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Ärzte ohne Grenzen: Die jüngsten Massaker verdeutlichen die völlige Entmenschlichung des palästinensischen Volkes

Seit Anfang Juni wurden nach Angaben der Gesundheitsbehörden bei intensiven Bombardierungen und Bodenoffensiven der israelischen Armee im Gazastreifen mehr als 800 Menschen getötet und über 2.400 verwundet.


Ärzte ohne Grenzen, 12. Juni 2024


(Originalbeitrag in englischer Sprache)

 

Diese schrecklichen Angriffe haben zu inakzeptablen Qualen und Leiden geführt und zeigen, dass palästinensisches Leben eindeutig missachtet wird, so Ärzte ohne Grenzen (MSF).

Zahlreiche Militäroffensiven haben in den letzten Wochen zu einem wiederholten Massenzustrom an Verletzten in die von Ärzte ohne Grenzen unterstützten medizinischen Einrichtungen in Rafah und in der Mitte von Gaza geführt.


Ärzte ohne Grenzen appelliert an Israel, diese Massaker sofort zu beenden.

Wir appellieren auch an Israels Verbündete, einschließlich der Vereinigten Staaten, des Vereinigten Königreichs und der Mitgliedstaaten der Europäischen Union, alles in ihrer Macht Stehende zu tun, um Israel dazu zu bewegen, die Angriffe auf ZivilistInnen und zivile Infrastruktur in Gaza einzustellen.


Nach Angaben der örtlichen Gesundheitsbehörden wurden allein am 8. Juni 274 Menschen getötet.  An diesem Tag wurden über 60 schwer verletzte Patienten, darunter auch bewusstlose Kinder, in das von Ärzte ohne Grenzen unterstützte Nasser-Krankenhaus eingeliefert. Im Al-Aqsa-Krankenhaus unterstützen wir medizinische Teams, die 420 Verletzte und 190 Tote aufnahmen, darunter ebenfalls viele Kinder.


Die eingelieferten Patienten wiesen die typischen Merkmale heftiger Luftangriffe auf: Verstümmelung, schwere Traumata, Verbrennungen und offene Brüche.

„Wie kann die Tötung von mehr als 800 Menschen in einer einzigen Woche, darunter auch kleine Kinder, und die Verstümmelung von Hunderten weiterer Menschen als Militäroperation betrachtet werden, die mit dem humanitären Völkerrecht vereinbar ist?“, so Brice de le Vingne, Leiter der MSF-Notfallabteilung. „Wir können die Aussage, Israel treffe ‚alle Vorsichtsmaßnahmen‘, nicht länger akzeptieren - das ist reine Propaganda.“

Zu Beginn derselben Woche bombardierte Israel wiederholt so genannte Sicherheitszonen, Flüchtlingslager, eine Schule und mehrere humanitäre Lagerhäuser, die von den israelischen Streitkräften offiziell als „friedlich“ registriert wurden.


Schwere Angriffe am 4. Juni in der Mitte des Gazastreifens forderten mindestens 70 Tote und über 300 verletzte PalästinenserInnen, vor allem Frauen und Kinder, die mit schweren Verbrennungen, Schrapnellwunden und Knochenbrüchen in das von Ärzte ohne Grenzen unterstützte Al-Aqsa-Krankenhaus gebracht wurden.


„Seit Oktober (und sicherlich auch schon davor) ist die Entmenschlichung der Palästinenser ein Markenzeichen dieses Krieges“, sagt de le Vingne. "Floskeln wie ‚Krieg ist hässlich‘ verdecken die Tatsache, dass Kinder, die noch nicht laufen können, verstümmelt, ausgeweidet und getötet werden.“


Erschütternde politische Untätigkeit


Diese Angriffe sind die jüngsten in einer langen Reihe von Gräueltaten und zeigen, welche Art von Krieg Israel führt. Israel und seine Verbündeten haben wiederholt gezeigt, dass es bei dieser Gewalt keinen Wendepunkt oder eine rote Linie gibt.


Die Angriffe, die heute als „Mehlmassaker“, „Zeltmassaker“, „Tötung von Mitarbeitern von Hilfsorganisationen und ihren Familien“, „Zerstörung von Krankenhäusern und des Gesundheitswesens im Allgemeinen“ bekannt sind, haben zu nichts anderem geführt als zu schwachen diplomatischen Äußerungen, leeren Worten und erschütternder Untätigkeit.

Am 10. Juni wurde das von den USA eingebrachte Votum des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen angenommen, das einen Waffenstillstand und die ungehinderte Bereitstellung humanitärer Hilfe fordert.


Dieser Waffenstillstand und die damit einhergehende Bereitstellung von Hilfsgütern müssen unverzüglich ermöglicht und im Gegensatz zu früheren und ähnlichen Resolutionen mit sofortiger Wirkung umgesetzt werden. Wenn dies nicht geschieht, wird dies weitere Menschenleben kosten und einen weiteren Schandfleck für das kollektive Gewissen darstellen.

Entgegen den wiederholten öffentlichen Erklärungen der israelischen Behörden wird die humanitäre Hilfe seit Oktober verweigert oder stark behindert.


Der Mangel an lebenswichtigen medizinischen Gütern und Ausrüstungen sowie die bürokratischen Verzögerungen seitens der israelischen Behörden bei der Erteilung von Sicherheits- und Versorgungsgenehmigungen für die Einrichtung von Feldkrankenhäusern haben es nahezu unmöglich gemacht, auch nur eine medizinische Grundversorgung zu gewährleisten.


Feldkrankenhäuser sind nur deshalb notwendig, weil das Gesundheitssystem in Gaza systematisch demontiert wurde - sie können in keiner Weise ein robustes und funktionierendes Gesundheitssystem ersetzen.


Es muss einen Waffenstillstand geben


Nach Angaben des Gesundheitsministeriums wurden in Gaza mehr als 37.000 Männer, Frauen und Kinder getötet und mehr als 84.000 verwundet.


Die Resolution des Sicherheitsrates vom 10. Juni muss unverzüglich umgesetzt werden: In Gaza gibt es keine sicheren Zonen, die Grundsätze des humanitären Völkerrechts werden nicht eingehalten und die humanitäre Hilfe wird systematisch behindert. Es muss ein sofortiger und dauerhafter Waffenstillstand herrschen, und humanitäre Hilfe muss ungehindert und in großem Umfang in den Gazastreifen gelangen können.



Angriff auf das Flüchtlingslager Al-Nuseirat: Das erschütternde Zeugnis eines Arztes

 

Ärzte ohne Grenzen, 11. Juni 2024


(Originalbeitrag in englischer Sprache)

 

Am Samstagmorgen, dem 8. Juni 2024, haben israelische Streitkräfte den mittleren Teil des Gazastreifens, darunter das Flüchtlingslager Al-Nuseirat, schwer bombardiert. Bei diesen tödlichen israelischen Angriffen wurden nach Angaben der örtlichen Gesundheitsbehörden mindestens 270 Palästinenser getötet und etwa 700 verwundet. Die Teams von Ärzte ohne Grenzen behandelten zusammen mit dem medizinischen Personal der Al-Aqsa- und Nasser-Krankenhäuser Hunderte von schwer verletzten Patienten, darunter viele Frauen und Kinder.

Dr. Hazem Maloh ist ein palästinensischer Arzt, der seit 2013 mit Ärzte ohne Grenzen zusammenarbeitet und im Lager Al-Nuseirat lebt. In dem folgenden Bericht erinnert er sich an diesen schrecklichen und traumatischen Tag, an dem er viele seiner Freunde und Nachbarn verlor.

 

Am Tag der Angriffe durchlebte ich drei Stunden echter Angst und Terror.

 

Eine endlose Stunde lang wusste ich nicht, wo mein ältester Sohn war. Er war auf den Markt gegangen und innerhalb weniger Minuten war alles auf den Kopf gestellt.

 

Minuten fühlten sich wie Stunden an.

 

Überall waren Geräusche von Raketen und Explosionen zu hören. Wir wussten nicht, was los war. Alle schrien und rannten in verschiedenen Richtungen davon. Wir konnten die Sirenen der Krankenwagen hören.

 

Es fühlte sich an, als wäre es das Ende der Welt.

 

Ich stand auf, um zu sehen, ob mein Sohn zurückgekommen war, und stellte fest, dass er sein Telefon zu Hause vergessen hatte. Ich lief auf die Straße und schrie: 'Wo ist mein Sohn? Wo ist mein Sohn?'

 

Meine Familie versuchte, mich zurück ins Haus zu holen. Ich habe so sehr geschrien, dass ich meine Stimme verloren habe.

 

Eine Stunde später kam mein Sohn nach Hause. Der Anblick von Angst und Schrecken auf seinem Gesicht... so etwas habe ich noch nie bei einem Menschen gesehen.

 

Er war kaum in der Lage zu sprechen. Er sagte: „Papa, Menschen wurden in Stücke gesprengt! Kinder, Frauen... Warum ist das so, Papa?'

 

Ich umarmte ihn und weinte und weinte. Zum ersten Mal fühlte ich mich schwach.

 

Danach ging ich in die Al-Awda-Klinik in Deir al Balah, die nur wenige Meter von meinem Haus entfernt ist. Ich sah Dutzende und Aberdutzende von Menschen auf dem Boden liegen. Einige von ihnen waren tot, andere verletzt.

 

Einer meiner Kollegen rief mich an. Sein Bruder war von einem Granatsplitter in den Rücken getroffen worden. Er erzählte mir, dass er Blut spuckte. Er fragte immer wieder, was er tun solle. Aber was konnte ich tun? Es war kein Krankenwagen verfügbar.

 

Ich sagte ihm, er solle ein Stück Stoff um die Wunde binden, um Druck auf die Verletzung auszuüben, und dass er für ihn beten soll, dass er am Leben bleibt.

 

Dutzende von Menschen wurden getötet. Wir hatten keine Zeit, sie zu beerdigen.

 

Viele waren meine Nachbarn, Freunde oder Verwandte. Männer, Frauen, Kinder.

 

Raneem, die Tochter einer meiner besten Freunde, und ihr Vater wurden beide getötet. Sie war dabei, sich auf ein Medizinstudium in Ägypten vorzubereiten. Als ich sie das letzte Mal sah, lächelte sie mich an und fragte: „Onkel, wird Ärzte ohne Grenzen mich rekrutieren, wenn ich mein Studium abgeschlossen habe?

 

Mahmoud war auch ein großartiger junger Mann. Er hat mir oft im Garten bei der Bepflanzung und in der Landwirtschaft geholfen. Am Tag vor seinem Tod holte er das Holz vor dem Haus und machte ein Feuer, um Nudeln für seine Kinder zu kochen. Er sagte zu mir: „Weißt du was, jetzt mache ich Nudeln, die besser sind als Maqlube [ein berühmtes palästinensisches Gericht]“. Mahmoud wurde ebenfalls am Samstag getötet.

 

Rami war ein einfacher Fischer. Am Tag vor dem Angriff sagte er zu mir: „Du wirst sehen, wir werden zurückkehren und wieder im Meer schwimmen, sobald der Krieg vorbei ist.“ Rami wurde ebenfalls getötet.

 

Die Liste ist zu lang... und ich werde keinen von ihnen je wiedersehen.

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