Mu’in Abu al-'Eish, ein 59-jähriger Vater von sieben Kindern aus dem Flüchtlingslager Jabalya, berichtet von den Angriffen auf das Al-Awda-Krankenhaus, in dem er arbeitete, von der Beschießung eines Krankenwagens, in dem er am 19. Oktober 2024 PatientInnen zum Kamal Adwan-Krankenhaus fuhr, und von seiner Vertreibung ins al-Shati Flüchtlingslager.
Aufgezeichnet im Rahmen der Serie „Stimmen aus Gaza“ von B’Tselem, 18. Jänner 2025
(Originalbeitrag in englischer Sprache und dazugehörendem Videomaterial)
Ich bin Rettungssanitäter im Al-Awda-Krankenhaus in Jabalya und leiste Erste Hilfe und Rettungseinsätze im nördlichen Gazastreifen. Zu Beginn des Krieges wurde meine Familie aus dem Flüchtlingslager Jabalya in das Haus meiner Tochter im Flüchtlingslager al-Shati, westlich von Gaza-Stadt, vertrieben. Ich blieb in Jabalya und setzte meine Arbeit fort.
Seit dem Beginn des Krieges haben wir nicht aufgehört zu arbeiten. Das Al-Awda-Krankenhaus nimmt normalerweise relativ einfache Fälle auf und bietet eine medizinische Grundversorgung. Menschen, die eine komplexere Behandlung benötigen, überweisen wir in andere Krankenhäuser im nördlichen Gazastreifen. Wir haben verletzte Kinder, Frauen in den Wehen, deren Babys wahrscheinlich einen Inkubator benötigen, und andere Fälle an das Kamal Adwan Hospital und das indonesische Krankenhaus überführt. Die meiste Arbeit vor Ort überlassen wir dem Palästinensischen Roten Halbmond, aber wenn jemand in unserer Nähe verletzt ist oder behandelt werden muss, holen wir ihn.
Am 18. Dezember 2023 umstellte das israelische Militär das Al-Awda-Krankenhaus und nahm mehrere Ärzte und Mitarbeiter fest: den Krankenhausdirektor Dr. Ahmad Mhanna, den Krankenwagenfahrer Khaled Abu Sa'dah, den Personal- und Sicherheitsmanager Iyad Abu Sharkh und den Chirurgen Dr. Ibrahim Fuda. Sie alle befinden sich bis heute in israelischer Gefangenschaft. Die Armee hat auch mehrere PatientInnen verhaftet, deren Namen ich aber nicht kenne.
Die Belagerung des Krankenhauses dauerte etwa 20 Tage. Während dieser Zeit schossen die Israelis mit scharfen Waffen auf uns und beschossen das Krankenhaus mehrmals. Einer der Angriffe erfolgte kurz nach Beginn der Belagerung. Die Israelis feuerten eine Granate auf den dritten Stock des Krankenhauses, in dem sich das Büro von Ärzte ohne Grenzen befand, und töteten drei Ärzte: Mahmoud Abu Najilah, Ziad a-Tatari und Ahmad a-Sahar.
Bei einem weiteren Angriff durch Scharfschützen wurden vier Menschen getötet: Ashraf Abu Dgheim, ein freiwilliger Sanitäter, Muhammad Abu 'Okal, ein Wartungsmitarbeiter, 'Ayidah Abu Naser, ein Hausmeister, und ein Zivilist, der in einem Zelt für Vertriebene in der Nähe des Krankenhauses lebte. Der Heckenschütze erschoss ihn zwischen den Zelten und dem Krankenhaus, und seine Leiche blieb dort zwei Tage lang liegen, bis es seiner Familie gelang, sie zur Beerdigung zu bringen.
Im Mai 2024 drang die Armee in das Lager ein und belagerte das Krankenhaus erneut. Diesmal dauerte die Belagerung fünf Tage. Das waren einige der härtesten Tage, die wir erlebt haben. Die Soldaten kamen ins Krankenhaus, durchsuchten uns, filmten uns, nahmen unsere Ausweise, um sie zu überprüfen, und befahlen uns, das Krankenhaus mit einer weißen Fahne zu verlassen. Bevor wir gingen, stellten sie uns vor Kameras auf und befahlen uns, uns auszuziehen. Sie filmten uns beim Entkleiden und fragten uns dabei: „Wie heißt ihr, was macht ihr, wer ist im Krankenhaus?“ Sie ließen einige der Verwundeten und das medizinische Personal im Krankenhaus zurück, um sich um sie zu kümmern. Alle Krankenwagen wurden von scharfer Munition oder Artilleriegranaten getroffen.
Wir verließen das Krankenhaus und gingen, wie sie uns befahlen, zum Gebiet al-Falujah im westlichen Teil des Lagers. Sie sagten uns, dass die Soldaten, die in Panzern auf dem Weg dorthin waren, wussten, dass die Soldaten uns gezwungen hatten, das Krankenhaus zu verlassen.
Ich arbeitete erst wieder im Krankenhaus, als die militärischen Aktivitäten in Jabalya beendet waren.
Am 6. Oktober 2024 marschierte das Militär in den Norden von Gaza-Stadt ein. Während der Invasion bombardierten sie einen Wohnblock mit mehreren Familien in der Nähe des Krankenhauses. Bei der Bombardierung kamen 24 Menschen ums Leben und viele weitere Menschen wurden verletzt. Wir brachten die Leichen in den Hof des Krankenhauses, um sie dort zu begraben, aber die angespannte Lage machte es zu gefährlich. Wir hielten Hunde und Katzen von den Leichen fern, bis wir sie in das Kamal-Adwan-Krankenhaus überführen konnten. Wir sprachen das mit der Krankenhausleitung ab, und dann packten einer meiner Kollegen und ich die Leichen in zwei Fahrzeuge und brachten sie dorthin. Das Krankenhauspersonal fand einen Platz, um sie auf dem Markt in Beit Lahiya zu bestatten.
Wir nahmen einen anderen Weg zurück nach Al-Awda, weil wir dachten, er sei sicherer. Aber auf dem Weg dorthin stießen wir auf Panzer und Sandhügel, und es war sehr gefährlich. Wir schafften es kaum zurück. An diesem Tag beschloss ich, das Krankenhaus nicht mehr zu verlassen, weil es draußen so gefährlich war. Alle Straßen waren blockiert, die Panzer standen dicht vor uns und wir waren Schüssen ausgesetzt.
Am 19. Oktober 2024 mussten mehrere PatientInnen des Krankenhauses in anderen Krankenhäusern weiterbehandelt werden, darunter eine Frau, die gerade entbunden hatte, und ihr Baby, die zusammen mit ihrer Begleitperson in das weniger als einen Kilometer entfernte Kamal-Adwan-Krankenhaus gebracht werden mussten. Der Krankenhausdirektor bat mich, sie mitzunehmen, aber ich lehnte ab, weil ich es für zu gefährlich hielt. Ich sagte ihm, ich würde nur gehen, wenn es mit dem israelischen Militär koordiniert werden würde, aber er sagte: „Ich habe einen Krankenwagenfahrer gefragt, der vom Kamal Adwan Krankenhaus kam, und er sagte, der Weg sei frei, man kann sagen, die Situation ist vernünftig.“ Er sagte mir außerdem, dass es das Wichtigste sei, Leben zu retten.
Ich brachte den Krankenwagen. Es gab drei Krankenwagen, und das Krankenhauspersonal entschied, wer verlegt werden sollte, und setzte eine Gruppe von PatientInnen und Verletzte in jeden Krankenwagen. In meinem Krankenwagen befanden sich neun Personen: eine Frau und ihre Tochter, ein verletzter Junge mit seinem Vater, eine Frau mit einem Baby und die Wöchnerin mit ihrem Neugeborenen und ihrer Begleitung. In den beiden anderen Krankenwagen befanden sich jeweils sieben oder acht Verwundete.
Ich legte eine schusssichere Weste an und setzte einen Helm auf und wir verließen das Krankenhaus gegen 15.30 Uhr, ein Krankenwagen vor mir und ein weiterer hinter mir. Als wir schon in der Nähe des Kamal Adwan Krankenhauses waren, feuerte die israelische Armee plötzlich eine Granate ab, die das Heck meines Krankenwagens traf. Es gab eine gewaltige Explosion und es fühlte sich an, als ob der Krankenwagen durch die Luft flog. Meine Ohren klingelten und ich hatte das Gefühl, dass ich mein Gehör verloren hatte. Ich begann, meinen Körper abzutasten, um zu sehen, ob ich irgendwo verletzt war oder blutete. Alle im Krankenwagen schrien.
Ich stieg aus, um nach den Leuten zu sehen, die ich gefahren hatte. Ich fand eine der Frauen, sie lag im Sterben und machte buchstäblich ihre letzten Atemzüge. Es gab nichts, was ich für sie tun konnte. Die beiden anderen Krankenwagen flohen von der Unfallstelle. Sie dachten, wir wären alle tot, weil die Granate unseren Krankenwagen direkt getroffen hatte.
Dann fingen sie an, heftig auf uns zu schießen, also rannte ich mit dem verletzten Jungen und seinem Vater und einer der Frauen und ihrer Tochter weg. Wir versteckten uns in einem Lagerhaus. Die andere Frau und ihre Tochter liefen in Richtung Kamal Adwan Krankenhaus. Die beiden anderen Frauen und das Neugeborene blieben im Krankenwagen.
Ich rief die anderen Fahrer aus dem Lagerhaus an und sagte ihnen, dass es mir gut ginge. Nach 15 Minuten trafen zwei Krankenwagen ein, aber kaum waren sie da, feuerten die Israelis auch auf sie eine Granate ab. Gott sei Dank, sie überlebten. Einer der Krankenwagen fuhr weg, und ich brachte die Verwundeten zusammen mit dem Sanitäter, der zu mir kam, in den anderen Krankenwagen. Aber wir hatten keine Zeit, alle mitzunehmen und mussten fliehen. Die Frauen und das Neugeborene blieben in dem beschädigten Krankenwagen zurück.
Als wir im Kamal Adwan Krankenhaus ankamen, erzählte ich den Ärzten und dem Personal, was passiert war, und sagte ihnen, dass ich die beiden Frauen und das Neugeborene im Krankenwagen zurückgelassen hatte. Sie riefen daraufhin das Rote Kreuz an, aber die sagten, man könne nichts tun.
Später kam ein Mann ins Krankenhaus, der an der Stelle vorbeigekommen war, an der der Krankenwagen beschossen worden war. Er sagte uns, er habe ein Baby im Krankenwagen weinen gehört. In dieser Nacht konnte ich nicht schlafen. Ich musste ständig an das neugeborene Baby denken, dass ich zu ihm gelangen und es retten muss, aber ich hatte Angst um mich und meine Kollegen.
Am nächsten Morgen, dem 20. Oktober 2024, gegen 2.30 Uhr früh, erhielt das Krankenhaus eine Meldung über die Bombardierung des Hauses der Familie al-Bura'i in Jabalya Flüchtlingslager, in der Nähe der Stelle, an der wir den Krankenwagen zurückgelassen hatten. Wir machten uns in Krankenwagen auf den Weg zum Haus der Familie al-Bura'i. Als wir dort ankamen, fanden wir zwei Verletzte und zwei oder drei Tote vor. Wir brachten sie im Krankenwagen weg, und auf dem Rückweg hielten wir in der Nähe des Krankenwagens an.
Ich fand das neugeborene Baby weinend im Krankenwagen. Die Leiche einer der Frauen lag dort, die der anderen Frau lag draußen. Hunde hatten beide bereits angefallen, aber das Baby hat irgendwie überlebt.
Wir nahmen das Baby und die Leichen mit und fuhren zum Kamal Adwan Krankenhaus. Das Baby wurde auf die Neugeborenen-Intensivstation gebracht und war bei guter Gesundheit. Dank Gottes Gnade haben die Hunde es nicht erwischt. Wir benachrichtigten seine Familie.
Wir saßen im Kamal-Adwan-Krankenhaus fest. Wir konnten nicht nach Al-Awda zurückkehren, weil es zu schwierig und gefährlich war und Quadcopter (UAVs) auf alles schossen, was sich bewegte. Einige Tage später, am 25. Oktober 2024, drang das Militär in das Kamal Adwan Krankenhaus ein und nahm Dr. Husam Abu Safiyah fest. Quadrocopter riefen allen im Krankenhaus zu, sich in den Innenhof zu begeben, Frauen und Männer getrennt.
Sie befahlen Dr. Husam Abu Safiyah, das gesamte medizinische Personal und die Sanitäter aus dem Krankenhaus zu holen, aber er weigerte sich, weil es im Krankenhaus verwundete und kranke PatientInnen gab, die ihre Hilfe benötigten. Dann sagten die Israelis, dass nur die weiblichen Mitarbeiterinnen bleiben durften, die Männer aber gehen müssten.
Das Militär befahl uns, unsere Kleidung bis auf die Unterwäsche auszuziehen und zum Militärlager im östlichen Teil vom Jabalya Flüchtlingslager zu gehen. Wir waren etwa 30 bis 50 Personen, und wir gingen unbekleidet. Sie erlaubten uns nicht, uns wieder anzuziehen. Als wir ankamen, sagten uns die Soldaten: „Legt eure Wäsche ab und geht in Fünfergruppen zur Kamera.“
Sie nahmen einige der Leute fest und zwangen die anderen, mich eingeschlossen, sich neben einen Militärjeep zu setzen. Nachdem sie alle gefilmt und kontrolliert hatten, sagte einer der Offiziere zu uns: „Nehmt eure Kleidung und geht zur Salah a-Din Straße und von dort aus nach Westen in Richtung Gaza.“ Ein Soldat weigerte sich, uns unsere Kleidung zurückzugeben. Ich sagte ihm, dass der Offizier gesagt hatte, wir sollten unsere Kleidung mitnehmen, woraufhin der Soldat seine Waffe auf meinen Kopf richtete.
Wir waren alle gezwungen, unsere Kleidung, Ausweise, Geld, Telefone und Dokumente zurückzulassen und zu Fuß weiterzugehen. Unterwegs fanden wir Kleidung, die die Leute zurückgelassen hatten. Ich fand ein Hemd und eine Damenhose, und das zog ich an.
Später stiegen wir auf einen von Eseln gezogenen Wagen und erreichten die al-Qaram-Kreuzung östlich der Stadt Jabalya. Dort warteten Krankenwagen auf uns. Sie brachten uns Essen, Wasser und Kleidung. Von dort aus brachten sie mich ins al-Shati Flüchtlingslager zu meiner Familie, dem Haus meiner Tochter.
Ich arbeite immer noch. Wir haben Zentren und Servicestellen für die medizinische Versorgung eingerichtet, aber ohne Krankenwagen. Es gibt nur einen Krankenwagen, den wir für den Transport von Medikamenten und Material zu den Krankenhäusern nutzen.
Die anderen Sanitäter, die bei mir waren, als der Krankenwagen beschossen wurde, sind ebenfalls wohlauf und arbeiten weiter.
Zeugenaussage aufgezeichnet vom B'Tselem-Mitarbeiter Olfat al-Kurd am 18. Januar 2025.
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