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„Schlimmer als die zweite Intifada": Flüchtlinge im Westjordanland verzweifeln angesichts der israelischen Offensive

Die aus Jenin und Tulkarem vertriebenen palästinensischen BewohnerInnen berichten, dass Israel gezielt Operationen durchführt, um die nördlichen Flüchtlingslager unbewohnbar zu machen.

Von Hanno Hauenstein, 972Mag, 21. Februar 2025

(Originalbeitrag in englischer Sprache)

 

Sameera Abu Rmeleh klettert über Berge von Schutt und Trümmern, um das zu erreichen, was von ihrem Haus im Flüchtlingslager Jenin übrig geblieben ist. Es ist ein kalter, regnerischer Tag im nördlichen Westjordanland, und das Lager ist fast nicht wiederzuerkennen. Zertrümmerter Beton, ausgebrannte Autos, Patronenhülsen und die leblosen Körper streunender Hunde säumen die Straßen, so weit das Auge reicht. Etwa 100 Meter entfernt fahren israelische Bulldozer und gepanzerte Fahrzeuge zielstrebig umher.

„Was jetzt geschieht, ist viel schlimmer als die zweite Intifada“, sagt Abu Rmeleh. „Es ist genau wie in Gaza – keines der Häuser im Lager ist mehr bewohnbar. Aber wir werden nirgendwo hingehen. Wir sind bereit, notfalls in Zelten zu leben. Das haben wir schon einmal gemacht.“

Abu Rmeleh ist eine von 20.000 PalästinenserInnen, die in den letzten Wochen aufgrund einer laufenden israelischen Militäroperation in der Region aus ihren Häusern im Lager Jenin vertrieben wurden. Mit dem Wenigen, was sie tragen konnten, flohen die Familien in den ersten Tagen der Invasion zu Fuß über eine unbefestigte Straße, die von israelischen Bulldozern aufgerissen worden war, während Soldaten den Verkehr in und aus dem Lager blockierten.

Seitdem wurden Straßen im gesamten Lager zerstört, darunter auch wichtige Zugangswege zum staatlichen Krankenhaus von Jenin. Die israelischen Streitkräfte haben auch die Wasser-, Abwasser- und Telekommunikationsinfrastruktur zerstört und sogar einen ganzen Wohnblock durch kontrollierte Sprengungen dem Erdboden gleichgemacht.

In der fünften Woche ihrer Durchführung hat sich die „Operation Eiserne Mauer“ auf drei weitere Flüchtlingslager im nördlichen Westjordanland ausgeweitet und weitere 20 000 Menschen aus den Lagern Tulkarem, Nur Shams und Al-Far'a vertrieben. Das israelische Militär behauptet, bewaffnete Widerstandsgruppen in diesen Gebieten ins Visier zu nehmen, hat aber nur spärliche Beweise für seine diesbezüglichen Aussagen vorgelegt. Und während die Soldaten am Boden die zivile Infrastruktur zerstören, werfen Kampfjets und Drohnen Raketen aus dem Himmel ab.

Wie viele andere Vertriebene aus dem Lager Jenin wohnt auch Abu Rmelehs Familie nun bei Freunden und Verwandten in der benachbarten Stadt. Aber auch außerhalb des Lagers ist Sicherheit ein fragiles Konzept. Die BewohnerInnen fürchten israelische Vergeltungsmaßnahmen, weil sie die durch den Angriff Vertriebenen beherbergen. Israelische Scharfschützen sind auf den Dächern im und um das Lager positioniert und überblicken die Ruinen. Jüngste Berichte deuten darauf hin, dass die Armee den Truppen im Westjordanland einen großzügigen Spielraum eingeräumt hat, um auf alles und jeden zu schießen, der als „verdächtig“ gilt.

Abu Rmeleh ist sich dieser Risiken bewusst, zuckt aber mit den Schultern, als ich sie frage, ob sie befürchtet, erschossen zu werden, wenn sie ins Lager zurückkehrt, um einige ihrer Habseligkeiten zu holen. „Das ist mir egal“, sagt sie. „Ich bin schon tot.“

In der Nähe scheint ein Jugendlicher namens Adham ebenso unbeeindruckt zu sein. Während des aktuellen Angriffs auf das Lager haben die israelischen Streitkräfte das Haus seiner Familie zerstört und seinen 17-jährigen Freund Mohammed getötet. Er steht vor den Trümmern eines Hauses und schüttelt eine Sprühdose, mit der er frische Graffiti auf den Trümmern hinterlässt. Um ihn herum haben israelische Soldaten bereits einige der zerstörten Gebäude mit dem nationalistischen hebräischen Slogan „Am Yisrael Chai“ beschriftet – ein Echo ähnlicher Szenen in Gaza.

Als mein Fotograf und ich auf der leeren Straße innerhalb des Lagers stehen, überreicht uns Adham ein Flugblatt, das das israelische Militär hier verteilt hat. Es ist auf Arabisch gedruckt und lautet: „Der Terrorismus hat das Lager zerstört. Lehnt die Militanten ab. Sie sind der Grund für die Zerstörung. Ihr seid diejenigen, die den Preis für eure Sicherheit und ein besseres Leben zahlen.“

Für viele in Jenin ist diese Botschaft weder neu noch überzeugend. Die meisten BewohnerInnen des Lagers sind Nachkommen von Familien, die während der Nakba 1948 von zionistischen Milizen und israelischen Streitkräften aus der Region Haifa vertrieben wurden. Im Laufe der Jahrzehnte hat sich Jenin zu einem Epizentrum der palästinensischen Militanz und des Widerstands entwickelt, dessen Straßen durch wiederholte israelische Invasionen und Belagerungen verwüstet wurden – vor allem während der Zweiten Intifada Anfang der 2000er Jahre, als israelische Bombardierungen und Zusammenstöße mit Widerstandskämpfern das Lager verwüsteten.

Nach einer sechswöchigen Kampagne der Sicherheitskräfte der Palästinensischen Autonomiebehörde, um gegen bewaffnete Gruppen vorzugehen und die Kontrolle über das Lager wiederzuerlangen, hat der israelische Verteidigungsminister diese jüngste israelische Operation als Anwendung der „Lehren“ aus dem Gazastreifen bezeichnet. Berichten zufolge erwägt Israel nun, seine Präsenz in dem Lager dauerhaft zu machen.

 

„Was hier passiert, ist eine kleinere Version von Gaza“

Am Rande des Lagers ist der Eingang zum Bezirkskrankenhaus Jenin durch ein Wandgemälde von Shireen Abu Akleh gekennzeichnet, jener Al Jazeera-Journalistin, die 2022 von israelischen Streitkräften erschossen wurde, als sie über einen früheren Militäreinsatz im Lager berichtete. Im Inneren des Krankenhauses beschreibt Dr. Mustafa Hamarsheh, der medizinische Leiter, eine zunehmend unmögliche Situation.

„Viele unserer 500 MitarbeiterInnen können das Krankenhaus nicht einmal erreichen“, erklärt er: Wenn sie nicht in einem Krankenwagen ankommen, werden sie häufig von israelischen Truppen an Kontrollpunkten angehalten, durchsucht und oft zurückgewiesen. In den ersten Tagen des Einmarsches wurden mehrere medizinische MitarbeiterInnen verwundet, als Soldaten das Krankenhaus umstellten und belagerten. Inzwischen hat sich das Militär aus dem Gebäude zurückgezogen, aber die Angst bleibt bestehen.

„Die meisten PatientInnen haben einfach zu viel Angst, um zu uns zu kommen“, sagt Dr. Hamarsheh. „Unsere Kapazität ist heute um 50 Prozent gesunken.“

Seit Anfang 2025 haben die israelischen Streitkräfte nach Angaben des palästinensischen Gesundheitsministeriums mindestens 70 PalästinenserInnen im Westjordanland getötet, darunter zehn Kinder. Allein in Jenin wurden 38 Menschen getötet, darunter ein 70-jähriger Freund von Dr. Hamarsheh, der nach dem Einmarsch aus dem Lager geflohen war, dann aber zurückkehrte, um nach seinem Haus zu sehen.

„Sein Alter war unverkennbar; er war ganz eindeutig kein Kämpfer“, so Dr. Hamarsheh. „Doch als er sein Haus erreichte, töteten ihn die israelischen Streitkräfte. Er hatte eine Schusswunde im Unterleib und blieb eine Stunde lang dort liegen [und verblutete]. Kein Krankenwagen konnte ihn erreichen; sie kamen einfach nicht durch.“

Die Blockierung von Krankenwagen ist Routine, erklärt Dr. Hamarsheh. Die Sanitäter werden gezwungen, an israelischen Kontrollpunkten zu warten, so dass die PatientInnen verbluten, bevor sie abtransportiert werden können. Die Zerstörung von Straßen und Infrastruktur verschlimmert die Krise nur noch.

„Was hier passiert, ist einfach eine kleinere Version von Gaza“, sagt er. „Eine absichtliche Vernichtungsaktion, um zu zerstören, das Leben unmöglich zu machen und eine Botschaft an alle im Lager und in der Stadt zu senden: Verschwindet. Verschwindet aus dem Westjordanland. Geht woanders hin.“

Nachdem wir uns einen Weg durch die Straßen rund um das Krankenhaus von Jenin gebahnt haben, beschließen mein Fotograf und ich, den westlichen Teil des Lagers zu betreten – das so genannte „neue Lager“. Auch hier fahren israelische Militärjeeps mit aufheulenden Motoren durch die Straßen. Als wir uns nähern, warnen uns AnwohnerInnen vor einem Scharfschützen in diesem Gebiet.

Am Eingang des Lagers entdeckt der Besitzer eines kleinen Minimarktes – der aus dem Lager vertrieben wurde und nun seinen Laden am Rande des Lagers betreibt – unsere Pressewesten und winkt uns in die Wohnung hinter dem Laden. Sie gehört seiner Mutter, die in der Nähe sitzt.

Ihre Stimme bricht, als sie erzählt, was ihrer Tochter an einem der ersten Tage des Einmarsches passiert ist: Sie war aus einer Seitenstraße in der Nähe des Ladens herausgetreten und geradewegs in die Arme israelischer Soldaten gelaufen, die eine Kugel abfeuerten, die ihr den Arm zerfetzte. Chirurgen flickten ihn mit Platinplatten zusammen, aber sie wird ihre Hand nie wieder bewegen können, erzählt die ältere Frau, während sie durch Fotos des zerfetzten Arms des Mädchens blättert.

Plötzlich hören wir Schüsse. Fünf, vielleicht sechs Schüsse ertönen direkt vor dem Laden. Wir springen auf. Die Familie rennt in den hinteren Teil der Wohnung, und wir folgen ihr. Das Geräusch – laut und durchdringend – deutet darauf hin, dass die Schüsse aus wenigen Metern Entfernung kamen.

Einem Austausch in einer lokalen WhatsApp-Gruppe zufolge schossen die israelischen Streitkräfte auf Menschen, die versuchten, zurück ins Lager zu gelangen, um ihre Habseligkeiten zu holen. Kurze Zeit später versucht eine andere Person auf einem Fahrrad, das Lager zu betreten, und wird von einem weiteren Schuss anvisiert, der ihn verfehlt.

Etwa drei Stunden lang bleiben wir in der Wohnung hinter dem Minimarkt und suchen Schutz bei der palästinensischen Familie. Draußen bleiben die Straßen ruhig, aber die Spannung ist spürbar. Nach einiger Koordination begleiten uns die Mitarbeiter des Roten Halbmonds schließlich aus dem Lager.

 

„Wir sind auf uns allein gestellt“

Ende Januar hatte sich die israelische Militäroperation weit über Jenin hinaus ausgedehnt. Am 29. Januar traf ein israelischer Luftangriff ein belebtes Viertel im Dorf Tammun in der Nähe des Lagers Al-Far'a und tötete mindestens zehn Palästinenser. Kurz darauf führten die israelischen Streitkräfte einen Einmarsch in Qalqilya und seinen Außenbezirken durch, wodurch die Offensive eskalierte und die Kontrolle über alle größeren Bezirke im nördlichen Westjordanland verstärkt wurde.

In Tulkarem, das an der Grünen Linie zwischen Israel und dem Westjordanland liegt, ist die Lage nicht weniger brisant. Seit Beginn des Krieges im Gazastreifen sind immer wieder Bulldozer und Drohnen durch das Flüchtlingslager gerollt und haben Straßen, Häuser und Schaufenster zerstört. Durch die Ausweitung der „Operation Iron Wall“ in den letzten Wochen wurden drei Viertel der Bevölkerung des Lagers vertrieben.

Ich besuche das Gebiet zum dritten Mal seit dem 7. Oktober und schließe mich dabei der deutschen NGO Medico an. Dieses Mal verteilen die lokalen Partner von Medico – Mitglieder von Jadayel, dem palästinensischen Zentrum für Kunst und Kultur – Decken und Polster an kürzlich vertriebene Familien. Sie arbeiten unabhängig von der Palästinensischen Autonomiebehörde und bezeichnen deren Bürokratie als Hindernis, das die Verteilung der Hilfe unnötig verzögert.

Auf dem Weg dorthin treffe ich Muayyad Shaaban, den Leiter der Kommission der Palästinensischen Autonomiebehörde für Widerstand gegen Kolonialisierung und Mauer. Er betont, dass die Palästinensische Autonomiebehörde tut, was sie kann, und 400 bis 500 Mahlzeiten pro Tag an vertriebene Familien aus dem Lager verteilt. Er zögert jedoch nicht, den Angriff als das zu bezeichnen, was er wirklich ist. „Es handelt sich nicht um eine Sicherheitsoperation, sondern um eine politische Operation“, sagt er und argumentiert, dass die meisten der in den Lagern Getöteten und Verwundeten nichts mit einem bewaffnetem Widerstand zu tun hatten. „All das ist Teil von Netanjahus Geschenk an die extreme Rechte als Gegenleistung für den Waffenstillstand im Gazastreifen: Er gibt [Bezalel] Smotrich, was er will.“

Shaaban deutet an, dass die laufende Militäroperation im nördlichen Westjordanland in Wirklichkeit die Grundlage für etwas viel Größeres legt: die Annexion. Und die Voraussetzungen dafür sind durchaus gegeben. Eine Intensivierung der staatlich unterstützten Siedlergewalt hat seit dem 7. Oktober mehr als 50 ländliche palästinensische Gemeinden dazu gezwungen, ihr Land zu verlassen, und die SiedlerInnen haben im gleichen Zeitraum über 40 neue Außenposten errichtet.

Eine der ersten Amtshandlungen von Donald Trump nach seiner Rückkehr ins Weiße Haus bestand darin, die von der Regierung Biden verhängten Sanktionen gegen Amana, eine wichtige Siedlerentwicklungsorganisation, aufzuheben. In diesen Tagen wächst unter den PalästinenserInnen der Verdacht, dass Washington die israelische Souveränität über das Westjordanland bald formell bestätigen und damit auf der internationalen Bühne anerkennen könnte, was seit langem eine israelische Politik der De-facto-Annexion ist.

In einer Notunterkunft in Shweikeh, einem nördlichen Vorort von Tulkarem, beschreibt ein Mann namens Bahazat Dheileh die zunehmenden Schwierigkeiten bei der Versorgung der notleidenden Menschen. Die dringendsten Wünsche der vertriebenen Familien, berichtet er, sind Babynahrung und Windeln.

Nach Angaben von Dheileh haben die israelischen Streitkräfte die Familien daran gehindert, etwas mitzunehmen, wenn sie aus dem Lager fliehen. Dies hat die ohnehin schon katastrophale humanitäre Lage noch weiter verschlimmert, ebenso wie Israels Stilllegung des UN-Hilfswerks (UNRWA), die dazu geführt hat, dass die Verteilung von Hilfsgütern noch stärker unterbrochen ist als zuvor.

Nicht weit von hier, im Hintergarten des Hauses seines Bruders, steht Abdellatif Sudani mit leerem Blick. Vor drei Wochen verließ er schließlich mit seinem Sohn und seiner Tochter das Lager Tulkarem. Bei jedem früheren israelischen Einmarsch hatte er darauf bestanden zu bleiben und die Warnungen zum Verlassen des Lagers ignoriert, aber dieses Mal war es anders. „Es gab Gerüchte, dass die Armee vorhatte zu bleiben“, sagt er.

Aber das war es nicht, was ihn dazu brachte, zu gehen; es waren seine Kinder, die ihn überzeugten. „Wer wird uns beschützen?“, fragt er mit leiser Stimme. „Wir sind auf uns allein gestellt.“


Hanno Hauenstein ist ein unabhängiger Journalist und Autor mit Sitz in Berlin. Seine Arbeiten sind unter anderem in The Guardian, The Intercept und der Berliner Zeitung erschienen.




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