Befürchtungen, dass die „vorübergehende“ Waffenstillstandslinie in Gaza zu einer dauerhaften neuen Grenze werden könnte, mehren sich
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- 30. Okt.
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Von der IDF angebrachte gelbe Markierungen verfestigen die Teilung des Gazastreifens in zwei Teile, während die Hoffnungen auf eine nächste Phase des Waffenstillstands schwinden.
Von Seham Tantesh und Julian Borger, The Guardian, 26. Oktober 2025
(Originalbeitrag in englischer Sprache und dazugehörendem Kartenmaterial)
Die angeblich vorübergehende gelbe Linie, die den Waffenstillstand in Gaza markiert, nimmt zunehmend konkrete Formen an, da die prekäre Waffenruhe Anzeichen einer Stagnation zeigt, was dramatische Folgen für die Zukunft Palästinas haben könnte.
Truppen der israelischen Streitkräfte haben begonnen, alle 200 Meter gelbe Betonmarkierungen zu installieren, um das Gebiet abzugrenzen, das während der ersten Phase des Waffenstillstands unter israelischer Kontrolle bleibt.
Die Linie teilt Gaza ungefähr in zwei Hälften. Im westlichen Teil versucht die Hamas, ihre Kontrolle in dem Vakuum, das durch den teilweisen Rückzug Israels entstanden ist, wiederherzustellen, indem sie öffentliche Hinrichtungen von rivalisierenden Milizen oder Bandenmitgliedern durchführt, von denen sie sagen, dass sie von Israel unterstützt werden.
In der anderen Hälfte des Gazastreifens, die den östlichen Streifen sowie die nördliche und südliche Grenze umfasst, hat die IDF zahlreiche Militärposten verstärkt und schießt auf jeden, der sich der Linie nähert, unabhängig davon, ob diese mit gelben Blöcken markiert ist oder nicht.
„In unserer Gegend sind die gelben Linien nicht klar sichtbar. Wir wissen nicht, wo sie beginnen und wo sie enden. Ich glaube, an anderen Orten sind sie deutlicher zu erkennen, aber hier ist nichts klar definiert“, sagt Mohammad Khaled Abu al-Hussain, ein 31-jähriger Vater von fünf Kindern. Das Haus seiner Familie befindet sich in al-Qarara, nördlich von Khan Younis und östlich der gelben Linie, in der von der israelischen Armee kontrollierten Zone.
„Sobald wir uns unseren Häusern nähern, fliegen Kugeln aus allen Richtungen auf uns zu, und manchmal schweben kleine Drohnen, sogenannte Quadcopter, über uns und beobachten jede unserer Bewegungen“, berichtet er. „Gestern war ich mit meinem Freund unterwegs, als wir plötzlich unter schweren Beschuss gerieten. Wir warfen uns zu Boden und blieben dort liegen, bis die Schüsse aufhörten. Ich konnte mein Haus nicht erreichen. Für mich fühlt es sich so an, als wäre der Krieg noch nicht wirklich vorbei. Was bringt ein Waffenstillstand, wenn ich immer noch nicht nach Hause zurückkehren kann?“
Er fügt hinzu: „Es bricht mir das Herz, wenn ich Menschen auf meinem Weg nach Hause sehe, während ich zwischen Hoffnung und Angst hin- und hergerissen bin. Aber was mich am meisten beunruhigt, ist der Gedanke, dass diese Grenze bestehen bleiben könnte und dass keine Entscheidung jemals unsere Rückkehr ermöglichen wird.“
Israel beharrte am Sonntag darauf, dass es die Kontrolle über die Sicherheit in Gaza behalten werde. Premierminister Benjamin Netanjahu erklärte gegenüber seinen Ministern, dass Israel selbst entscheiden werde, wo und wann es seine Feinde angreifen werde und welche Länder Truppen zur Überwachung des Waffenstillstands entsenden dürften.
„Israel ist ein unabhängiger Staat. Wir werden uns mit unseren eigenen Mitteln verteidigen und weiterhin über unser Schicksal selbst bestimmen“, sagte er. „Wir brauchen dafür keine Zustimmung von irgendjemandem. Wir kontrollieren unsere Sicherheit.“
Die Politik des freien Schießens entlang der Grenze – angeordnet vom israelischen Verteidigungsminister Israel Katz – folgt auf einen Angriff am Sonntag, dem 19. Oktober, in der südlichen Stadt Rafah, bei dem zwei israelische Soldaten getötet wurden.
Zwei Wochen nach Beginn des Waffenstillstands werden immer noch durchschnittlich mehr als 20 Palästinenser*innen pro Tag getötet, viele davon in der Nähe der Gelben Linie. Folglich kehren nur sehr wenige der Vertriebenen in das von Israel kontrollierte Gebiet zurück.
Die politischen Hürden für den Übergang zur zweiten Phase des Waffenstillstands, in der die Hamas entwaffnet und durch eine multinationale Stabilisierungstruppe ersetzt würde und die israelische Armee sich von der Gelben Linie auf Positionen näher an der Grenze zum Gazastreifen zurückziehen würde, sind nach wie vor immens. Der rechte Flügel der Regierungskoalition von Premierminister Benjamin Netanjahu lehnt einen weiteren Rückzug und die Internationalisierung der Kontrolle über den Gazastreifen vehement ab. In dieser Pattsituation nimmt die Gelbe Linie immer mehr eine dauerhafte Form an und wird in den israelischen Medien zunehmend als „neue Grenze” bezeichnet.
In der Zeitung Yedioth Ahronoth prognostizierte der Militärkorrespondent Yoav Zitun, dass sich die Gelbe Linie zu „einer hohen und hochentwickelten Barriere entwickeln könnte, die den Gazastreifen verkleinert, den westlichen Negev vergrößert und den Bau israelischer Siedlungen dort ermöglicht”.
„Es sieht nach einer de facto schleichenden Annexion des Gazastreifens aus”, sagte Jeremy Konyndyk, Präsident der Interessenvertretung Refugees International und ehemaliger US-Entwicklungshelfer.
Gemäß den Bedingungen des von den USA vermittelten Waffenstillstands, der am 10. Oktober in Kraft trat, würde der Rückzug der israelischen Armee zur gelben Linie dazu führen, dass sie 53 Prozent des Gazastreifens besetzt hält. Eine Satellitenanalyse der BBC der neuen gelben Markierungen deutete jedoch darauf hin, dass diese mehrere hundert Meter hinter der vorgeschlagenen Linie angebracht worden waren, was eine weitere erhebliche Landnahme darstellt.
Ein Sprecher der israelischen sagte, es gebe keinen offiziellen Kommentar zu dem BBC-Bericht. In einer früheren Erklärung der Armee hieß es lediglich, dass mit der Markierung der gelben Linie durch eine „3,5 Meter hohe Betonbarriere mit einem gelb gestrichenen Pfosten” begonnen worden sei, um „taktische Klarheit vor Ort zu schaffen”.
Deutlich wird eine immer schärfere Teilung des Gazastreifens, wobei der Großteil der 2,1 Millionen überlebenden Einwohner*innen auf der Hälfte des Territoriums zusammengepfercht ist, inmitten der Trümmer, die zwei Jahre israelischer Bombardements hinterlassen haben.
„Die gelbe Linie verläuft, soweit uns gesagt wurde, etwa 1 km hinter der Salah-al-Din-Straße“, sagte Ayman Abu Mandeel und bezog sich dabei auf die Hauptverkehrsstraße, die von Süden nach Norden durch die Mitte des Gazastreifens verläuft. Abu Mandeel ist 58 Jahre alt und hat neun Kinder. Die Überreste seines Hauses befinden sich im östlichen Teil von al-Qarara, aber er hat wenig Hoffnung, bald dorthin zurückkehren zu können. „Die israelische Armee hat dort Kräne, Wachtürme und Panzer aufgestellt. Sie überwachen jede Bewegung und schießen auf jeden, der sich nähert.“
Die Ursache für die anhaltende Spaltung und Gewalt liegt in der Unklarheit des Waffenstillstands. Der „Trump-Friedensplan“ bestand aus einer Liste von 20 Grundsätzen und Zielen, jedoch ohne Reihenfolge oder Sinnzusammenhang, wie ein Ziel auf das andere folgen könnte.
„Er ist unglaublich vage“, sagte Rohan Talbot, Direktor für Advocacy und Kommunikation der Wohltätigkeitsorganisation Medical Aid for Palestinians. „Wir befinden uns derzeit in einer Situation, in der viele verschiedene Akteure, darunter natürlich die israelische Regierung, die Amerikaner, die internationale Gemeinschaft und humanitäre Akteure, darum wetteifern, die nächsten Schritte zu interpretieren und zu beeinflussen. Eine der Leitprinzipien, die wir aus jahrzehntelanger bitterer Erfahrung lernen sollten, ist, dass alles, was in den besetzten palästinensischen Gebieten nur vorübergehend ist, sehr schnell dauerhaft wird.“
Der Status quo verhindert derzeit, dass mindestens die Hälfte der Bevölkerung Gazas nach Hause zurückkehren oder auch nur an den Wiederaufbau denken kann. Die durch den Waffenstillstand geweckten Hoffnungen schwinden rapide.
„Jedes Mal, wenn wir versuchen, uns unserem Zuhause zu nähern, sehen wir neue Zerstörungen, neue Bombardierungen und neue Vorstöße von Militärfahrzeugen. Der Beschuss durch Artillerie, Panzer und Drohnen hat nicht aufgehört, als ob der Krieg nie zu Ende gegangen wäre“, sagte Salah Abu Salah aus Abasan al-Kabira im Osten von Khan Yunis, das sich nun auf der „falschen“ Seite der gelben Linie befindet. „Ich kann mich der Befürchtung nicht erwehren, dass die Armee nun neue Grenzen errichten wird, die wir nie wieder überschreiten dürfen.“




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