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Deutschlands führendes Forschungsinstitut bestätigt, was kritische Stimmen schon immer über Gaza gesagt haben

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  • vor 5 Tagen
  • 5 Min. Lesezeit

Zwei Jahre lang haben deutsche Regierungsvertreter die Zahl der Todesopfer in Gaza als Propaganda abgetan. Nun hat das Max-Planck-Institut Schätzungen veröffentlicht, die eine solche Leugnung unmöglich machen – und die Muster vergangener Völkermorde widerspiegeln.


Von Hanno Hauenstein, Substack/Nullpunkt, 02. Dezember 2025


(Originalbeitrag in englischer Sprache)

 

Eine neue Schätzung von Forschern des Max-Planck-Instituts für demografische Forschung in Rostock zeichnet ein verheerendes Bild der Todesopfer in Gaza. Ihren Erkenntnissen zufolge wurden in den ersten zwei Jahren des Völkermords in Gaza mindestens 100 000 Palästinenser*innen getötet; die tatsächliche Zahl dürfte laut der Studie noch weit höher liegen. Das Forschungsteam gibt eine Spanne von 100 000 bis 126 000 Todesfällen an – mit einem Mittelwert von etwa 112 000 Toten.

Schockierend ist natürlich nicht nur das Ausmaß, sondern auch das Muster der Tötungen und die demografischen Details. Mehr als ein Viertel der Getöteten – etwa 27 Prozent – sind Kinder unter 15 Jahren. Ein weiteres Viertel, etwa 24 Prozent, sind Frauen. Weit über die Hälfte der Getöteten kann – nach allen statistischen Maßstäben – nicht zu bewaffneten Gruppen gehört haben. Allein dadurch bricht eine der zentralen Säulen der israelischen Propagandakampagne zusammen.

Die Studie betont auch, dass diese Verteilung keinerlei Ähnlichkeit mit „klassischen“ Konflikten aufweist. Stattdessen wird ausdrücklich festgestellt, dass das demografische Profil Mustern entspricht, die die Vereinten Nationen in früheren Fällen von Völkermord, wie beispielsweise dem Völkermord in Ruanda 1994, dokumentiert haben.

Ist dies nun der Wendepunkt, auf den wir gewartet haben? Die genozidalen Züge des Gaza-Krieges waren fast zwei Jahre lang offensichtlich. Aber wenn eine der renommiertesten Forschungseinrichtungen Deutschlands darauf hinweist, dass Gaza tatsächlich früheren Völkermorden ähnelt: Was folgt daraus? Schließlich hat Deutschland Israel weit mehr als nur politische Unterstützung gewährt. Es hat Israels Angriff auf Gaza sowohl militärisch als auch rechtlich unterstützt – durch Waffenexporte, diplomatische Deckung und seine Verteidigung vor internationalen Gerichten. Wie der Historiker Omer Bartov kürzlich in einem Interview mit Nullpunkt sagte: Deutschland hat den Völkermord in Gaza nicht nur unterstützt. Es hat ihn ermöglicht.

 

Zahlen allein beweisen nichts. Wie Völkerrechtler*innen und Historiker*innen betont haben, wird Völkermord nicht unbedingt durch die Zahl der Todesopfer bestimmt; formal kann er auch ohne einen einzigen Mordfall festgestellt werden. Dennoch sind die Zahlen des Max-Planck-Instituts ein klarer Hinweis darauf, dass die Gewalt in Gaza nicht nur ein tragischer „Nebeneffekt“ der israelischen Kriegsführung ist, wie Politiker*innen und die Mehrheit der deutschen Medien lange behauptet haben – und in einigen Fällen weiterhin behaupten.

Stattdessen bestätigen sie, was viele Vertreter*innen der Linken inzwischen verstanden haben: dass wahlloses Töten kein Zufall ist, sondern ein integraler Bestandteil der Militärstrategie Israels. Die Zahlen deuten auf die teilweise Umsetzung einer Vernichtungslogik hin, die wiederholt und offen von israelischen Politiker*innen und Medien wie Israels eigener Version von Radio Ruanda, Channel 14, zum Ausdruck gebracht wurde. Die extrem hohe Sterblichkeitsrate unter Kindern, Frauen und älteren Menschen deutet auf eine Kriegsführung hin, die systematisch und bewusst auf die gesamte Bevölkerung Gazas abzielt.

All dies ist nichts Neues. Menschenrechtsorganisationen, Wissenschaftler*innen und Journalist*innen haben die Muster der israelischen Gewalt in Gaza seit den ersten Tagen nach dem 7. Oktober präzise dokumentiert und analysiert. Enthüllungen über Israels KI-Zielsysteme – über die das +972 Magazine bereits im April 2024 berichtete – hätten unmissverständlich deutlich machen müssen, wie willkürlich das militärische Vorgehen Israels seit den ersten Tagen nach dem 7. Oktober war.

Nach Angaben des Gesundheitsministeriums in Gaza hat Israel seit dem 7. Oktober etwa 72 500 Palästinenser*innen getötet. Hunderttausende weitere Menschen wurden verletzt, viele von ihnen mit lebensverändernden Verletzungen wie Amputationen. In Deutschland wurden diese Zahlen regelmäßig angezweifelt, abgelehnt oder ignoriert. Selbst Mitte-Links-Medien wie die Zeit und die taz haben Artikel veröffentlicht, in denen die Statistiken aus Gaza als von Natur aus zweifelhaft dargestellt wurden – oft unter Berufung auf falsche Zahlen und Quellen, die sich als israelische Kriegspropaganda herausstellten.

Dies geschah trotz zahlreicher Belege aus früheren israelischen Militäroffensiven gegen Gaza – in den Jahren 2009, 2012, 2014 oder 2021 –, dass die Opferzahlen des Gesundheitsministeriums von Gaza stets mit den später von der UNO und anderen unabhängigen Stellen bestätigten Zahlen übereinstimmten. Darüber hinaus deuteten im Laufe des letzten Jahres immer mehr Hinweise darauf hin, dass die Hamas – angesichts sinkender Popularität in Gaza – eher ein Interesse daran hatte, die Zahl der Todesopfer zu niedrig anzugeben, als sie zu übertreiben.

Seit weit über einem Jahr warnen unabhängige Forscher*innen und Wissenschaftler*innen, dass die tatsächliche Zahl der Todesopfer in Gaza wahrscheinlich weit über den offiziellen Zahlen liegt. Das „Costs of War Project“ beispielsweise arbeitet mit Schätzungen, die weit über den öffentlich bekannt gegebenen Zahlen liegen – ein klarer Beweis dafür, dass das Ausmaß der Tötungen unterschätzt wurde.

Medizinische Expert*innen kamen schon früh zu ähnlichen Schlussfolgerungen. In einem Brief amerikanischer Ärzt*innen an Präsident Biden, der vor mehr als einem Jahr, im Oktober 2024, verfasst wurde, wurde die Zahl der Todesopfer auf etwa 118 000 geschätzt. Forscher*innen im Bereich der öffentlichen Gesundheit schätzten in einem Artikel in The Lancet die Gesamtzahl der Todesfälle – einschließlich indirekter Todesfälle und noch vermisster Personen – auf über 186 000. Das war im Sommer 2024, vor anderthalb Jahren.

Die Diskrepanz zwischen diesen Schätzungen ist hauptsächlich methodischer Natur: Einige Modelle sind einfach konservativer, andere expansiver. Eine große Unsicherheit besteht aufgrund der enormen Anzahl von Menschen, die noch unter den Trümmern begraben sind. Auf einem schmalen Landstreifen bedecken derzeit rund 50 Millionen Tonnen Schutt ganze Stadtteile. Die UNO schätzt, dass die Beseitigung dieser Trümmer mehrere Jahrzehnte dauern wird.

Trotz alledem scheint es von Bedeutung zu sein, dass die neuesten Zahlen vom Max-Planck-Institut stammen. Frühere Schätzungen, die mit den Zahlen des Gesundheitsministeriums in Gaza übereinstimmten oder diese sogar übertrafen, fanden in der deutschen Presse kaum Beachtung. Dieses Mal scheint es anders zu sein.

Politisch konfrontiert der Bericht die internationale Gemeinschaft mit einer Reihe unangenehmer Fragen, wobei Deutschland an vorderster Front steht. Er wirft auch ein ungünstiges Licht auf die westlichen Medien, die die Warnsignale viel früher hätten erkennen müssen – und sie entsprechend einordnen und kontextualisieren hätten müssen. Das ist natürlich nicht geschehen. Wenn überhaupt, dann geschah das Gegenteil.

Das Institut selbst ist von dieser Kritik nicht ausgenommen. Im vergangenen Jahr entließ die Max-Planck-Gesellschaft den Anthropologen Ghassan Hage, nachdem die Axel-Springer-Tageszeitung Die Welt einen diffamierenden Artikel über ihn veröffentlicht hatte, der sich auf eine Handvoll Online-Beiträge stützte, in denen er unter anderem gesagt hatte, Israel begehe Völkermord.

Trotz wachsenden internen Drucks bekräftigte das Max-Planck-Institut wiederholt seine Verbindungen zu israelischen Forschungseinrichtungen – selbst nachdem israelische Kriegsverbrechen in Gaza umfassend dokumentiert und die Rolle israelischer Universitäten in der Kriegsmaschinerie akribisch aufgezeigt worden waren. Wenn Forscher am Max-Planck-Institut nun ein demografisches Muster identifizieren, das – wenn auch nur indirekt – einem Völkermord gleichkommt, täte das Institut gut daran, seine eigenen institutionellen Positionen kritisch und öffentlich zu überprüfen.

Die bitterste Wahrheit über die Zahl der Todesopfer in Gaza ist: Wir werden wahrscheinlich nie die genaue Zahl der Getöteten erfahren. Nicht weil die Zahl nicht ermittelbar ist, sondern weil so viele Opfer unter den Trümmern begraben bleiben – nie registriert, nie gezählt. Die mittlere Schätzung des Max-Planck-Instituts von 112.000 ist in diesem Sinne ein Echo des politischen Versagens gegenüber Palästina. Dieses Echo wird nachhallen – auch wenn die Welt weiterhin wegschaut.

 

Hanno Hauenstein ist freier Journalist. Seine Beiträge sind unter anderem beim Guardian, the Intercept, Zeit Online, Haaretz, +972Mag und der taz erschienen.


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