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The Lancet: Dramatische Auswirkungen des Krieges auf die Lebenserwartung der palästinensischen Bevölkerung

Der Genozid in Gaza hat zu einem dramatischen und erschreckenden Rückgang der Lebenserwartung der palästinensischen Bevölkerung geführt, so eine neue Studie, die am 8. Februar 2025 in der angesehenen Fachzeitschrift The Lancet veröffentlicht wurde. Die Studie liefert eine umfassende Analyse der verheerenden Auswirkungen des Krieges auf die öffentliche Gesundheit und zeigt auf, dass sich die Lebenserwartung der Menschen in der Region seit Oktober 2023 fast halbiert hat. Die von Prof. Michel Guillot, einem führenden Soziologen an der University of Pennsylvania, geleitete Studie hebt ein zentrales Thema hervor: die tiefgreifenden und oft übersehenen Folgen bewaffneter Konflikte für die Demografie und die öffentliche Gesundheit.


Vor Oktober 2023 lag die Lebenserwartung im Gazastreifen bei einem relativ stabilen Durchschnitt von 75,5 Jahren. Aufgrund der unerbittlichen Gewalt und der daraus resultierenden humanitären Krise ist diese Zahl jedoch zwischen Oktober 2023 und September 2024 – also binnen eines Jahres – auf alarmierende 40,5 Jahre gesunken. Die Ergebnisse sind keine statistische Größe, sondern stellen reale Menschenleben dar, die von systemischer Gewalt, Verlusten und Traumata betroffen sind, die das tägliche Leben in Gaza bestimmen.

Die Studie beschreibt außerdem die Unterschiede in der Lebenserwartung zwischen den Geschlechtern und zeigt einen stärkeren Rückgang bei Männern, deren Lebenserwartung von 73,6 Jahren auf 35,6 Jahre gesunken ist – ein erschütternder Rückgang von 51,6 %. Frauen sind zwar ebenfalls stark betroffen, haben aber einen geringeren Rückgang der Lebenserwartung zu verzeichnen, nämlich von 77,4 Jahren auf 47,5 Jahre, was einem Rückgang von 38,6 % entspricht.


Die schwer zu kalkulierenden und erfassenden indirekten Auswirkungen des Genozids werden das Leben der Menschen in Gaza noch jahrzehntelang bedrohen. Von Oktober 2023 bis Mitte Januar 2025 bombardierte Israel den Gazastreifen mit der Kraft von fast sechs Atombomben und zerstörte dabei ganze Stadtteile. ExpertInnen zufolge wird es mehr als 15 Jahre dauern, bis die Trümmer beseitigt sind, und Jahrzehnte für den Wiederaufbau. Die palästinensische Bevölkerung atmet Luft, die durch mehr als 15 Monate Bombardierung verseucht ist. Sie können den Giftstoffen, die Krebs und Atemwegserkrankungen verursachen, nicht entkommen. Israel hat zwei Millionen PalästinenserInnen im Gazastreifen, darunter viele Kinder, über 15 Monate lang systematisch ausgehungert. Menschen wurden (und werden) gezwungen, in überfüllten und unhygienischen Lagern zu leben. Die Folgen von Hunger und Krankheiten können ein Leben lang anhalten. All diese Faktoren – gemeinsam mit dem zerstörten Gesundheitssystem – werden sich auch in Zukunft schädlich auf die Lebenserwartung der palästinensischen Bevölkerung auswirken.


Im The Guardian erschien am vergangenen Wochenende ein Bericht, in dem zwei britische Ärzte – Dr. Ghassan Abu-Sittah und Prof. Nizam Mamode – über die langfristigen Auswirkungen der Angriffe auf Gaza sprechen – sie befürchten, dass sich die Zahl der palästinensischen Todesopfer vervierfachen könnte. Das Überhandnehmen von Infektionskrankheiten und zahlreichen Gesundheitsproblemen im Zusammenhang mit Unterernährung sowie die Zerstörung von Krankenhäusern und die Ermordung von medizinischem Fachpersonal führen ihrer Meinung nach dazu, dass die Sterblichkeitsrate unter den PalästinenserInnen im Gazastreifen auch nach einem Ende der israelischen Angriffe hoch bleiben wird.

Prof. Nizam Mamode, ein pensionierter britischer Transplantationschirurg aus Hampshire, der im vergangenen Jahr im Nasser-Krankenhaus im südlichen Gazastreifen gearbeitet hat, sagt, dass die Zahl der „Nicht-Trauma-Todesfälle“ letztendlich sogar noch deutlich höher als 186.000 sein könnte. Ein wichtiger Faktor dafür ist die gezielte Tötung von medizinischem Personal während des Krieges.


Von sechs Gefäßchirurgen, die einst den Norden von Gaza versorgten, ist nur noch einer übrig geblieben. Auch von den Krebspathologen ist keiner mehr am Leben. Abu-Sittah berichtet, dass ganze Teams von medizinischen SpezialistInnen aus dem Gazastreifen ausgelöscht wurden und dass die Ausbildung, die erforderlich ist, um sie zu ersetzen, bis zu zehn Jahre dauert: „Bestimmte Fachgebiete existieren nicht mehr. Es gibt keine Nephrologen [ein auf Nierenbehandlung spezialisierter Arzt] mehr. Sie wurden alle umgebracht. Es gibt keine zertifizierten Notfallmediziner mehr.“


Eine weitere Sorge ist die Ausbreitung von Krankheiten, die durch die Zerstörung von Infrastrukturen wie z. B. Abwassersystemen begünstigt wird. Dr. Abu-Sittah hat gegenüber Scotland Yard und dem Internationalen Strafgerichtshof über seine Arbeit in Gaza Zeugnis abgelegt. Er beschrieb die dort herrschenden Krankheiten als eine Katastrophe: „Hepatitis, Durchfallerkrankungen, Atemwegserkrankungen und die im Krieg wieder aufgetretene Kinderlähmung werden weiter grassieren, weil es noch immer keine Kanalisation und kein sauberes Trinkwasser gibt, noch immer keine Unterkünfte und keine Kliniken für die medizinische Grundversorgung. Man wird nicht in der Lage sein, Infektionskrankheiten zu stoppen oder auch nur einzudämmen.“ Er warnte außerdem vor der Ausbreitung arzneimittelresistenter Bakterien und berichtete von einem Fall, bei dem sechs von sieben PatientInnen, die er nacheinander behandelte, „mehrfach arzneimittelresistente Bakterien“ aufwiesen.


Prof. Mamode warnt davor, dass ein weiteres, wichtiges langfristiges Gesundheitsproblem die psychologischen Traumata sind, die die Bevölkerung nach 15 Monaten Krieg davongetragen hat: „In den kommenden Monaten werden diese Probleme allmählich in den Vordergrund treten, weil die Menschen sich bisher nur auf das tägliche Überleben konzentriert haben. Wenn dieser Druck nachlässt, werden sich [die psychologischen Auswirkungen] auf unterschiedlichste Art und Weise manifestieren.“


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Informationen bezogen aus:

Langfristige Auswirkungen des Gaza-Krieges könnten die Zahl der palästinensischen Todesopfer vervierfachen, warnen britische Ärzte

Von Mark Townsend, The Guardian, 22. Februar 2025

The Lancet: Life expectancy losses in the Gaza Strip during the period October, 2023, to September, 2024

8. Februar 2025

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