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Ärzt*innen in Gaza kämpfen unter israelischer Blockade gegen seltene Lähmungskrankheiten

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  • 22. Aug.
  • 3 Min. Lesezeit

Die Zerstörung der sanitären Anlagen durch Israel ermöglicht die ungehinderte Ausbreitung gefährlicher Viren.


Von Rory O‘Neill, POLITICO, 19. August 2025


(Originalbeitrag in englischer Sprache)

 

Gefährliche Viren, die schwere Lähmungskrankheiten verursachen, breiten sich in Gaza aus, wo hungernde Kinder, die unter der israelischen Blockade leben, keinen Zugang zu den Nahrungsmitteln oder Behandlungen haben, die sie für ihre Genesung benötigen würden.

Seit Monaten warnen Gesundheitsbehörden, dass die Zerstörung der sanitären Einrichtungen im Gazastreifen durch Israel zu einem Anstieg von Infektionskrankheiten führen könnte, wie es bereits beim Polio-Ausbruch im letzten Jahr zu beobachten war. Nun berichten Ärzt*innen von einem Anstieg der Fälle von akuter schlaffer Lähmung, einem seltenen Syndrom, das zu Muskelschwäche führt und das Atmen und Schlucken erschweren kann.


Zu den Fällen in Gaza gehören Akute schlaffe Myelitis (ASM), von der vor allem Kinder betroffen sind, und das bekanntere Guillain-Barré-Syndrom, berichtet Ahmed al-Farra, Leiter der Pädiatrie am Nasser-Krankenhaus in Khan Younis, Gaza.


Vor Oktober 2023 war akute schlaffe Lähmung „etwas Ungewöhnliches und sehr Seltenes“, mit ein oder zwei Fällen pro Jahr, so al-Farra. Aber in den letzten drei Monaten haben Ärzt*innen laut al-Farra fast 100 Fälle gesehen.


Laborproben, die nach Jordanien und Israel geschickt wurden, waren positiv auf Enteroviren getestet worden, eine Gruppe von Viren, die zwischen Menschen oder durch kontaminiertes Wasser übertragen werden, so al-Farra. Enteroviren, zu denen auch das Poliovirus gehört, werden in der Regel über den fäkal-oralen Weg übertragen. Er sagte, es sei keine Überraschung, dass einer der Hotspots Khan Younis sei, wo sich ungeklärtes Abwasser in den Straßen sammelt.


Die internationale Kritik an Israel nimmt zu, und in den bislang schärfsten Äußerungen eines EU-Beamten erklärte Teresa Ribera, Vizepräsidentin der Europäischen Kommission, gegenüber POLITICO Anfang dieses Monats, dass Israels Vorgehen in Gaza „sehr stark“ nach Völkermord aussehe – eine Anschuldigung, die Israel zurückweist.


In einer Erklärung der Weltgesundheitsorganisation (WHO) heißt es, dass bis zum 31.Juli 32 Fälle von akuter schlaffer Lähmung bei unter 15-Jährigen gemeldet worden seien. Der Anstieg sei zum Teil auf eine bessere Überwachung zurückzuführen, so die WHO, spiegele aber auch den Zusammenbruch der Wasser- und Sanitärinfrastruktur, Unterernährung und den massiv eingeschränkten Zugang zu Gesundheitsversorgung wider. In fast 70 Prozent der zur Untersuchung eingeschickten Proben wurde die Ursache als Nicht-Polio-Enterovirus identifiziert, verglichen mit 26 Prozent in den Vorjahren, so die WHO. Eine kritische klinische Beurteilung sei derzeit in Gaza aufgrund fehlender Diagnose-, Labor- und Testkapazitäten „äußerst schwierig“, hieß es in der Erklärung.


Ebenso berichten Ärzt*innen, dass sie nur wenige Möglichkeiten haben, Patient*innen zu behandeln. Das Personal des Al-Shifa-Krankenhauses in Gaza, das Anfang 2024 von Israel weitgehend zerstört wurde, hat laut Krankenhausdirektor Muhammed Abu Salmiya bisher 22 Fälle des Guillain-Barré-Syndroms diagnostiziert. Drei Patient*innen starben, während zwölf eine Lähmung entwickelten und in Rehabilitationszentren überwiesen wurden.


Die Behandlung von akuter schlaffer Myelitis und Guillain-Barré-Syndrom umfasst intravenöse Immunglobuline – Antikörper zur Neutralisierung der Infektion – oder Plasmaaustausch, bei dem das Blut gefiltert wird. Keines dieser Mittel ist in Gaza verfügbar, wo aufgrund der israelischen Blockade ein chronischer Mangel an grundlegenden medizinischen Hilfsgütern herrscht.


„Leider steht uns die Behandlung nicht zur Verfügung“, so Abu Salmiya.

Einheimische Ärzt*innen haben ausländische Kolleg*innen, die sich freiwillig bei medizinischen Hilfsmissionen  in Gaza engagieren, gebeten, Filter für die Plasmaaustauschtherapie mitzubringen, doch diese werden oft von den israelischen Behörden beschlagnahmt, berichtet al-Farra.


Die israelische Regierung hatte bis zum Zeitpunkt der Veröffentlichung nicht auf die Anfrage von POLITICO nach einer Stellungnahme reagiert.


Kinder in Gaza sind aufgrund der Massenhungersnot und des Mangels an Vitaminen, die die Nervenregeneration unterstützen, besonders anfällig für diese Erkrankung, erklärt al-Farra: „Niemand hat eine ausreichende Menge an Vitamin B1, B6 und B12. Das liege daran, dass es kein Obst, kein Gemüse, kein Fleisch, keine Eier, keinen Joghurt, einfach nichts gibt.“

Nach den Angriffen der Hamas, bei denen am 7. Oktober 2023 etwa 1.200 Menschen in Israel getötet wurden, schränkten die israelischen Behörden die Einfuhr von Lebensmitteln nach Gaza massiv ein, was zu chronischer Unterernährung und Massenhungersnot führte.


Gesundheitsbeamte in Gaza geben an, dass seit Oktober 2023 188 Menschen an Hunger gestorben sind, die meisten davon Kinder. Das Gesundheitsministerium in Gaza, das Teil der von der Hamas geführten Regierung ist, führt detaillierte Opferlisten, die von unabhängigen Expert*innen als allgemein zuverlässig angesehen werden.


Die Vereinten Nationen schätzen, dass mindestens 1 373 Palästinenser*innen bei der Suche nach Nahrungsmitteln ums Leben gekommen sind, darunter 859 an Standorten, die von der von Israel und den Vereinigten Staaten unterstützten Gaza Humanitarian Foundation betrieben werden.


Im Dezember 2024 verwies Amnesty International in seinem Bericht auf die Blockade Israels und die Zerstörung von sanitären Einrichtungen und kam zu dem Schluss, dass Israel in Gaza Völkermord begeht.


Der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu sagt, seine Regierung beabsichtige, die vollständige Übernahme des Gazastreifens voranzutreiben. Der Internationale Gerichtshof hat bereits entschieden, dass die Besetzung des Gebiets durch Israel illegal ist.

 

Rory O’Neill ist Reporter für Gesundheit bei POLITICO.


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