Am 16. September 2024 veröffentlichte das Gesundheitsministerium in Gaza ein 649-seitiges Dokument mit den persönlichen Daten von 34.344 Palästinenserinnen und Palästinensern, die in den letzten 11 Monaten durch die israelischen Angriffe auf die Enklave getötet worden sind. Diese scheinbar endlose Liste ist unvollständig: Nach Angaben des Gesundheitsministeriums sind seit dem 7. Oktober mehr als 41.000 Palästinenser ums Leben gekommen, doch sind viele von ihnen noch nicht vollständig identifiziert.
Mehr als 11 300 der identifizierten Opfer auf der Liste sind Kinder, 710 von ihnen wurden getötet, noch ehe sie ein Jahr alt wurden.
Seit Beginn der israelischen Angriffe haben internationale Organisationen und Menschenrechtsgruppen wiederholt auf die hohe Zahl der Todesopfer unter den palästinensischen Kindern hingewiesen, schon Wochen nach Beginn der israelischen Bombardierungen warnte James Elder, Sprecher des UN-Kinderhilfswerks UNICEF, dass der Gazastreifen zu einem „Kinderfriedhof“ geworden sei.
Am 19. September 2024 veröffentlichte das UN-Komitee für die Rechte des Kindes (CRC) einen Bericht, in dem Israel schwere Verstöße gegen ein weltweites Abkommen zum Schutz der Rechte von Kindern vorgeworfen werden. Die israelischen Militäraktionen in Gaza haben laut CRC katastrophale Auswirkungen auf Kinder und gehören zu den schlimmsten Verstößen in der jüngeren Geschichte.
Das CRC-Komitee, das die Einhaltung des UN-Übereinkommens über die Rechte des Kindes von 1989 durch die Vertragsstaaten überwacht, hat nach einer Überprüfung während seiner letzten Sitzung seine Ergebnisse zu sechs Vertragsstaaten, darunter Israel, veröffentlicht (siehe Link). In seinem Bericht erklärte das Komitee, es sei „sehr besorgt über die hohe Zahl von Kindern im Gazastreifen, die getötet, verstümmelt, verletzt, vermisst, vertrieben, verwaist und dem Hunger, der Unterernährung und Krankheiten ausgesetzt sind“, als Folge der „wahllosen und unverhältnismäßigen Angriffe“ Israels.
„Der entsetzliche Tod von Kindern ist fast einmalig in der Geschichte. Dies ist ein extrem dunkler Moment in der Geschichte“, so Bragi Gudbrandsson, der stellvertretende Vorsitzende des Komitees, vor Reportern. „Ich glaube nicht, dass wir jemals zuvor eine so massive Verletzung gesehen haben, wie wir sie jetzt in Gaza erleben.“
Während der UN-Anhörungen, die dem Bericht vorausgingen, bestritt Israel, dass sein Krieg gegen Gaza gegen das UN-Übereinkommen oder das humanitäre Völkerrecht verstößt.
Eine neue UNRWA-Studie, die am 23. September 2024 in der Zeitschrift The Lancet Global Health veröffentlicht wurde, zeigt, dass Familien in Gaza schon vor dem Krieg Schwierigkeiten hatten, ihre Kinder zu ernähren.
Mehr als 50 Prozent der Kinder, die vor dem Krieg in die erste Klasse kamen, ließen jeden Tag eine Mahlzeit aus.
84 Prozent der Familien im Gazastreifen waren bereits vor dem Krieg auf Nahrungsmittelhilfe angewiesen.
3 von 4 Eltern waren besorgt, dass ihre Familien nicht genug zu essen haben.
40 Prozent der Kinder in den am stärksten von Ernährungsunsicherheit betroffenen Haushalten hatten schon vor dem Krieg einen Mangel an nahrhaften Lebensmitteln in ihrem Speiseplan. Die meisten Kinder nahmen zu wenig nahrhafte Lebensmittel wie Fleisch, Milch, Eier, Gemüse und Obst zu sich. Darüber hinaus litt fast eines von drei Kindern an Anämie, was auf einen Mangel an eisen- und nährstoffreichen Lebensmitteln zurückzuführen ist.
„Die Kinder des Gazastreifens waren ernährungstechnisch nicht einmal in den ersten Monaten der Lebensmittelknappheit darauf vorbereitet, diese zu überstehen. Seitdem haben wir einen alarmierenden Anstieg von Unterernährung, Krankheit und Tod erlebt“, so Dr. Akihiro Seita, Direktor der Gesundheitsabteilung der UNRWA und Hauptautor der Studie.
Laut einem Bericht von Save the Children vom 17. September 2024 haben neue Daten das tatsächliche Ausmaß der Behinderung von Hilfslieferungen und den daraus resultierenden drastischen Rückgang der Hilfslieferungen nach Gaza offenbart. Demnach erreichen 83 Prozent der benötigten Nahrungsmittelhilfe Gaza nicht. Dies bedeutet, dass die Menschen im Gazastreifen nur noch jeden zweiten Tag eine Mahlzeit erhalten. Schätzungsweise 50.000 Kinder im Alter von 6-59 Monaten benötigen bis Ende des Jahres dringend eine Behandlung gegen Unterernährung. Dies führt zu einer humanitären Katastrophe, in der die gesamte Bevölkerung des Gazastreifens von Hunger und Krankheiten und fast eine halbe Million Menschen vom Hungertod bedroht ist.
Save the Children: Wie wird Kindern in Gaza lebensrettende Hilfe verweigert?
(Originalbericht in englischer Sprache und mit dazugehörenden Graphiken und Bildmaterial)
Was bedeutet humanitärer Zugang?
Der Zugang zu humanitärer Hilfe bedeutet, dass Kinder und Familien die benötigte Hilfe und lebensnotwendigen Güter und Dienstleistungen erhalten können, wo immer sie sich befinden. Dies gilt in zweierlei Hinsicht: Die humanitären Helfer müssen in der Lage sein, Hilfe zu leisten, und die Familien müssen sie erhalten können - sicher und schnell, ohne Hindernisse. Humanitäre Hilfe ist im Völkerrecht verankert. Die Verweigerung von Hilfslieferungen ist ein schwerwiegendes Verbrechen und ein schwerer Verstoß gegen die Rechte von Kindern.
Kommt die Hilfe bei den Kindern in Gaza an?
Die 17 Jahre andauernde Land-, Luft- und Seeblockade des Gazastreifens hatte zur Folge, dass Familien schon vor dem Krieg nur schwer Zugang zu den lebensnotwendigen Gütern hatten und die Lieferung von Hilfsgütern stark eingeschränkt war. Vor Oktober 2023 waren bereits 80 % der Bevölkerung auf Hilfe angewiesen. Die israelischen Behörden hatten die volle Kontrolle über alle Lieferungen und Personen, die in den Gazastreifen ein- und ausreisten. Sie hatten auch die Kontrolle über die Versorgung mit wichtigen Dienstleistungen wie Wasser und Strom. Die humanitären Organisationen mussten sich mit den Behörden abstimmen, um die Hilfsgüter ins Land zu bringen, was ein langwieriger, komplexer und unvorhersehbarer Prozess war.
Seit Ausbruch des Krieges im Oktober ist der Bedarf sprunghaft angestiegen - 100 % der Bevölkerung sind jetzt auf Hilfe angewiesen, um zu überleben. Die israelischen Behörden haben nach wie vor die volle Kontrolle über den Transport von Hilfsgütern und Waren sowie über die Bereitstellung wichtiger Dienstleistungen. Doch trotz des steigenden Bedarfs ist dieser drastisch gesunken.
Ein Blick auf die Zahl der Lastwagen mit Hilfsgütern und Grundbedarfsartikeln, die jeden Monat in den Gazastreifen einfahren dürfen, zeigt, dass der Fluss lebensrettender Güter zu einem Zeitpunkt unterbunden wird, an dem die Familien sie am dringendsten benötigen würden.
Die reine Anzahl der wenigen Lastwagen, die in den Gazastreifen gelangen, gibt jedoch kein vollständiges Bild ab. Der Schwerpunkt muss vielmehr darauf liegen, ob die Hilfe tatsächlich bei den Kindern ankommt und ihre dringendsten Bedürfnisse gestillt werden können. Es wird klar, dass nicht nur nicht genug Hilfe ankommt, sondern dass es für die Familien immer unmöglicher wird, diese auch sicher zu erreichen.
Neun Gründe, warum die Hilfe seit Ausbruch des Krieges im Oktober 2023 unterbrochen wurde
1. Grenzübergänge bleiben geschlossen oder funktionieren nur teilweise:
Seit Oktober wurden verschiedene Grenzübergänge geöffnet und wieder geschlossen, aber der Umfang und die Geschwindigkeit der Hilfslieferungen bleiben weit hinter dem humanitären Bedarf zurück.
2. Lebensrettenden Gütern wird die Einreise verweigert, selbst wenn die Grenzen geöffnet sind:
Dazu gehören Stromgeneratoren, Sonnenkollektoren, Wasserreinigungsanlagen und medizinische Geräte.
3. DemonstrantInnen haben die Einreise von Hilfsgütern nach Gaza blockiert:
Lastwagen mit Hilfsgütern und Fahrer wurden von israelischen Demonstranten an den Grenzübergängen zum Gazastreifen und im Westjordanland behindert und angegriffen. Manchmal dauerten diese Proteste mehrere Tage an.
4. Zusammenbruch der öffentlichen Ordnung und Sicherheit in Gaza:
Die aktiven Kämpfe haben die öffentliche Ordnung im Gazastreifen beeinträchtigt und zu Unsicherheit und gefährlichen Bedingungen geführt. Dies stellt die humanitären Organisationen vor zusätzliche Herausforderungen bei der Sammlung der Hilfsgüter, die in den Gazastreifen gelangen.
5. Bomben, nicht explodierte Munition und beschädigte Straßen sind tödliche und unpassierbare Hindernisse:
Die Überreste der Bombardierung des Gazastreifens machen es nahezu unmöglich, einige der am meisten gefährdeten Menschen mit der dringend benötigten Hilfe zu erreichen.
6. Stromausfälle und Treibstoffknappheit:
Dies führt zu täglichen Unterbrechungen bei der Koordinierung und Bereitstellung von Hilfsgütern und wichtigen Diensten wie Krankenhäusern.
7. Hunderte von HelferInnen wurden getötet und Einrichtungen angegriffen:
Hilfskonvois, Büros und Lagerhäuser wurden immer wieder angegriffen, obwohl die israelischen Behörden über deren Standorte und Bewegungen informiert waren.
8. Mehrfache Umsiedlungsbefehle führen dazu, dass die Menschen nirgendwo mehr in Sicherheit sind:
Diese Anordnungen haben nicht nur wiederholt Familien entwurzelt, sondern auch Mitarbeiter humanitärer Organisationen und Einrichtungen. Die NRO sind gezwungen, ihre Tätigkeit aufzugeben, um immer wieder umzusiedeln, während die Familien in unsichere Gebiete gezwungen werden und von der Hilfe abgeschnitten sind.
9. Schulen und Krankenhäuser werden immer wieder angegriffen:
Nahezu jedes einzelne Schulgebäude - von denen viele auch von humanitären Organisationen als Unterkünfte genutzt werden - wurde beschädigt oder zerstört. Auch die Zahl der Angriffe auf Gesundheitseinrichtungen ist in Gaza höher als in jedem anderen Konflikt seit 2018. Schulen und Krankenhäuser dürfen niemals als Kampfgebiet genutzt werden.
Was bedeutet das für die Kinder in Gaza?
Kinder sterben ohne Hilfe und lebensrettende Güter. Die Blockierung von Hilfsgütern bedeutet, dass palästinensischen Kindern das absolut Notwendigste zum Überleben vorenthalten wird - Nahrung, Wasser, Medizin, Unterkunft. Jedes Kind im Gazastreifen ist in diesem Moment vom Tod durch Unterernährung und Krankheiten bedroht.
Es bedeutet auch, dass Kindern die Unterstützung verweigert wird, die sie brauchen, um langfristige körperliche und geistige Schäden zu vermeiden.
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