Angesichts des sich ausweitenden Krieges und des Plans Israels, Hilfsgüterlieferungen zu übernehmen, befürchten meine Kolleg*innen und Freund*innen in Gaza den „Todesstoß“
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Für die Bevölkerung von Gaza hat nichts, was Israel tut, etwas mit der Hamas zu tun, sondern alles damit, dass Gaza unbewohnbar gemacht und sie alle ausgerottet werden sollen.
Von Arwa Damon, The New Humanitarian, 8. Mai 2025
Anfang dieser Woche kündigte Israel Pläne an, seinen Krieg gegen den Gazastreifen zu intensivieren. Dazu gehört auch, die Kontrolle über große Teile des Gebiets auf unbestimmte Zeit zu übernehmen und die Bevölkerung erneut gewaltsam zu vertreiben - möglicherweise dauerhaft. Parallel zu dieser Eskalation haben israelische Politiker inoffiziell einen Plan vorgelegt, der die Verteilung von Hilfsgütern im Gazastreifen übernehmen soll. Dabei soll das bestehende, von den Vereinten Nationen geleitete System abgeschaltet und durch ein System ersetzt werden, von dem UN-Vertreter*innen sagen, dass es die Hilfsgüter als Teil einer militärischen Kontrollstrategie bewusst und mit Waffengewalt verteilt.
Für die Menschen im Gazastreifen ist das Ziel klar: Sie sollen dauerhaft in ein noch kleineres Gefängnis des Elends gepfercht werden, in dem sie ihre Besatzer um einen Laib Brot anbetteln müssen. Viele, mit denen ich gesprochen habe, sagen, dass die Vorstellung, dauerhaft in einer ohnehin schon höllischen Umgebung festzusitzen, mehr als erschreckend ist.
Der Plan, die Verteilung von Hilfsgütern zu übernehmen, wurde erstmals Ende letzten Jahres ins Gespräch gebracht. Damals wie heute hat sich die humanitäre Gemeinschaft entschieden dagegen ausgesprochen. Doch Israel betreibt Lobbyarbeit bei einigen Organisationen, um sie mit ins Boot zu holen, was die Unsicherheit nur noch vergrößert. Niemand hat wirklich Klarheit darüber, wie das Ganze in der Praxis ablaufen soll.
Der von Israel skizzierte Plan sieht vor, die Bevölkerung des Gazastreifens in „Hamas-freie“ Gebiete zu zwingen und Knotenpunkte einzurichten, von denen aus die Hilfsgüter verteilt werden sollen. Diese Zentren würden vom israelischen Militär bewacht und sich im zentralen und südlichen Gazastreifen befinden, und sie könnten mit bewaffneten Sicherheitskräften besetzt werden.
Die Empfänger*innen von Hilfsgütern würden zu nachrichtendienstlichen Zwecken überprüft, und nur ein Mitglied jeder Familie dürfte sich den Zentren nähern, um Hilfe abzuholen, nachdem es ein- oder zweimal im Monat per SMS dazu aufgefordert wurde. Und wie? In Gaza gibt es keine Transportmöglichkeiten. Ein Lebensmittelpaket für zwei Wochen kann bis zu 50 Kilo wiegen, so dass es nicht einfach ist, jemanden zu beauftragen, es abzuholen, wenn man stundenlang durch ein Kriegsgebiet laufen muss, um zu einem Knotenpunkt zu gelangen.
Nach Informationen, die in humanitären Kreisen die Runde machen, dürften pro Tag höchstens 60 Hilfsgütertransporter einfahren. Gaza braucht aber mindestens 500. Nahrungsmittel sind auch nur ein Teil dessen, was die Hilfe ausmacht tun - und was die Menschen brauchen.
Niemand hat eine Vorstellung davon, wie der Treibstoff verteilt, wie die Bevölkerung mit sauberem Wasser versorgt, wie Krankenhäuser und Kliniken versorgt oder wie die Unterernährung bekämpft werden soll. Ebenso unklar ist, wie die Bildung gewährleistet werden soll, wer für den Schutz und die psychische Betreuung sorgt, wer die Abwassersysteme und die dazugehörigen Pumpen wartet und so weiter und so fort.
„Der uns vorgelegte Plan wird dazu führen, dass große Teile des Gazastreifens, einschließlich der weniger mobilen und am stärksten gefährdeten Menschen, weiterhin nicht versorgt werden“, heißt es in einer Erklärung der UN-Koordinierungsstelle für Nothilfe, OCHA, in der der Plan klar verurteilt wird. „Er verstößt gegen grundlegende humanitäre Prinzipien und scheint darauf ausgelegt zu sein, die Kontrolle über lebenswichtige Güter als Druckmittel zu verstärken - als Teil einer militärischen Strategie.“
All dies geschieht zu einem Zeitpunkt, an dem Israel seit über zwei Monaten jegliche Hilfslieferungen nach Gaza verweigert und offen seine Absicht bekundet, die 2,1 Millionen Einwohner*innen des Streifens auszuhungern, angeblich um Druck auf die Hamas auszuüben. Doch für die Bevölkerung von Gaza hat nichts von dem, was Israel tut, nichts von dem Schmerz und dem Leid, das ihnen zugefügt wird, etwas mit der Hamas zu tun, sondern nur damit, dass der Gazastreifen unbewohnbar wird und sie alle ausgerottet werden.
Der Hunger ist überall
Es ist nicht nur so, dass Israel keine Hilfsgüter ins Land lässt. Es verweigert der UNO auch die Abholung von Millionen Litern Treibstoff, die sich bereits in Rafah befinden. Eine Organisation versucht seit Wochen, 500 Paletten mit Lebensmitteln in Rafah zu erreichen, ebenfalls erfolglos, weil Israel ihr die dafür erforderliche Genehmigung nicht erteilt.
Am 25. April gab das Welternährungsprogramm bekannt, dass seine Vorräte aufgebraucht sind. Die World Central Kitchen teilte am 7. Mai mit, dass ihr ebenfalls die Vorräte zum Kochen von Mahlzeiten und Backen von Brot ausgegangen sind. Ghada al-Haddad von Oxfam erklärte kürzlich in einer Pressekonferenz, dass mindestens 60 000 Kinder in Gaza unterernährt sind. Laut UNICEF wurden seit Anfang des Jahres mehr als 9 000 Kinder zur Behandlung akuter Unterernährung eingeliefert.
Meine Wohltätigkeitsorganisation INARA musste vor ein paar Tagen die Verteilung von warmen Mahlzeiten einstellen. Auch davor konnten wir den Menschen eigentlich nur Reis servieren. Das Team hat den Gazastreifen auf der Suche nach Dingen durchkämmt, die verteilt werden können – alles, was gekocht werden kann –, aber so gut wie alles ist ausgegangen. Die Preise auf den Märkten sind wahnsinnig. Ein 25-Kilo-Sack Mehl zum Beispiel kostet, wenn man ihn ergattern kann, über 311 Euro. Manchmal sind es sogar 620 Euro – aber eben nur dann, wenn man es überhaupt auftreiben kann.
Die Kollegen von INARA erzählen mir, dass der Hunger an den Eingeweiden der Menschen zerrt und Kinder zum Schreien bringt, während Eltern unter dem Schmerz, den sie bei ihren Kleinen sehen, zusammenbrechen.
„Der Hunger ist überall, und er ist real. Er ist überall“, teilt mir einer meiner INARA-Mitarbeiterin mit. „Ich war bei einer Unterkunft für Menschen mit besonderen Bedürfnissen. Sie verteilten Nudeln mit Soße. Aber jede Portion reichte kaum für eine Person, geschweige denn für eine Familie, man würde essen und in einer Stunde wieder hungrig sein.“
Sie schickt mir Videos, und ich starre auf die Gesichter und die Verzweiflung, die in sie gezeichnet ist.
„Am Ende war da ein Mädchen, für das nichts mehr übrig war“, sagt sie. „Ich ging zurück zum Verteilungszelt und begann, den Boden des Topfes für sie auszukratzen. Es gelang mir, zwei Löffel voll zu bekommen. So schlimm ist die Katastrophe.“
Ein psychologischer Krieg
In einem der Videos, die man mir schickt, sieht man eine Frau, die in einem behelfsmäßigen Lehmofen in einem Lager Brot backt. Einen Moment lang bin ich verwirrt. Aber dann kommt die Erklärung. Sie backt kein Brot mit Mehl. Die Leute zerkleinern Nudeln oder kochen sie, um sie aufzuweichen und zu einem Teig zu verarbeiten.
„Hungern ist zu einer kollektiven Aktivität geworden“, erklärt eine meiner engsten und liebsten Freundinnen in Gaza mit schwarzem Humor, ihre Stimme trieft vor Sarkasmus und ist von bitterer Akzeptanz durchzogen. „Unsere Gespräche drehen sich eigentlich immer um Lebensmittel. Wie viel wir vorrätig haben, wie wir rationieren, was wir am liebsten essen würden.“
Sie denkt darüber nach, dass sie bis jetzt nicht wussten, wie es ist, zu verhungern – selbst nach mehr als anderthalb Jahren, in denen Gaza mehrfach am Rande einer Hungersnot stand – und dass alle so besessen von Lebensmitteln sind, dass niemand mehr über einen Waffenstillstand spricht.
„Mir war nicht klar, wie sehr Essen dein Wesen, dein Temperament, deine Weltanschauung und dich selbst kontrolliert“, sagt meine Freundin. „Es ist wirklich zutiefst erschütternd, wenn man nicht weiß, was man als nächstes isst und wann.“
Hungersnot. Die derzeitigen Bombardierungen und Tötungen. Die Zustimmung zu einer Ausweitung des Krieges. Das Versprechen, Gebiete zu erobern und zu halten. Das Versprechen von Premierminister Benjamin Netanjahu, die Bevölkerung umzusiedeln.
„Bei all den Nachrichten bekommt man eine Gänsehaut“, schreibt ein anderer INARA-Kollege aus Gaza-Stadt. „Jeder hat Angst vor einer weiteren Umsiedlung. Es ist ein psychologischer Krieg, ein Krieg gegen unsere Psyche, gegen das, was von ihr übrig ist. Es ist, als ob sie sehen, dass wir uns gerade noch so halten können, und nun wollen sie uns den Todesstoß versetzen.“

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