mit Israel Hayom ein, einer historisch gesehen pro-Netanjahu und pro-Likud orientierten Tageszeitung in Israel. Die Partnerschaft zwischen den beiden Blättern umfasst Berichten zufolge gemeinsame Artikel, Untersuchungen und Medienprojekte, die gleichzeitig in Deutschland und Israel veröffentlicht werden.


Das erste Produkt dieser Allianz war ein Artikel im Juni 2024 mit dem Titel „Die Hamas-Methode“, der von dem Israel-Hayom-Reporter Itai Ilnai und dem Politikchef von Bild, Filipp Piatov, verfasst wurde –einem der beiden Autoren des gefälschten Bild-Berichts über die angebliche Verhandlungsstrategie der Hamas. Der Artikel vom Juni beschreibt, wie die Hamas ihren Angriff auf Israel am 7. Oktober durchführte, und zieht fragwürdige Parallelen zwischen der palästinensischen Organisation und den Nazis während des Holocausts.


Der Chefredakteur von Israel Hayom, Omer Lachmanovitch, lobte die Partnerschaft Anfang des Jahres und betonte die ideologische Ausrichtung der beiden Publikationen: „Die Zusammenarbeit mit Bild basiert darauf, kompromisslos zum Staat Israel zu stehen. Die Zusammenarbeit ist zu jeder Zeit wichtig, und jetzt, wo Israel von seinen Feinden massiv angegriffen wird, doppelt wichtig.“

 

Ein tief verwurzeltes Problem

Während die Enthüllungen über den „Bibileaks“-Skandal in Israel eine große politische Krise ausgelöst haben, ist die Reaktion in Deutschland – trotz der Schlüsselrolle von Bild – eher verhalten. Erst nach der internationalen Berichterstattung über die Verhaftungen von Netanjahu-Vertrauten begannen große deutsche Zeitungen über die Geschichte zu berichten.


Bis heute wird die Bild-Zeitung in Deutschland im Zusammenhang mit der „Bibileaks“-Affäre kaum kritisch beäugt. Mitte November erhielt der stellvertretende Chefredakteur Paul Ronzheimer, der im Mittelpunkt des Skandals steht, den renommierten Werner-Holzer-Preis für Auslandsjournalismus – eine Auszeichnung, die ernste Fragen über jene Standards aufwirft, die in Deutschland für den Journalismus gelten, der angeblich an der Staatspropaganda beteiligt ist. Der Artikel, den Ronzheimer gemeinsam mit Piatov verfasst hat, bleibt online und unkorrigiert.


Die Episode wirft ernste Fragen zur journalistischen Ethik auf. Während Bild darauf besteht, dass ihre Quellen glaubwürdig sind, untergraben ihre ausweichenden Antworten auf Fragen zu dieser Affäre die Transparenz. Anfragen des Magazins +972 wurden mit einer vorsichtig formulierten Erklärung eines Bild-Sprechers beantwortet: „Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass wir unsere Quellen nicht kommentieren“, hieß es. „Die Echtheit des uns bekannten Dokuments wurde von der israelischen Armee unmittelbar nach der Veröffentlichung bestätigt.“ In dieser Antwort wurde weder die Herkunft des Dokuments noch die Behauptungen über seine zweifelhafte Natur geklärt.


Die Enthüllungen über Bild und Netanjahu machen deutlich, dass der deutsche Journalismus in Bezug auf Israel-Palästina umdenken muss. Schließlich handelt es sich hier nicht nur um eine Geschichte über undichte Stellen und Fälschungen, sondern auch um eine deutliche Erinnerung an die immense Macht und den Einfluss, den die etablierten Medien ausüben, und an die Gefahren, die entstehen, wenn diese Macht nicht hinterfragt wird, während sie unkontrolliert fortbesteht.


Die deutsche Medienlandschaft trägt eine große Verantwortung dafür, dass der Krieg in Gaza in den letzten 15 Monaten immer wieder verzerrt dargestellt wurde. Dominiert von Blättern wie Bild, hat es diese Landschaft seit Jahren versäumt, eine genaue und ausgewogene Berichterstattung über Israel-Palästina zu liefern – ein Versagen, das nach dem Hamas-Angriff am 7. Oktober und der anschließenden israelischen Militäraktion in Gaza eklatant zutage trat.


Mehrere Berichte über den 7. Oktober - darunter mittlerweile widerlegte Behauptungen wie die Enthauptung von 40 Babys – wurden in den deutschen Medien nicht korrigiert. Solche Erzählungen wurden nicht nur von konservativen und liberalen Medien verbreitet, sondern auch von vermeintlich linken Publikationen wie der Tageszeitung (allgemein bekannt als „taz“), die 1980 von Veteranen der westdeutschen StudentInnenbewegung als Gegenpol zur rechten Springer-Presse gegründet wurde.

Das Unterdrücken von Kritik am Krieg, das bewusste Weglassen historischer Zusammenhänge, die passive Darstellung palästinensischer Todesopfer und gezielter Tötungen im Gazastreifen sowie eine fast blinde Leichtgläubigkeit gegenüber israelischen und staatlichen Darstellungen – insbesondere in den öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten Deutschlands – haben in der deutschen Öffentlichkeit eine gefährlich vereinfachte und einseitige Sichtweise der israelischen Militärkampagne gefördert.


Viele große Medien in Deutschland stützen sich nach wie vor auf Behauptungen, die vom israelischen Militär „bestätigt“ wurden, und fabrizieren so praktisch eine Zustimmung zu Kriegsverbrechen. Während die Skepsis gegenüber den Axel-Springer-Medien als Quellen zu diesem Thema in der gebildeten Öffentlichkeit wächst, bleibt Bild eine dominierende Kraft bei der Meinungsbildung zu diesem Thema.


Die Folgen des Handelns von Bild reichen also über die eigene Redaktion hinaus. Als Europas größte Zeitung unter dem mächtigsten Verlagshaus schafft Bild einen beunruhigenden Präzedenzfall dafür, wie Nachrichtenagenturen mit der Berichterstattung über Palästina und Israel umgehen. Sie sorgt für ein verzerrtes Verständnis der politischen Realitäten vor Ort und bringt die Debatte über Israels dokumentierte Kriegsverbrechen in Gaza und im Westjordanland zum Schweigen.


Wenn überhaupt, dann sollte dieser Skandal ein Weckruf sein. Da JournalistInnen im Gazastreifen weiterhin vom israelischen Militär angegriffen und getötet werden und internationalen JournalistInnen die Einreise in den Gazastreifen verwehrt bleibt, könnte der Preis für die Mitschuld der Medien nicht höher sein.

 

Hanno Hauenstein ist unabhängiger Journalist und Autor mit Sitz in Berlin. Seine Arbeiten sind unter anderem in The Guardian, The Intercept und der Berliner Zeitung erschienen.




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