top of page

„Der Verlust von Bildung ist der Verlust der Zukunft selbst“: Kinder und Lehrer*innen sind in Gaza bereits seit über zwei Jahren ohne Schule

  • office16022
  • 28. Okt.
  • 8 Min. Lesezeit

Da 97 Prozent der Schulen zerstört oder beschädigt sind, haben 600 000 Kinder gerade ihr drittes Jahr ohne formale Bildung begonnen. Drei Schüler*innen und eine Lehrerin erzählen ihre Geschichten – und über ihre Hoffnungen.


Aufgezeichnet von Thaslima Begum, The Guardian, 19. Oktober 2025


(Originalbeitrag in englischer Sprache)

 

 

„Wir wollen kein Mitleid, wir wollen Taten sehen.“

Juwayriya Adwan, 12, al-Mawasi, Khan Younis

Es ist zwei Jahre her, seit ich das letzte Mal in einem richtigen Klassenzimmer war. Zwei Jahre, seit ich das letzte Mal die Morgenglocke der Khawla-Bint-al-Azwar-Schule gehört habe, an meinem Schreibtisch saß und in meiner Lieblingsstunde aufzeigte. Manchmal erinnere ich mich noch lebhaft an die Geräusche und Gerüche: Kreidestaub, Bleistiftspäne, Gelächter, das durch die Flure hallte. Aber meine Schule existiert nicht mehr; sie wurde kurz nach Kriegsbeginn von der israelischen Armee bombardiert. Meine Bücher wurden verbrannt, und einige meiner Freund*innen wurden getötet.

Am 7. Oktober war ich in der fünften Klasse: Es war der letzte Tag, an dem ich zur Schule ging. An diesem Morgen heulten Luftschutzsirenen durch die Flure. Einige Kinder weinten, andere hielten sich fest an den Händen. Unsere Lehrerin versuchte, uns zu beruhigen, aber sogar ihre Stimme zitterte. Ich erinnere mich, dass ich mir einen normalen Tag gewünscht habe: Unterricht, Pause, ein Gedichtvortrag. Stattdessen wurde dieser Tag zur letzten Seite meines alten Lebens.

Jetzt lebe ich mit meinen Eltern, zwei Brüdern und meiner Schwester in einer überfüllten Notunterkunft in al-Mawasi, Khan Younis. Die Zeltwände flattern im Wind und schützen weder vor Kälte noch vor Hitze. Wir stehen Schlange für Wasser und Essen. Strom ist ein Traum und Privatsphäre gibt es nicht. Die Hoffnung ist fragil.

Nachts schaue ich durch die Löcher in meinem Zelt zu den Sternen hinauf und frage mich, ob meine Freunde denselben Himmel sehen. Einige schreiben mir, wenn sie können, und sagen, dass sie die Schule vermissen und ihre alten Hefte aufbewahrt haben, wie Schätze aus einer verlorenen Welt. Ich fühle mich schuldig, weil ich meine alle verloren habe.

Früher träumte ich davon, Lehrerin zu werden, um den Kindern in Gaza beim Lernen zu helfen, auch wenn das Leben schwer war. Jetzt träume ich davon, Journalistin zu werden – um zu schreiben, zu sprechen und der Welt zu zeigen, was es bedeutet, ein Kind in Gaza zu sein. Ich möchte unsere Geschichten von Angst und Hunger erzählen, aber auch von Mut. Denn selbst hier, inmitten von Tod und Trümmern, weigern sich unsere Stimmen zu schweigen.

Wenn es Internet gibt, versuche ich, online zu lernen. Ansonsten gehe ich in ein kleines Zelt, wo Freiwillige uns Mathematik und Arabisch beibringen. Der Unterricht ist kurz – der Strom fällt aus oder die Luftangriffe beginnen wieder, aber in diesen Momenten fühle ich mich lebendig. Ich erinnere mich daran, wer ich war: das Mädchen, das Zahlen und Gedichte liebte und daran glaubte, dass Lernen die Welt verändern kann.

Der Krieg hat uns so viel genommen: unsere Häuser, Schulen und Familien. Ich habe meinen Onkel, seine Frau und meine Cousins und Cousinen verloren. Ich habe meine schöne Stadt Rafah verloren, die jetzt nur noch Trümmer ist. Aber der schwerste Verlust von allen ist die Bildung, denn das ist der Verlust der Zukunft selbst.

Der Welt sage ich: Lasst unsere Träume nicht sterben. Wir wollen kein Mitleid, wir wollen Taten. Die Kinder von Gaza verdienen Bücher, Schulen und Sicherheit. Bildung ist kein Luxus, sondern ein Grundrecht. Gaza ist nicht nur Zerstörung, es sind Kinder, die nachts unter den Drohnen noch immer träumen. Das ist meine Geschichte, und ich werde weiter schreiben, auch wenn mir nur noch ein zerbrochener Bleistift und ein Stück zerrissenes Papier bleiben.

. . . . . . . . . .

 

„Sie schreiben: ‚Geht es Ihnen gut, Frau Lehrerin?‘“

Naglaa Weshah, 40, Lehrerin im Lager al-Bureij, Gaza

Ich unterrichte seit mehr als einem Jahrzehnt in Gaza. Zuerst in Khan Younis, dann in Deir al-Balah und jetzt im Lager al-Bureij im zentralen Gazastreifen. Vor Kriegsbeginn unterrichtete ich sechs Klassen mit jeweils etwa 40 Schüler*innen, fast 240 junge Menschen, die begierig darauf waren, zu lernen.

Sie zu unterrichten war mein Lebensinhalt und meine Freude, und ich erinnere mich noch immer an das Leuchten in den Augen eines Schülers, wenn ihm ein neuer Gedanke klar wurde – ein Moment, für den jeder Lehrer und jede Lehrerin lebt.

Ich war immer davon überzeugt, dass Lernen voller Leben sein sollte. Mein Klassenzimmer war ein Ort des Spiels, der Kunst und der Bewegung. Wir malten Landkarten, spielten historische Ereignisse nach und verwandelten den Unterricht in Geschichten.

Lachen erfüllte immer den Raum, als Neugierde die Angst verdrängte. Ja, schon vor dem Krieg hatten die Kinder in Gaza immer Angst. Mein Klassenzimmer war ein Ort der Sicherheit, aber nach dem 7. Oktober änderte sich alles.

Meine Schule wurde zu einem Zufluchtsort für Familien, die vor den Bomben flohen. Bald wurde sie zum Ziel und vollständig zerstört. In Gaza gibt es kaum noch Schulen, die stehen geblieben sind. Seit zwei Jahren ist nichts mehr normal. Der Krieg hat jeden Teil unseres Lebens zerstört: Sicherheit, Häuser, Schulen, Träume. Angst und Trauer sind ständige Begleiter.

Viele meiner Schüler*innen sind jetzt tot - Kinder, die davon sprachen, Ärzt*innen, Künstler*innen oder Lehrer*innen zu werden. Ihnen wurde sogar das Recht auf Existenz verweigert. Diejenigen, die übrig geblieben sind, leben mit Hunger, Vertreibung und Erschöpfung - und dennoch halten sie an ihrem Willen zu lernen fest.

Manchmal, wenn das Internet es zulässt, höre ich von einigen von ihnen. Sie schreiben mir: „Geht es Ihnen gut, Frau Lehrerin?“ Wir tauschen kurze Worte, kurze Lektionen, kleine Funken der Verbindung inmitten des Chaos aus. Sie fragen, ob sich die Dinge jemals wieder normalisieren werden. Ich sage ihnen, dass ich es nicht weiß.

Überall in Gaza versuchen Lehrer*innen, Freiwillige und gemeinnützige Organisationen zu unterrichten, wo immer es möglich ist: in Zelten, beschädigten Klassenzimmern oder überfüllten Notunterkünften. Bildung ist zu einem Akt des Widerstands geworden, zu einer Möglichkeit zu sagen: „Wir sind immer noch hier.“ Und solange wir weiter lernen, werden wir bleiben.

Viele von uns sind auch Eltern. Ich bin Mutter von drei Kindern, und die Bildung meiner Kinder hat massiv sgelitten. Ihre Tage verbringen sie damit, für Wasser anzustehen, nach Nahrung zu suchen oder Brennholz zu sammeln. Ihre Kindheit wurde durch das Überleben ersetzt.

Ich erinnere sie daran, so wie ich auch meine Schüler*innen daran erinnere, dass Wissen Macht ist - und dass sie eines Tages in ihre Klassenzimmer zurückkehren werden.

Trotz unvorstellbarer Verluste glaube ich immer noch an die Kraft des Lernens. Ich träume von einem Tag, an dem die Schulen in Gaza wieder voller Lachen sind, an dem der Unterricht nicht mehr durch Bombenangriffe unterbrochen wird und an dem jedes Kind wieder an die Zukunft denken kann.

Bis dieser Tag kommt, werde ich weiter unterrichten, so gut ich kann – trotz Angst, trotz Trümmern und trotz Dunkelheit –, denn Bildung ist die einzige Hoffnung, die wir haben.

. . . . . . . . . . .  .

 

„Ich vermisse es, mich normal zu fühlen“

Sarah al-Sharif, neun Jahre alt, Gaza-Stadt

Ich war sieben, als der Krieg begann. An diesem Morgen, dem 7. Oktober, saß ich in meinem Klassenzimmer und lernte Mathematik. Ich erinnere mich, dass ich meinen Bleistift fest umklammerte, als die erste Explosion die Schule erschütterte. Mein Herz schien stehen zu bleiben.

Kurz darauf kam mein Vater, um mich nach Hause zu holen. Ich habe dieses Klassenzimmer nie wieder gesehen. Meine Schule ist für immer verschwunden. Die israelische Armee hat sie umzingelt, die Menschen angegriffen, die darin Schutz gesucht hatten, und sie vollständig zerstört. Auch mein Zuhause wurde bombardiert - all diese Orte sind jetzt nur noch Asche.

Wir sind während dieses Krieges so oft geflohen. Jetzt lebe ich mit meiner Familie in einer überfüllten Notunterkunft. Alles fühlt sich anders an: dunkler, stiller, leerer.

Das Geräusch von Kampfflugzeugen lässt mich zittern.

Wenn ich meine Augen schließe, sehe ich die Trümmer, den Rauch, die Gesichter meiner Klassenkamerad*innen, die jetzt nicht mehr da sind. Ich habe auch meine Mathematiklehrerin verloren – sie wurde zusammen mit ihrer Familie im Schlaf getötet. Ich habe Angst zu schlafen.

Früher habe ich Zahlen, Naturwissenschaften und Poesie geliebt, aber jetzt bin ich ständig müde und kann mich nur schwer konzentrieren. Manchmal starre ich meine alten Schulbücher an und fahre mit den Fingern über die Buchstaben, die ich vor langer Zeit geschrieben habe. Jetzt benutzen die Menschen Schulbücher, um Feuer zum Kochen zu machen und sich warm zu halten. Ich versuche, online zu lernen, wenn Strom und Internet funktionieren, aber das ist fast unmöglich.

Ich vermisse es, mich normal zu fühlen. Ich vermisse es, ein Kind und eine Schülerin zu sein. Ich bin zu jung, um eine Überlebende des Völkermords zu sein; wenn ich sterbe, möchte ich nicht so in Erinnerung bleiben.

Ich möchte wegen meiner Träume in Erinnerung bleiben. Ich wollte Ärztin werden, um Menschen zu heilen und ihnen Hoffnung zu geben. Aber ohne Schule scheint dieser Traum unerreichbar.

Der Krieg hat so viele Mauern in meinem Kopf errichtet. Vor zwei Monaten habe ich wegen der schweren Bombardierungen komplett aufgehört zu lernen. Es fühlt sich an, als wäre die Zeit stehen geblieben, als würde mir das, was von meiner Kindheit übrig geblieben ist, gestohlen werden.

Ich wünschte, die Welt würde uns – die Kinder von Gaza – nicht als Zahlen in den Nachrichten sehen, sondern als Kinder, die einfach nur lernen, spielen und leben wollen. Wir verdienen es, wie Kinder überall sonst auch zu träumen.

Ein palästinensischer Dichter hat einmal gesagt: „Wir sind ein Volk, das das Leben so sehr liebt, wie es nur kann.“ Ich wünschte nur, das Leben würde auch uns lieben.

            . . . . . . . . . . . . .

 

„Der Himmel über Gaza war nie ruhig.“

Ismail Muneifah, sieben Jahre alt, Kairo

Ich erinnere mich noch gut an meinen Kindergarten in Gaza mit seinen hellen, bunten Wänden, den Kisten voller Spielzeug und der Leseecke mit den vielen Büchern. Meine Lehrerin war sehr nett und half mir immer, wenn ich etwas nicht verstand.

Ich ging jeden Tag gerne dorthin, weil ich mit meinen Freund*innen spielen und lernen konnte. Jeden Morgen sangen wir mit der ganzen Klasse Lieder, und in der Pause baute ich Türme aus Bauklötzen und rannte draußen auf dem Spielplatz herum.

Ich lernte sehr gerne und kannte alle Buchstaben auswendig. Ich konnte es kaum erwarten, eines Tages meine eigenen Geschichten zu schreiben. Ich wollte meiner kleinen Schwester Sarah vorlesen, die jeden Morgen weinte, weil sie mit mir zur Schule gehen wollte, aber noch zu klein war.

Dann begann der Krieg und die Schule endete. Der Lärm von Explosionen erfüllte die Luft. Unser Haus in al-Maghazi wurde bombardiert und wir mussten fliehen. Meine Eltern ließen alles zurück: unsere Spielsachen, unsere Kleidung, sogar meine Lieblingsmalstifte. Als wir rannten, sah ich den Körper meines Freundes Ezzo auf der Straße liegen. Er war ein paar Jahre jünger als ich.

Mama sagte, wir würden nach Deir al-Balah ziehen, um in Sicherheit zu sein, aber auch dort war der Himmel nie ruhig. Ohne Schule gab es für mich nichts mehr zu tun. Langsam begann ich, Dinge zu vergessen – Wörter, Zahlen, sogar wie man meinen Namen ordentlich schreibt. Das machte mich traurig und wütend. Ich vermisste meine Freund*innen, meine Lehrerin und das Lernen neuer Dinge.

Meine Eltern waren ständig besorgt, und wir zogen immer wieder von einem Ort zum anderen.

Eines Tages sagte Mama, wir würden nach Ägypten ziehen, wo wir in Sicherheit wären. Die Reise dorthin war lang und wir warteten tagelang an der Grenze, müde und hungrig. Mama versuchte, stark zu bleiben, aber ich konnte ihre Angst sehen. Als wir ankamen, kam mir nichts bekannt vor. Alles war laut und neu. Wir hatten kein Zuhause, keine Freunde und keine Schule.

Als wir endlich eine Unterkunft gefunden hatten, fühlte sich das Leben sicherer an, aber nicht einfacher. Wir sind nun seit über einem Jahr in Ägypten, aber ich konnte immer noch nicht wieder zur Schule gehen. Meine Schwester Sarah ist jetzt alt genug, aber selbst sie kann nicht hingehen.

Jeden Morgen beobachten wir vom Fenster aus, wie ägyptische Kinder in ihren Uniformen und mit ihren Rucksäcken vorbeigehen. Wir möchten auch so sein wie sie.

Mama hat kürzlich von einer informellen Schule für syrische Flüchtlinge erfahren, die wir hoffentlich bald besuchen können, wenn auch nur für ein paar Stunden am Tag. Sie ist nicht anerkannt, und wir werden keine Zeugnisse bekommen wie in meiner alten Schule, aber es ist besser als nichts.

Wir sind so aufgeregt, und zum ersten Mal seit zwei Jahren spüre ich wieder Hoffnung.

. . . . . . . . . .


Thaslima Begum ist eine preisgekrönte Journalistin, die sich auf Frauen, Konflikte und Menschenrechte spezialisiert hat.


ree

Kommentare


bottom of page