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„Es wird die Menschen zerstören": PalästinenserInnen verzweifeln an der drohenden Schließung der UNRWA

Niemand weiß, was passieren wird, wenn Israels Verbot der UN-Organisation, die lebenswichtige Dienstleistungen im Gazastreifen, in Ostjerusalem und im Westjordanland bereitstellt, am 1. Februar in Kraft tritt.


Von Ruth Michaelson, Sufian Taha and Quique Kierszenbaum; The Guardian, 29. Jänner 2025

(Originalbeitrag in englischer Sprache)

 


Fatmeh Jahaleen drückt ihr Gesicht an die blauen Gitterstäbe des Apothekenfensters und bittet um ein paar zusätzliche Schachteln mit Medikamenten. Sie ist auf die Apotheke in einer Ostjerusalemer Klinik angewiesen, die von der UN-Organisation für palästinensische Flüchtlinge, UNRWA, betrieben wird, um monatlich Blutdruck- und Nierenmedikamente sowie Insulin zu erhalten.


„Woher soll ich dann meine Medikamente bekommen? Das würde mich 400 NIS [israelische Schekel, umgerechnet 108 Euro] im Monat kosten. Das können wir uns nicht leisten, wir sind Flüchtlinge“, sagt sie. Dann sind da noch die Bluttests, die sie alle drei Monate braucht und die sie weitere 150 Schekel [40 Euro] kosten würden, oder ihre regelmäßige Behandlung in einer Augenklinik, die von der UNRWA übernommen wird und die sich sonst als sehr kostspielig erweisen würde.


Im Gazastreifen, in Ostjerusalem und im Westjordanland droht UNRWA eine Katastrophe, denn das israelische Parlament hat ein Verbot verhängt, das Ende dieses Monats in Kraft treten soll.

„Sind Sie sicher, dass UNRWA schließen wird?“ fragt Jahaleen und schlägt sich verzweifelt die Hände auf die Oberschenkel. „Ich weiß wirklich nicht, was ich tun soll – nur Gott kann uns helfen, wenn sie diese Klinik schließen.“


Als das israelische Parlament im Oktober letzten Jahres den Gesetzentwurf zum Verbot der UNRWA verabschiedete, traf Fathi Saleh, der Leiter der Dienste für das Flüchtlingslager Shuafat am Rande Jerusalems, in seinem Büro auf Hunderte von verängstigten Menschen, die wissen wollten, was passieren würde, wenn die Organisation gezwungen wäre zu schließen.

„Wenn wir unsere Dienste einstellen, ist das so, als würde man den Menschen hier den Sauerstoff abschneiden“, sagte er. „Das wird die Menschen am Boden zerstören.“


Saleh ist ein Kind des Lagers. Sein Büro befindet sich auf dem Gelände einer städtischen Kinderkantine, wo er dieselben Schulen, medizinischen Dienste und Sanitäter beaufsichtigt, die er selbst sein ganzes Leben lang genutzt hat. Dennoch bleibt es ein Rätsel, was am 1. Februar passieren wird, wenn er in seinem Büro im Flüchtlingslager ankommt.


Das Verbot könnte bedeuten, dass er kein Freizeichen erhält, wenn er den Festnetzanschluss wählt, dass ein rotes Wachssiegel an der Tür den Zugang zu seinem Büro versperrt oder, schlimmer noch, dass israelische Sicherheitskräfte anwesend sind, die regelmäßig Razzien im Lager durchführen. Die UNRWA-MitarbeiterInnen wissen nur, dass nicht sie selbst über ihr Schicksal entscheiden werden.


„Alles ist möglich“, sagt er. Wenn Menschen mit Fragen in sein Büro kommen, versichert er ihnen, dass UNRWA den schätzungsweise 30.000 registrierten und nicht registrierten Flüchtlingen, die in Shuafat leben, weiterhin dieselbe Gesundheitsversorgung, Schulbildung und Müllabfuhr bieten wird, „bis wir dazu nicht mehr in der Lage sind“.


Das Flüchtlingslager Shuafat beherbergt Zehntausende von Menschen, die in einer 2 Quadratkilometer großen Ansammlung dicht gedrängter Wohnblöcke zusammengepfercht sind, zwischen denen ein Netz von Stromkabeln gespannt ist, und die alle von hohen Betonbarrieren, einem Wachturm und einem Checkpoint eingegrenzt sind. Die Aussicht, dass die Lastwagen der UNRWA daran gehindert werden könnten, den Müll abzutransportieren, der sich täglich auf den Müllcontainern in den Straßen des Lagers stapelt, macht Saleh Angst.


„In diesem Lager fallen täglich 20 bis 25 Tonnen Müll an. Stellen Sie sich die Katastrophe vor, die eintreten wird, wenn wir diesen Müll nicht beseitigen können, allein in diesem Lager. Innerhalb weniger Tage wären das 100 Tonnen Müll, die hier auf den Straßen liegen würden. Was wird dann passieren?“, fragt er.


Die Anschläge vom 7. Oktober 2023, bei denen militante Hamas-Kämpfer aus dem belagerten Gazastreifen ausbrachen, 1 139 Menschen töteten und 250 weitere als Geiseln nahmen, veränderten Israels Beziehung zu UNRWA über Nacht. Israelische PolitikerInnen hatten sich lange über die Organisation beschwert, die 1949 gegründet wurde, um palästinensischen Flüchtlingen zu helfen, indem sie eine Reihe von Dienstleistungen wie z. B. Bildung anbietet, was sie unter den UN-Organisationen einzigartig macht. Doch in den Monaten nach dem 7. Oktober 2023 beschuldigten die Israelis die UNRWA-Mitarbeiter, Verbindungen zur Hamas zu haben und am Anschlag beteiligt gewesen zu sein.


Eine von der offiziellen Aufsichtsbehörde der Vereinten Nationen durchgeführte Untersuchung von 19 UNRWA-Mitarbeitern führte im August zur Entlassung von neun Mitarbeitern, die „möglicherweise an den bewaffneten Angriffen vom 7. Oktober 2023 beteiligt waren“, so Farhan Haq, stellvertretender Sprecher des UN-Generalsekretärs. Die UNRWA hat mehr als 30.000 Mitarbeiter.


Die Bemühungen der UNO wurden von Israel als unzureichend angesehen, und die UNRWA-Büros in Ostjerusalem bei Protesten in Brand gesteckt. Das Verbot der UNRWA wurde von Israels immer härterer Rechten als Erfolg gewertet, da es die Kommunikation zwischen israelischen Institutionen und der nun als Terrororganisation eingestuften UN-Organisation vollständig unterbindet.


Anfang dieser Woche ordnete die israelische Regierung an, dass die UNRWA ihre Büros bis zum 30. Januar räumen muss. Der stellvertretende Bürgermeister Jerusalems, Aryeh King, rief für diesen Tag zu Protesten vor dem Gebäude auf und fügte hinzu: „Der Countdown läuft, noch drei Tage, bis die UNRWA aus Jerusalem vertrieben wird“.


Der Generalkommissar der UNRWA, Philippe Lazzarini, teilte dem UN-Sicherheitsrat Anfang dieser Woche mit, dass die Schließung allein in Ostjerusalem 70 000 PatientInnen und mehr als 1 000 SchülerInnen betreffen würde.


Das Lager Shuafat ist das einzige von der UNRWA betriebene Lager, das offiziell auf israelischem Gebiet liegt. Sollte die UN-Organisation also gezwungen werden, das Lager zu schließen, würde die Stadt Jerusalem unter Druck geraten, einige ihrer Aufgaben zu übernehmen. Saleh sagt, die Stadtverwaltung habe ihn nicht über mögliche Übergabepläne informiert.


Suad Shwefi, 67, die gerade beim Einkaufen von Gemüse auf der Straße in Shuafat unterwegs ist, erzählt, ihre Familie habe „keinerlei Informationen darüber, was mit der Ausbildung ihrer 13 Enkelkinder geschehen wird“ – sie sind alle zur Hälfte des Schuljahres in UNRWA-Schulen, die nur einen kurzen Fußweg entfernt sind. Udi Shaham Maymon, ein Sprecher der Jerusalemer Stadtverwaltung, sagt, man arbeite daran, Alternativen zu schaffen. Er betont, dass die BewohnerInnen Ostjerusalems, die sich seit langem darüber beschweren, dass die Stadtverwaltung ihre Bedürfnisse vernachlässigt, sich dazu bereit erklären müssen. Es gebe Notfallpläne, um 650 SchülerInnen in anderen Schulen in Jerusalem unterzubringen, „falls UNRWA geschlossen wird“, sagt er und meint, dass es kein Problem wäre, die Müllabfuhr auf das Lager auszuweiten. Die Stadtverwaltung könne auch den Zugang zu einigen Familienbetreuungszentren anbieten, fügt er hinzu.


Anderswo ist die Gefahr eines Chaos jedoch groß, vor allem im Westjordanland, wo mehr als 45 000 SchülerInnen UNRWA-Schulen besuchen, Hunderttausende in die 43 UNRWA-Zentren für die medizinische Grundversorgung strömen und die UN-Organisation in 19 palästinensischen Flüchtlingslagern grundlegende Dienstleistungen wie beispielsweise Müllabfuhr anbietet. Diese Lager werden nicht von der regierenden und verarmten Palästinensischen Autonomiebehörde verwaltet, was bedeutet, dass sie völlig ohne Dienstleistungen dastehen könnten.


Auch im Gazastreifen ist die UNRWA seit langem die größte Hilfsorganisation, die die Verteilung von Hilfsgütern an mehr als zwei Millionen Menschen koordiniert und für ihre Arbeit in dem belagerten Gebiet ein gewisses Maß an israelischer Kooperation benötigt.


KrankenpflegerInnen und ein Verwalter der UNRWA-Klinik in Shuafat berichteten, dass die israelischen Streitkräfte an den Checkpoints, die ihren Arbeitsweg von Ramallah säumen, ihre Feindseligkeit schnell deutlich machten. SoldatInnen, die früher ihre mit dem UNRWA-Logo gekennzeichneten Autos durch den Kontrollpunkt winkten, ohne auch nur einen Blick auf die von den Vereinten Nationen ausgestellten Ausweise zu werfen, nehmen sie jetzt für zusätzliche Kontrollen und Schikanen aus der Schlange heraus.


„Früher haben wir unsere UNRWA-Ausweise an den Kontrollpunkten stolz gezeigt, weil sie respektiert wurden. Jetzt verstecken wir sie“, sagt der Klinik-Verwalter Adel Karim. „Wenn wir den SoldatInnen dort unsere UNRWA-Ausweise zeigen, sagen sie uns, dass sie sie nicht anerkennen und wir ihnen unsere palästinensischen Ausweise zeigen müssen.“


Ein Krankenpfleger, Abu Omar, berichtet: „Am 1. Februar werden wir zur Arbeit kommen; es gibt keine andere Möglichkeit. Solange die Tür zur Klinik offen ist, werden wir kommen und unsere Arbeit verrichten. Wenn sie kommen, um uns aus der Klinik zu werfen, werden wir nicht freiwillig gehen.“ Er lächelt hilflos und lehnt sich an den Schreibtisch zurück, fassungslos von der überwältigenden Situation. „Die meisten von uns arbeiten hier seit zehn oder sogar 15 Jahren – wo sollen wir denn hin?“


Saleh sagt, er empfinde das Verbot als einen Angriff, der über die alltäglichen Dienstleistungen der UNRWA hinausgehe. „Wenn dieses Verbot in Kraft tritt, ist das ein trauriger Tag für die UN-Charta“, sagte er. „Es ist ein Angriff auf die Vereinten Nationen.“




 

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