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Der Völkermord in Gaza kostete einer palästinensischen Frau ihre Hände - Sie verlor so viel mehr als nur ihre Gliedmaßen

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  • vor 4 Tagen
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Ein israelischer Angriff auf ihre Unterkunft führte zur Amputation beider Hände von Nibal und zwang sie, das zu verlieren, was ihr am meisten am Herzen lag: die Fähigkeit, ihre kleine Tochter zu halten. Ihre Geschichte ist eine von Hunderten von amputierten Frauen in Gaza.


Von Noor Alyacoubi, Mondoweiss, 1. Dezember 2025


(Originalbeitrag in englischer Sprache)

 

Wenn die zweijährige Rita nachts weint, kann ihre Mutter Nibal al-Hissi sie nur von ihrer Matratze aus rufen. Ohne Hände kann sie ihre Tochter nicht hochheben, sie trösten oder ihr einen Schluck Wasser geben. „Meine Arme tun mir sehr weh, wenn ich versuche, sie zu tragen oder zu umarmen“, erzählt die 27-Jährige mit zitternder Stimme. „Ich bin auf Schmerzmittel angewiesen, aber die helfen kaum.“

Nibals Leben änderte sich am 7. Oktober 2024, dem ersten Jahrestag des Beginns des Völkermords, als israelische Artillerie ihr Lager im Nuseirat-Camp im Zentrum von Gaza beschoss. Das Gebiet war gemäß den israelischen Evakuierungsrichtlinien als „Sicherheitszone“ ausgewiesen worden. Durch die Explosion wurden ihr beide Hände abgetrennt. „Meine Unterarme wurden sofort amputiert“, erinnert sie sich. „Ich sah, wie das Blut aus meinen Armen strömte.“

Das palästinensische Gesundheitsministerium hat seit Beginn des israelischen Krieges gegen Gaza sechstausend Amputationsfälle gemeldet. Kinder machen 25 Prozent aller Amputationen aus, Frauen 12,7 Prozent. Da Krankenhäuser unter den Bombardements zusammenbrachen, medizinische Teams getötet oder vertrieben wurden und wichtige Versorgungsgüter blockiert waren [und sind, Anm.], waren Ärzt*innen gezwungen, selbst in Fällen zu amputieren, die unter normalen Umständen hätten behandelt werden können. Viele Eingriffe wurden ohne Betäubung und unter unmenschlichen Bedingungen durchgeführt, was zu schweren Komplikationen führte, die später die Anpassung von Prothesen erheblich erschweren.

 

Eine zerrüttete Mutterschaft

Unmittelbar nach der Explosion, im Krankenhaus, eingewickelt in Bandagen und Krankenhauslaken, flehte Nibal die Krankenschwestern an, ihr ihre kleine Tochter zu bringen. Sie erinnert sich, dass Rita sie ansah und dann unkontrolliert zu weinen begann. „Sie weigerte sich, näher zu kommen. Dieser Moment hat meine psychische Gesundheit zerstört.“

Vor dem Krieg war Rita erst wenige Wochen alt gewesen. Nibal hatte ihre ersten Monate als Mutter genossen. „Ich baute mit meinem Mann eine kleine Familie in unserem schönen Zuhause auf“, erzählt sie. „Ich liebte alles daran, Mutter zu sein. Ihr die Kleidung zu wechseln, sie zu füttern, sie festzuhalten. Jetzt kann ich nichts mehr für sie tun.“ Selbst in ihrem Alter spürte Rita die Veränderung. „Sie weiß, dass ich nicht mehr alles für sie tun kann“, sagt Nibal. „Sie wird wütend, gestresst und meidet mich manchmal.“

Dennoch versucht Nibal, an dem festzuhalten, was ihr geblieben ist. „Ich versuche, das alles zu kompensieren, indem ich den ganzen Tag bei ihr bin“, sagt sie mit leiser Stimme. „Ich lasse sie um mich herum spielen. Ich kaufe ihr Spielzeug. Ich erzähle ihr Geschichten. Ich spreche mit ihr, als wäre sie älter und würde alles verstehen.“

Trotz Nibals größter Bemühungen war die körperliche Zuwendung, die Rita brauchte, unmöglich. Schließlich stellte Nibal eine Haushälterin ein, die ihr bei der täglichen Pflege half. Der Schock kam, als Rita begann, die Haushälterin „Mama“ zu nennen. „In diesem Moment verlor ich den Verstand“, sagt Nibal leise. „Mir wurde klar, was mir meine Verletzung genommen hatte. Mein Recht, Mutter zu sein. Mir wurde klar, dass der Verlust meiner Hände jeden Teil meines Lebens beeinflusst.“

 

Abhängigkeit, Scheidung und tägliche Schwierigkeiten

Vor dem Angriff war Nibal stark, aktiv und völlig unabhängig. Sie kochte, putzte, zog sich selbstverständlich selbst an, kämmte sich die Haare und kümmerte sich mühelos um ihren Haushalt. All das verschwand in einem Augenblick. Jetzt ist sie auf die Verfügbarkeit und das Mitgefühl anderer angewiesen.

„Was es noch schwieriger macht, ist, dass ich jemanden brauche, der mir und meiner Tochter hilft“, sagt sie. „Ich brauche jemanden, der Rita trägt, wenn sie weint, sie füttert, wenn sie Hunger hat, ihre Windeln wechselt, sie anzieht, ihr die Haare bürstet. Einfach alles. Ich kann niemanden drängen. Ich muss warten, bis sie Zeit haben.“ Die emotionale Belastung dieser Abhängigkeit erdrückt sie. „Das schwierigste Gefühl, das ich seit der Amputation habe, ist dieses überwältigende Gefühl der Behinderung“, erzählt sie. „Ich fühle mich wie eine Last für alle um mich herum. Ich mache ihnen keine Vorwürfe. Jeder hat seine Verpflichtungen. Niemand kann sein Leben darauf verwenden, sich um meine Bedürfnisse zu kümmern.“

Sie hält inne. „Ich habe sogar Mitleid mit mir selbst, weil ich zu einer Last geworden bin. Die Menschen lieben dich, wenn du stark bist. Wenn du schwach bist und Hilfe brauchst, ist niemand für dich da.“ Die Menschen beschreiben sie oft als stark und widerstandsfähig. Innerlich, sagt sie, „bin ich gebrochen, besiegt und allein“.

Jeder Teil ihres Lebens erinnert sie ständig an ihren Verlust. Selbst in den intimsten Momenten braucht sie Hilfe. „Das ist der schwerste Teil meines Tages“, erzählt sie. „Ich muss warten, bis jemand im Haus aufwacht und mir auf die Toilette hilft. Kann das überhaupt jemand ertragen?“

Ihr Gefühl, unerwünscht zu sein, verstärkte sich nach der Verletzung, insbesondere als ihr Mann sich entschloss, sich von ihr scheiden zu lassen. „Ich kann niemandem die Schuld geben“, seufzt sie. „Mein Ex-Mann war der Erste, der mich aufgegeben hat, weil ich meinen Verpflichtungen nicht nachkommen konnte.“

Unterdessen kämpft Rita weiterhin mit der Verletzung ihrer Mutter. „Sie weint jedes Mal, wenn sie mich um etwas bittet und ich es nicht tun kann“, sagt Nibal. „Dass ich mich nicht um meine Tochter kümmern kann, bricht mir jeden Tag das Herz.“ Doch Nibal weigert sich aufzugeben. „Rita ist mein ganzes Leben“, sagt sie entschlossen. „Sie ist der einzige Grund, warum ich weitermache.“

Nibal versucht, diese Lücke mit emotionaler Nähe zu füllen. „Ich erinnere sie jeden Tag daran, dass ich ihre Mutter bin. Ich erzähle ihr Geschichten. Ich halte sie bei mir. An manchen Tagen passt sie sich an. An anderen Tagen lehnt sie jede Hilfe außer meiner ab. In solchen Momenten breche ich fast zusammen.“

Heute ist Nibals größter Wunsch, zur Behandlung ins Ausland zu reisen und Handprothesen zu erhalten, die ihr ein Stück Unabhängigkeit zurückgeben und es ihr ermöglichen, Teile ihrer Identität und Mutterschaft wiederzuerlangen. „Ich möchte einfach wieder für mich und meine Tochter sorgen können“, sagt sie.

Im Oktober 2025, kurz nach der Verkündung eines Waffenstillstands, teilte ihr das Gesundheitsministerium mit, dass sie für eine medizinische Evakuierung über den Grenzübergang Rafah zugelassen worden sei. Die Hoffnung keimte auf. Sie erlaubte sich, sich vorzustellen, Rita wieder hochzuheben. Aber der Grenzübergang wurde nie geöffnet. Palästinensische Beamte und humanitäre Organisationen berichteten, dass Israel medizinische Transporte weiterhin blockiert, was sie als weiteren Verstoß gegen das Waffenstillstandsabkommen bezeichneten.

 

Der israelische Krieg gegen Gaza forderte mehr als 70 000 Todesopfer und 170 706 Verletzte. Unter den Verletzten befinden sich mindestens 16 000 Patient*innen, die sofort zur Behandlung ins Ausland evakuiert werden müssten. Nibals Geschichte ist nur eine von Tausenden.

 

Noor Alyacoubi ist Übersetzerin und Schriftstellerin und lebt in Gaza.


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