Beide Seiten der Debatte um den Sde Teiman-Leak spiegeln den moralischen Verfall Israels wider
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Die oberste Juristin der israelischen Armee wird wegen ihrer Rolle in einem Skandal, der die Nation gespalten hat, verfolgt. Ihre Mitschuld am Völkermord bleibt unerwähnt.
Von Ori Goldberg, 972Mag, 7. November 2025
(Originalbeitrag in englischer Sprache: https://www.972mag.com/sde-teiman-leak-military-advocate-general/)
Die jüdisch-israelische Öffentlichkeit ist derzeit mit einem Skandal beschäftigt, der sich um ein durchgesickertes Video dreht, in dem israelische Gefängniswärter einen palästinensischen Gefangenen im Sde Teiman-Gefängnis vergewaltigen. Doch wie es für das heutige Israel typisch ist, richtet sich die Empörung der Öffentlichkeit nicht gegen die Gräueltat selbst, sondern gegen die Veröffentlichung des Videos.
Im Mittelpunkt der Affäre steht die oberste Juristin der israelischen Armee, Militärstaatsanwältin Yifat Tomer-Yerushalmi. Nachdem der Generalstaatsanwalt der Regierung letzte Woche eine Untersuchung der Veröffentlichung angekündigt hatte, wurde Tomer-Yerushalmi von ihrem Amt suspendiert. Zwei Tage später trat sie zurück und gab in ihrem Rücktrittsschreiben zu, persönlich an der Weitergabe des Filmmaterials an die Medien beteiligt gewesen zu sein.
Der Clip wurde im August 2024 von Guy Peleg, dem Rechtskorrespondenten der meistgesehenen Nachrichtensendung Israels auf Kanal 12, veröffentlicht, dem Tomer-Yerushalmi das Video wahrscheinlich zugespielt hatte. Als sie später mit der Untersuchung der Indiskretion beauftragt wurde, soll sie angeblich über ihre eigene Beteiligung gelogen haben.
Der Fall nahm am Sonntag eine düstere Wendung, als Tomer-Yerushalmi für mehrere Stunden verschwand. Die Polizei fand ihr Auto verlassen in der Nähe einer Bank nördlich von Tel Aviv, was Befürchtungen eines Selbstmordversuchs aufkommen ließ. Später am Abend tauchte sie ohne ihr Handy wieder auf und wurde in Polizeigewahrsam genommen. Am 7. November wurde Tomer-Yerushalmis Handy an einem Strand in Tel Aviv gefunden, woraufhin sie aus der Haft entlassen und zu zehn Tagen Hausarrest verurteilt wurde.
Diese Geschichte beherrschte in den letzten Tagen die Schlagzeilen in Israel. Neben den dramatischen Berichten über die Übernahme New Yorks durch einen „Judenhasser“ hat sie alle verbleibenden Diskussionen über die Ereignisse in Gaza fast vollständig verdrängt – wo trotz der anhaltenden Besatzung durch die Armee und regelmäßiger Bombardierungen unter den Israelis wenig Interesse an einer weiteren Berichterstattung besteht, nachdem der „Krieg“ nun vorbei ist.
Jetzt, da die Hamas in den 42 Prozent des Gazastreifens, die nicht unter israelischer Militärkontrolle stehen, wieder an Macht gewinnt und die wenigen überlebenden Geiseln nach Hause zurückgekehrt sind, kann sich die israelische Gesellschaft wieder in ihre Blase der Selbstbezogenheit zurückziehen. Für die meisten Israelis verblasst der Völkermord schließlich vor dem einzigen, was wirklich zählt: den internen Streitigkeiten über das „Herz und die Seele“ des jüdischen Staates.
Zwei Narrative, ein eklatanter blinder Fleck
In den letzten zwei Jahren hat Generalmajorin Tomer-Yerushalmi – die für alle internen Ermittlungen und die Rechtsdurchsetzung in der israelischen Armee zuständige Beamtin – fast vollständig darauf verzichtet, die unzähligen, gut dokumentierten Vorwürfe gegen Soldat*innen zu untersuchen. Das Verbrechen der Wachen von Sde Teiman, das in dem durchgesickerten Video festgehalten wurde, war jedoch offenbar so eklatant und grotesk, dass die Behörden keine andere Wahl hatten, als Anklage zu erheben.
Als die israelische Militärpolizei in Sde Teiman eintraf, um die Verdächtigen festzunehmen, wurden sie jedoch von rechtsgerichteten Randalierern und Soldaten empfangen, darunter mehrere Mitglieder der Knesset, die sich hinter ihrer Immunität versteckten. Sie versuchten, die Festnahmen zu verhindern, und beharrten darauf, dass die Täter nichts Unrechtes getan hätten und dass ihre Handlungen lediglich Teil der israelischen Kriegsanstrengungen seien.
Tomer-Yerushalmi veröffentlichte das Video der Vergewaltigung kurz darauf, und es verbreitete sich schnell im Internet. Die Proteste rechtsgerichteter Israelis zur Unterstützung der Täter nahmen daraufhin zu. Doch während viele Menschen weltweit entsetzt über diese Proteste waren, die man nur als „Proteste für das Recht auf Vergewaltigung” bezeichnen kann, geriet die Diskussion in Israel schnell zugunsten der täglichen Nachrichten über „Erfolge” an der Grenze zu Gaza in den Hintergrund. Der Fall geriet für Monate weitgehend in Vergessenheit, bis letzte Woche die Untersuchung der Veröffentlichung des Videos angekündigt wurde.
Im Allgemeinen haben jüdische Israelis auf diese ungewöhnliche Geschichte auf zwei Arten reagiert. Die erste Reaktion kommt von der rechten Seite und wird Amerikaner*innen bekannt vorkommen, die sich an den Diskurs von Stephen Miller, Steve Bannon und Präsident Donald Trump selbst gewöhnt haben. Dieser Erzählung zufolge war die Generalstaatsanwältin der Militärjustiz ein Rädchen im Getriebe des israelischen Deep State: einer allmächtigen linken Verschwörungsgruppe, die darauf aus ist, „woke Werte“ durchzusetzen und ihre eigenen Privilegien zu schützen.
In der israelischen Version der Verschwörungstheorie besteht eines der Ziele des Deep State darin, den jüdischen Charakter des Staates zu zerstören, unter anderem indem Israel in den Augen der Welt als unmoralisch und gesetzlos dargestellt wird. Dieser Logik zufolge versuchte die Militärstaatsanwältin, dieses Ziel zu erreichen, indem sie ihre „Handlanger” anwies, das Video des Missbrauchs zu manipulieren – eine Behauptung, die offensichtlich falsch ist – und es dann zu veröffentlichen.
Die zweite häufige Reaktion auf den Skandal kommt von liberalen Israelis, die schon lange vor dem Völkermord im Gazastreifen gegen Premierminister Benjamin Netanjahu und seine Justizreform protestiert haben. Es überrascht nicht, dass sie fast genau das Gegenteil von dem behaupten, was die Rechte behauptet: Netanjahu und seine Handlanger seien es, die die Israelis einer Gehirnwäsche unterzogen und das Land gekapert hätten. Netanjahu sei schuld an Israels skandalöser Reaktion auf den Angriff der Hamas am 7. Oktober und setze alle seine Ressourcen ein, um die israelische Demokratie zu stürzen und sein politisches Überleben zu sichern.
Ihrer Ansicht nach war es gerechtfertigt, dass Tomer-Yerushalmi das Filmmaterial über die Misshandlungen in Sde Teiman veröffentlicht hat, da es sonst von Netanjahu oder denen, die ihn in Schutz nehmen wollen, unterdrückt worden wäre und die Vergewaltiger ungestraft davongekommen wären. Zwar hat sie gelogen, aber sie handelte im Dienste des übergeordneten Ziels, die Rechtsstaatlichkeit und die moralische Stellung Israels zu bewahren.
„Nicht nur [Tomer-Yerushalmi] wurde an den Rand des Selbstmords getrieben, sondern auch alles, wofür sie steht, nämlich Recht und Gerechtigkeit in Israel, war in Gefahr“, schrieb der israelische Autor Dror Burstein diese Woche in Haaretz. „Ihre Erfahrung schreit uns an, denn an einem Ort, an dem Böses und Lügen zur Norm werden, gibt es keinen Platz mehr für Gerechtigkeit und Wahrheit, keinen Platz mehr für das Gesetz und für Anwälte.“
Vielleicht ist Ihnen aufgefallen, dass in beiden oben genannten Darstellungen eines fehlt: der Völkermord selbst. Der ersten Erzählung zufolge kann Israel keinen Völkermord begehen – tatsächlich wäre es am 7. Oktober selbst fast Opfer eines Völkermords geworden, hätte es nicht seine eigene militärische Überlegenheit gegeben. Und wenn es darum geht, „den Feind zu bekämpfen“, haben die Israelis das Recht, alles zu tun, was sie wollen, einschließlich der Misshandlung der „Terroristen“, die sich in israelischer Gefangenschaft befinden.
Auch für Netanjahus liberale Kritiker*innen spielt der Völkermord keine Rolle. Für sie ist die Generalstaatsanwältin der Militärjustiz die verwundete Seele von Recht und Gerechtigkeit. Die Tatsache, dass ihre Behörde seit zwei Jahren praktisch unbegrenzte rechtliche Unterstützung für einen gut dokumentierten Völkermord leistet, ist offenbar ohne Bedeutung. Der Krieg in Gaza sei eine Notwendigkeit gewesen, argumentieren sie, und war sicherlich kein Völkermord. Was hätten wir denn sonst tun sollen, nachdem wir so brutal angegriffen worden waren?
Auf dieser grundlegenden Ebene sind sich die große Mehrheit der jüdischen Israelis einig. Die Vernichtung Gazas ist eindeutig notwendig gewesen. Die Israelis hatten das Recht, sich zu verteidigen, und dieses Recht hat kein Ablaufdatum. Alles, was Israel als „defensiv“ bezeichnet, ist legitim, von der Bombardierung des Libanon und Syriens bis hin zur täglichen Verletzung des „Waffenstillstands“. Wenn wir nicht entscheiden können, wann wir uns bedroht fühlen, wie können wir uns dann sicher fühlen? Wir wären fast Opfer eines Völkermords geworden!
Der Abgrund starrt zurück
Vor allem aber macht der Skandal um die Generalstaatsanwältin des Militärs deutlich, dass Moral in einer genozidalen Gesellschaft jegliche Bedeutung verloren hat. Die Gefängniswärter misshandelten den palästinensischen Gefangenen. Sie taten dies, weil ihnen absolute Macht über sein Leben und seinen Tod gegeben wurde, die sie gerne ausübten.
Tomer-Yerushalmi wurde auf die Existenz des Videos aufmerksam gemacht, das die Gräueltat zeigt. Sie mag empört gewesen sein, aber sie war mehr um die Sicherheit „ihrer Leute” im Militärstaatsanwaltschaftskorps besorgt als um das Verbrechen selbst. Da sie wusste, dass die Rechte sie und ihre Kolleg*innen jagen würde, gab sie das Video schnell an einen bekannten Nachrichtenkorrespondenten weiter und machte so dessen Existenz bekannt, bevor es diskreditiert werden konnte.
Tomer-Yerushalmi hatte in den letzten zwei Jahren unzählige Gelegenheiten, andere Kriegsverbrechen israelischer Soldaten zu untersuchen und ans Licht zu bringen, und sei es nur, um das Argument Israels vor dem Internationalen Strafgerichtshof zu stützen (nämlich, dass wir selbst Ermittlungen durchführen, sodass Sie dies nicht tun müssen). Sie tat es nicht.
Dieses Mal wusste sie, dass es politisch werden würde, also hatte sie es eilig. Sie hatte das Gefühl, ihre Gegner*innen mit ihren eigenen Waffen geschlagen zu haben, und wagte es, über die undichte Stelle zu lügen. Sie wurde aufgedeckt. Sie erkannte, welchen Schaden dies „ihren Leuten” und ihr selbst zufügen würde. Einigen Berichten zufolge dachte sie über Selbstmord nach.
Je nach Sichtweise handelte es sich um einen Konflikt im Stil der Mafia oder um ein Stück politisches Theater. Moral spielte dabei keine Rolle. Wenn man zwei Jahre lang einen Völkermord zulässt, ist die eigene Moral nur noch eine leere Hülle. Aber der Völkermordwahn gibt sich nie mit seinen ursprünglichen Opfern zufrieden, sondern richtet sich immer auch gegen die Völkermörder selbst.
Ori Goldberg ist ein unabhängiger israelischer Analyst und Kommentator. Er hat einen Doktortitel in Nahoststudien und hat an Universitäten weltweit gelehrt und Vorträge gehalten. Er ist Autor von vier Büchern über das revolutionäre Denken der Schiiten im Iran.




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