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Der Geruch von Tod und Blut weht durch das Lager Jabalia

Im nördlichen Gazastreifen müssen die Palästinenser nach einem israelischen Angriff eine unmögliche Entscheidung treffen: die Verwundeten dem Tod überlassen oder ihr Leben riskieren, um sie zu retten.


Von Ibrahim Mohammad/ 972Mag, 29. Mai 2024


(Originaltext in englischer Sprache)

 

Am Morgen des 11. Mai gab ein Sprecher der israelischen Armee bekannt, dass das Militär eine neue Operation in Jabalia, der Stadt und dem angrenzenden Flüchtlingslager im nördlichen Gazastreifen, begonnen hat.  An die palästinensischen BewohnerInnen mehrerer Stadtteile wurden Evakuierungsanordnungen ausgegeben, aber viele waren gar nicht in der Lage, die Stadt zu verlassen; andere wiederum entschieden sich zu bleiben, da es im gesamten Gazastreifen keine sicheren Gebiete gibt.

Die nördliche Hälfte des Streifens wurde in den ersten Wochen des Krieges von der israelischen Armee am stärksten bombardiert und war am 27. Oktober die erste Region des Gazastreifens, die von der israelischen Bodeninvasion betroffen war. Im März befand sich der Norden in Phase 5 der Hungersnot - der höchsten Stufe der Integrierten Klassifizierung der Ernährungssicherheit, die als „Katastrophe“ bezeichnet wird. Fast keine humanitäre Hilfe erreicht die Bewohner des Nordens, und schätzungsweise ein Drittel aller Kinder unter zwei Jahren leidet dort an akuter Unterernährung.


Am schlimmsten ist die Lage vielleicht im Flüchtlingslager Jabalia, dem größten im Gazastreifen, in dem vor dem Krieg über 100.000 Palästinenser auf einer Fläche von nur 1,4 Quadratkilometern lebten. Wahllose israelische Angriffe in einer so dicht besiedelten Region haben daher massive tödliche Auswirkungen. Im Oktober wurden zwei 2.000-Pfund-Bomben auf Jabalia abgeworfen, die mindestens einhundert Menschen töteten. Weniger als zwei Monate später forderte ein weiterer Angriff einen ähnlich hohen Tribut. Und allein in den letzten zwei Wochen haben israelische Bomben Wohnhäuser, einen Kindergarten und die Notaufnahme eines Krankenhauses zerstört.


Der jüngste israelische Angriff auf das Lager, an dem sowohl Flugzeuge als auch Bodentruppen beteiligt waren, hatte verheerende Folgen: Die Armee hat ganze Wohnviertel, Märkte und Lebensmittellager bombardiert und mit Bulldozern niedergewalzt, wodurch sich die ohnehin schon verzweifelte humanitäre Krise weiter verschärft hat, während die Leichen auf den Straßen verstreut liegen.


Sabri Abu Al-Nasr, 43 Jahre alt, ist ein Bewohner des Lagers, der vor den israelischen Bombenangriffen in die Al-Fakhoura-Schule geflüchtet ist, die der UNRWA angegliedert ist. „Die Bedingungen im Lager sind schrecklich, und niemand wird von den Artillerie- und Luftangriffen verschont“, sagte er gegenüber +972. „Israelische Scharfschützen befinden sich auf hohen Gebäuden - sie schießen auf jedes sich bewegende Objekt.“


„Als der israelische Angriff begann“, fuhr er fort, „erwachte das Lager vom Lärm riesiger Explosionen. Der Himmel war durch die Intensität des Beschusses mit schwarzem Rauch gefüllt, und die BewohnerInnen flohen, um zu entkommen.“


Am 29. Oktober verlor Abu al-Nasr seine Frau Nisreen (40) und seine Kinder Nisma (16), Hamza (14) und Mohammad (13), als Israel einen an das Haus der Familie angrenzenden Wohnblock bombardierte. Ihre Leichen sind noch immer unter den Trümmern begraben, so dass Abu al-Nasr seine Angehörigen nicht angemessen beerdigen kann. Sieben Monate später, inmitten eines neuen israelischen Angriffs, sagt er, dass „der Geruch von Tod und Blut durch das ganze Lager weht“.


Abu al-Nasr lebt mit seinen überlebenden Familienmitgliedern zusammen, die sich wie Zehntausende andere weigern, Jabalia zu verlassen, obwohl sie ständig krank sind und es kein sauberes Trinkwasser gibt. „Wir können nicht ertragen, was jetzt mit uns geschieht“, sagte er.


Der Klang von Lachen wurde durch den Klang von Raketen ersetzt


Nazmi Hijazi, ein Bewohner der Al-Hoja-Straße in Jabalia, war gezwungen, sein Haus unter heftigem Bombardement zu verlassen, als israelische Militärfahrzeuge auf sein Haus zufuhren; er kam daraufhin im Jemen-Krankenhaus westlich des Flüchtlingslagers unter.


Hijazi beschrieb die Geschehnisse in Jabalia als eine zweite Nakba [arabisch für Katastrophe], da die Straßen des Lagers mit Toten und Verwundeten übersäht sind und niemand in der Lage ist, die Leichen zu bergen oder die Überlebenden zu retten. Nach einem Bombenanschlag oder einer Schießerei stehen die BewohnerInnen vor einer unmöglichen Entscheidung: Sie müssen die Verwundeten entweder dem Tod überlassen oder ihr eigenes Leben riskieren, indem sie versuchen, sie zu retten.


„Es gibt keinen sicheren Ort in Jabalia“, sagte Hijazi gegenüber +972. „Es gibt keine Schule und kein Krankenhaus, das die Armee eingenommen hat, ohne es zu stürmen und wehrlose Zivilisten anzugreifen.“

Am 17. Mai wurde Hijazis Sohn Basil von israelischen Soldaten erschossen, als er versuchte, Lebensmittel aus ihrem Haus zu holen, um die achtköpfige Familie zu ernähren. Nach Angaben von Hijazi überfuhr ein israelischer Panzerwagen seinen Sohn, bis seine Gesichtszüge nicht mehr erkennbar waren. Hijazi konnte ihn nur noch an den Schuhen erkennen, die er trug.


Wie alle Menschen in Jabalia konnten auch Hijazi und seine Familie nicht richtig trauern: Sie leiden immer noch unter brutalem Hunger und Durst und müssen sich darauf konzentrieren, das Nötigste aufzutreiben. „Die Bewohner haben sich mit Tier- und Vogelfutter ernährt, aber selbst das ging zur Neige, als das israelische Militär in das Lager eindrang und es umzingelte“, sagt er. Die meisten Familien haben seit über einer Woche kein Mehl, Brot, Weizen oder sogar Gerste mehr gegessen.


Da Israel den Zugang für humanitäre Hilfe im nördlichen Gazastreifen blockiert, sind palästinensische Kinder am stärksten betroffen. Nisreen Abu Al-Aish, 37, war gezwungen, aus Hibiskus, einer in der Nähe wachsenden Pflanze, eine Suppe zu kochen, um ihre Kinder mit Mittagessen zu versorgen. Sie flüchtete mit ihrer Familie in die Abu-Hussein-Schule, die ebenfalls der UNRWA angegliedert ist. Ihre beiden Kinder haben Hepatitis-Symptome, eine Krankheit, die unter den Bewohnern des Gazastreifens immer häufiger auftritt und auf schlechte Ernährung und Hygiene zurückzuführen ist.


„Wir sind umzingelt“, sagte Abu al-Eish. „Die Bombardierung hört nicht auf, also verlassen wir den Schulunterstand nicht. Wir haben Angst, dass wir jeden Moment getötet werden“. Dieser Zustand des Terrors hat auch ihre Kinder erfasst: „Der Klang ihres Lachens wurde durch den Klang der Bomben und Raketen ersetzt, die auf das Lager niedergingen.“


Für Sami al-Batsh, 41, ist der Tribut der Invasion auch für seine Kinder besonders schwer. „Wir können wegen der Bombardierung nicht schlafen und haben Angst, dass die Armee plötzlich unser Haus stürmen könnte“, sagte er gegenüber +972. „Meine Kinder leiden unter schrecklichen psychischen Problemen. Einige von ihnen leiden unter unwillkürlichem Harndrang, weil sie so große Angst haben, und sie haben oft mehrere Tage am Stück nichts gegessen.“


Abu al-Eish, die Mutter von zwei Kindern, beschrieb Jabalia als ein Flüchtlingslager, das nicht mehr bewohnbar ist. „Die Armee zerstört systematisch alle Häuser in Jabalia“, sagte sie, „so dass das Lager wie eine Geisterstadt geworden ist: ohne Bewohner und nur mit zerstörten Häusern.“ Und für diejenigen, die übrig bleiben, prophezeite Al-Batsh, „wer nicht an Hunger stirbt, wird von den Bomben getötet“.


Ibrahim Mohammad ist ein unabhängiger palästinensischer Journalist aus Gaza-Stadt, der über humanitäre und soziale Themen berichtet. Er hat einen BA-Abschluss in Journalismus und Medien der Al-Aqsa-Universität.


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