Der jüdische Staat baut ein Ghetto
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- 15. Juli
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Von Gideon Levy, Haaretz, 10. Juli 2025
(Originalbeitrag in englischer Sprache)
Wenn Mordechai Anielewicz heute noch leben würde, dann wäre er gestorben. Der Anführer der Jüdischen Kampforganisation während des Aufstands im Warschauer Ghetto wäre vor Scham und Schande gestorben, als er von den Plänen des israelischen Verteidigungsministers hörte – mit voller Rückendeckung des Premierministers –, im südlichen Gazastreifen eine "humanitäre Stadt" zu errichten. Anielewicz hätte nie geglaubt, dass es jemand 80 Jahre nach dem Holocaust wagen würde, einen solch grausamen Plan zu schmieden.
Wenn er gehört hätte, dass die Regierung des jüdischen Staates, der auf den Opfern seines Ghettos aufbaut, diesen Plan ins Auge gefasst hat, wäre er am Boden zerstört gewesen. Nachdem ihm klar geworden wäre, dass Israel Katz, jener Mann, der diese Idee vorbrachte, der Sohn der Holocaust-Überlebenden Meir Katz und Malcha (Nira) geb. Deutsch aus der rumänischen Maramures-Region war, die den größten Teil ihrer Familie in den Vernichtungslagern verloren hatten, dann hätte er das nie geglaubt. Was hätten sie ihrem Sohn heute zu sagen?
Wenn Anielewicz sich der Gleichgültigkeit und Untätigkeit bewusst geworden wäre, die der Plan in Israel und in gewissem Maße in der ganzen Welt, vor allem in Europa und sogar in Deutschland, auslöst, dann wäre er ein zweites Mal gestorben, diesmal an einem gebrochenen Herzen.
Der jüdische Staat errichtet ein Ghetto. Was für ein erschreckender Satz. Schlimm genug, dass der Plan so dargestellt wurde, als ob er in irgendeiner Weise legitim sein könnte – wer ist für ein Konzentrationslager und wer dagegen? – aber von dort aus könnte der Weg zu einer noch schrecklicheren Idee abgekürzt werden: Jemand könnte als Nächstes ein Vernichtungslager für diejenigen vorschlagen, die den Kontrollprozess am Eingang des Ghettos nicht überstehen. Israel tötet die Bewohner*innen des Gazastreifens ohnehin massenhaft, warum also nicht den Prozess rationalisieren und das Leben unserer wertvollen Soldaten schonen? Jemand könnte auch ein kompaktes Krematorium auf den Ruinen von Khan Yunis vorschlagen, zu dem der Zutritt, wie zum nahe gelegenen Ghetto in Rafah, rein freiwillig sein wird. Natürlich freiwillig, wie in der „humanitären Stadt“. Nur das Verlassen der beiden Lager wird nicht mehr freiwillig sein. Das ist der Vorschlag des Ministers.
Es liegt in der Natur des Völkermordes, dass er nicht über Nacht entsteht. Man wacht nicht eines Morgens auf und wird von einer Demokratie zu Auschwitz, von der Zivilverwaltung zur Gestapo. Der Prozess ist schrittweise. Nach der Phase der Entmenschlichung – die sowohl die Juden und Jüdinnen in Deutschland als auch die Palästinenser*innen im Gazastreifen und im Westjordanland jeweils zu ihrer Zeit durchlaufen haben – folgt die Phase der Dämonisierung, die ebenfalls beide Völker durchlaufen haben. Dann kommt die Angstphase - es gibt keine Unschuldigen im Gazastreifen, der 7. Oktober ist eine existenzielle Bedrohung für Israel, die jederzeit wieder auftreten kann. Dann folgen die Aufrufe zur Evakuierung der Bevölkerung, bevor schlussendlich jemand auf die Idee kommt, sie auszurotten.
Wir befinden uns jetzt in dieser letzten Phase, der letzten Phase vor dem Völkermord. Deutschland verlegte seine jüdische Bevölkerung in den Osten; auch der Völkermord an den Armeniern begann mit einer Deportation, die damals „Evakuierung“ genannt wurde. Heute sprechen wir von einer Evakuierung in den Süden des Gazastreifens.
Jahrelang habe ich es vermieden, Vergleiche mit dem Holocaust anzustellen. Jeder derartige Vergleich lief Gefahr, die Wahrheit zu verfehlen und der Sache der Gerechtigkeit zu schaden. Israel war nie ein Nazi-Staat, und da diese Tatsache feststeht, folgt daraus, dass es, wenn es kein Nazi-Staat war, auch ein moralischer Staat sein muss. Man braucht nicht den Holocaust, um schockiert zu sein. Man kann von viel weniger schockiert sein, zum Beispiel von Israels Verhalten im Gazastreifen.
Aber nichts hat uns auf die Idee der „humanitären Stadt“ vorbereitet. Israel hat jegliches moralisches Recht verspielt, das Wort „humanitär“ zu verwenden. Wer den Gaza-Streifen zu dem gemacht hat, was er ist – ein Massenfriedhof und eine Trümmerwüste – und ihn mit Gleichgültigkeit behandelt, hat jeden Bezug zur Menschlichkeit verloren. Wer nur das Leid der israelischen Geiseln im Gazastreifen sieht und nicht erkennt, dass die israelischen Streitkräfte alle sechs Stunden so viele Palästinenser*innen töten, wie es lebende Geiseln gibt, hat seine Menschlichkeit verloren.
Wenn 21 Monate, in denen Babys, Frauen, Kinder, Journalist*innen, Ärzt*innen und andere Unschuldige getötet wurden, nicht schon genug sind, dann sollte spätestens der Ghetto-Plan alle Alarmsignale aufleuchten lassen. Israel verhält sich, als ob es einen Völkermord und eine Vertreibung plant. Und wenn es nicht gerade daran denkt, dies zu tun, hat es sich selbst in die ernste Gefahr gebracht, schnell und unwissentlich in das eine oder andere Verbrechen zu schlittern. Fragen Sie Anielewicz.
Gideon Levy ist ein israelischer Journalist und Mitglied des Herausgeberkreises der Tageszeitung Haaretz.




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