top of page

Die Christinnen und Christen in Gaza, die in Kirchen Zuflucht suchen, sehen einem weiteren Weihnachtsfest unter Beschuss entgegen

Nach wiederholten israelischen Angriffen auf die historischen Kirchen im Gazastreifen trauern die vertriebenen PalästinenserInnen um ihre Angehörigen und die Freude über die verloren gegangene Weihnachtszeit.


Von Ruwaida Kamal Amer, 972Mag, 24. Dezember 2024


(Originalbeitrag in englischer Sprache und mit dazugehörendem Fotomaterial)

 

Während das zweite Weihnachtsfest unter israelischem Bombardement näher rückt, finden fast 1 000 palästinensische ChristInnen Zuflucht in der griechisch-orthodoxen Kirche St. Porphyrius und dem lateinischen Kloster im Zentrum von Gaza-Stadt. Seit mehr als einem Jahr, seit dem Beginn des israelischen Angriffs auf den Gazastreifen, leben sie in diesen beiden Kirchen und haben kaum Nahrung, Wasser oder Strom.


Unter ihnen ist der 47-jährige Ramez Suhail Al-Suri, ein palästinensischer Christ aus Gaza-Stadt. Vor dem Krieg, so erinnerte sich Al-Suri gern, war Weihnachten für ihn und seine Familie – seine Frau Helen und seine drei Kinder Suhail (14), Julie (12) und Majd (11) – eine fröhliche Zeit.


„In Gaza hatten wir während der Feiertage [zu Hause] einen Christbaum, und wir gingen auf den Markt und kauften neue Kleidung, Schokolade und Dekoration, damit die Kinder glücklich waren“, erzählte Al-Suri gegenüber +972. „Wir haben auch an kirchlichen Feiern teilgenommen – wir hatten viel Freude in unserem Leben.“


Als Israel am 7. Oktober mit der Bombardierung von Gaza begann, suchten Al-Suri und seine Familie zusammen mit anderen Angehörigen Zuflucht in der orthodoxen Kirche. „Wir wissen, dass die internationalen und humanitären Gesetze die Bombardierung von Kirchen und Moscheen verbieten“, erklärte er.


Aber es wurde ihnen schnell klar, dass „die Bombardierungen willkürlich und sehr gewalttätig waren“. Als am 17. Oktober 2023 eine gewaltige Explosion das Al-Ahli-Krankenhaus erschütterte, das nur 350 Meter von dem Ort entfernt war, an dem Al-Suri und seine Familie in der Kirche Schutz gesucht hatten, konnten sie die Auswirkungen spüren. „Es war ein sehr schrecklicher und tragischer Moment – fast 500 Menschen wurden getötet. Wir waren sehr beunruhigt über diesen Angriff, da er so nah war.“


Leider sollten sich Al-Suris Befürchtungen nur zwei Tage später bewahrheiten. „An diesem Abend brachten wir unsere Kinder an ihre Schlafplätze [in der Kirche] und ließen sie dort zurück“, so Al-Suri gegenüber +972. „Meine Frau und ich gingen zu meinem kranken Vater, der 87 Jahre alt ist und in einem anderen Gebäude schlief, um ihn zu pflegen und zu betreuen.“

Gegen 20:30 Uhr traf ein israelischer Luftangriff das Außengebäude der Kirche, brachte es zum Einsturz und tötete 18 Menschen, darunter die drei Kinder von Al-Suri, und verletzte mehrere andere. „In diesem Moment konnte ich nicht glauben, was ich da sah. Ich versuchte, meine Kinder zu retten, aber alle drei waren in einem kritischen Zustand und starben schnell“, sagte Al-Suri. „Eines meiner Kinder hing auf dem Zaun der Kirche und ich konnte es nicht herunterheben, aber die Rettungsteams halfen mir.“


Der Angriff vom 19. Oktober war nur der erste von vielen Angriffen auf Kirchen im Gazastreifen im vergangenen Jahr, obwohl sie Hunderten von vertriebenen PalästinenserInnen, darunter kleinen Kindern, älteren Menschen und Behinderten, als Zufluchtsort dienen. Weniger als zwei Monate später, im Dezember, töteten israelische Scharfschützen Mutter und Tochter Nahida und Samar Anton im Innenhof des lateinischen Klosters, auch bekannt als Kirche der Heiligen Familie, und verletzten sieben weitere Personen, die ihnen zu Hilfe eilen wollten. Im Juli griff die israelische Armee die Schule der Heiligen Familie an und tötete vier ZivilistInnen, und in einem weiteren Luftangriff wurde die griechisch-orthodoxe Kirche erneut angegriffen.


Al-Suris Kinder besuchten alle die Holy Family School, „eine der angesehensten Schulen in Gaza“, erinnert er sich mit Stolz. „Sie hatten Träume für ihre Zukunft: Julie wollte Zahnärztin werden, Suhail wollte Buchhalter werden, und Majd wollte Wirtschaft studieren.“ Alle drei wollten im vergangenen Jahr an einem Wettbewerb zum Auswendiglernen der Bibel im Westjordanland teilnehmen. „Sie lernten die Bibel auswendig und warteten auf die Erlaubnis, Gaza zu verlassen“, fügt er hinzu. „Jetzt lesen sie das Buch im Himmel.“


„Am [19. Oktober] habe ich mein ganzes Leben verloren – mein Leben hat jetzt keinen Sinn mehr. Ich habe drei Kinder in wenigen Sekunden verloren, und jetzt sind ihre Mutter und ich allein“, sagt Al-Suri. „Das ist es, was der Krieg in Gaza mit mir gemacht hat.“

 

„Wir hoffen, dass Gott uns antwortet und diesen Krieg beendet“


Die griechisch-orthodoxe Kirche des Heiligen Porphyrius in Gaza-Stadt ist eine der ältesten aktiven Kirchen der Welt. Ihre Gründung geht auf das 5. Jahrhundert zurück, während das heutige Bauwerk im 12. Jahrhundert fertiggestellt wurde, mit Glasfenstern, die kunstvolle biblische Darstellungen zeigen, und dicken Mauern, die das Grab des Heiligen Porphyrius, des ersten Bischofs von Gaza, umgeben. Das Gebäude ist ein Erbe der wechselvollen Geschichte von Gaza, die heidnische, christliche und muslimische Herrschaftszeiten erlebt hat.


Sowohl die Kirche St. Porphyrius als auch das lateinische Kloster waren auch Ankerpunkte für die schwindende christliche Gemeinde im Gazastreifen, deren Zahl vor Israels bisher heftigstem und zerstörerischstem Angriff auf den Gazastreifen bei etwas über 1 000 lag – und vor der von Israel verhängten Belagerung und Blockade im Jahr 2007 etwa dreimal so hoch war. Es war auch nicht das erste Jahr, in dem sie als Schutzräume dienten: Beide Einrichtungen öffneten ihre Türen für die BewohnerInnen des Gazastreifens verschiedener Glaubensrichtungen während der vier Kriege, die Israel seit 2005 gegen die Enklave geführt hat. Während der israelischen Operation „Protective Edge“ 2014 fanden etwa 70 PalästinenserInnen tagelang Schutz in der orthodoxen Kirche.


In den letzten anderthalb Jahrzehnten war Weihnachten für viele ChristInnen im Gazastreifen eine seltene und geschätzte Gelegenheit, dem abgeriegelten Streifen zu entkommen und ihre Familien im Westjordanland wiederzusehen. „Früher haben wir von der israelischen Armee die Erlaubnis erhalten, die Geburtskirche in Bethlehem zu besuchen“, erzählte Al-Suri gegenüber +972. „Wir erlebten die glorreichen Festtagsrituale in dieser Stadt mit ihren Gebeten und Feiern.“

Al-Suris Familie besuchte auch Freundinnen und Verwandte in Ramallah und Jerusalem, wo sie zur Grabeskirche pilgerten, die von den ChristInnen als Ort der Kreuzigung und der Beerdigung Jesu angesehen wird. Al-Suri gab sich große Mühe, diese Besuche zu organisieren. „Wir bekamen diese Genehmigungen nur einmal im Jahr“, berichtet er.


Dieses Weihnachten in Gaza ist wie alle anderen Feiertage, die eigentlich fröhlich sein sollten, „trist und beschränkt sich auf Gebete und Wehklagen“, so Al-Suri. Helen, seine Frau, kann die Abwesenheit ihrer Kinder immer noch nicht begreifen. „Sie versucht, stark zu sein, aber ich sehe unendliche Traurigkeit in ihren Augen, und ich kann es ihr nicht verdenken“, sagt er. Helen leidet jetzt unter Bluthochdruck und einem vergrößerten Herzmuskel, den sie versucht, mit Medikamenten in den Griff zu bekommen. Um ihr zu helfen, mit dem Verlust fertig zu werden, hat Al-Suri sie vor kurzem für ein Online-Studium der Buchhaltung an der Al-Azhar-Universität eingeschrieben.


Sobald er dazu in der Lage ist, plant Al-Suri, für sich, seine Frau und seine Eltern Asyl zu beantragen – entweder in Australien, den Vereinigten Staaten oder in Europa. Seine Schwestern leben im Ausland und haben versucht, ihm bei der Ausreise aus dem Gazastreifen zu helfen, was seit der Schließung des Grenzübergangs Rafah durch Israel im Mai ein unmögliches Unterfangen ist.


„Wir hoffen, dass Gott uns erhört und diesen Krieg beendet“, bittet Al-Suri. „Was wir an Ungerechtigkeit, Hunger und Vertreibung erlebt haben, ist genug, und ich glaube nicht, dass das palästinensische Volk in der Lage ist, noch mehr Leid zu ertragen. Ich versuche, den Menschen durch humanitäre Arbeit in allen Gebieten des Gazastreifens zu helfen und zu meinem normalen Alltag zurückzukehren, aber ich schaffe es einfach nicht: Ich habe meine Kinder immer vor Augen.“



Keine sicheren Orte für Gottesdienste oder Unterkünfte


Von den palästinensischen ChristInnen, die seit dem 7. Oktober aus dem Gazastreifen geflohen sind, sind 300 in Ägypten gelandet. Kamel Ayyad, ein 51-jähriger palästinensischer Christ aus Gaza-Stadt, wurde zu Beginn des Krieges mit seiner Familie aus dem westlichen Teil der Stadt in deren Zentrum vertrieben und konnte schließlich im November 2023 nach Ägypten fliehen.

Nach dem 7. Oktober trommelte Ayyad schnell seine engsten Familienangehörigen und Verwandten zusammen und suchte wie Al-Suri und seine Familie Schutz in einem Gotteshaus – dem Lateinischen Kloster im Stadtteil Zeitoun. „Wir glaubten, dass dies ein sicherer Ort sei und uns nichts passieren würde“, sagt er gegenüber +972.


Ihre Probleme verschärften sich jedoch rapide. „Es gab keine Lebensmittel, kein Wasser und keinen Strom. Die Kirche versuchte, uns mit dem Nötigsten zu versorgen, aber die Situation war sehr schlecht“, erinnert sich Ayyad.


Mitte Oktober versetzte dann das Massaker in der griechisch-orthodoxen Kirche St. Porphyrius Ayyad und andere ChristInnen, die im Lateinischen Kloster Zuflucht gefunden hatten, in einen Schockzustand. Viele von ihnen kamen zu Fuß an den Ort des Geschehens, um bei den Rettungsarbeiten zu helfen und nach Familie und Freunden zu suchen: „Alle liefen hin, um den Ort zu durchsuchen. Wir fanden einige Leichenteile, die wir wiedererkannten. Unter den Toten waren meine Cousine Lisa Al-Suri [32], ihr Mann Tariq [37] und ihr Sohn Issa [12]. Eine ganze Familie wurde durch die israelische Bombardierung ausgelöscht.“


Für Ayyad war der Angriff ein Wendepunkt. „Es war eine große Tragödie – Traurigkeit machte sich in den Kirchen breit“, erinnert er sich. „Alle bekamen Angst und wollten den Gazastreifen verlassen. Der Anblick der Leichen in den weißen Leichentüchern bestätigte, dass dies ein Krieg ist, der viele Grenzen überschreitet und niemanden verschont; es gibt keine sicheren Gotteshäuser oder Unterkünfte für die Vertriebenen.“ Aus Angst um die Sicherheit seiner Kinder traf Ayyad die Entscheidung, das Land zu verlassen.


Ayyad aus Ägypten, der früher in der Kirche der Heiligen Familie gearbeitet hat, erinnert sich an vergangene Weihnachtsfeiern in Gaza. „Der Dezember war für uns der schönste Monat. Junge Leute kamen, um die Kirche zu schmücken, und der riesige Baum stand in der Mitte des Innenhofs. ChristInnen und MuslimInnen feierten gemeinsam. Jetzt ist die Kirche traurig: Die Vertriebenen schlafen in den Gängen, die meisten von uns haben ihre Häuser und Arbeitsplätze verloren, und die Bombardierungen dauern an. Es hat sich überhaupt nichts geändert.“ Trotz alledem hofft Ayyad, eines Tages nach Gaza zurückkehren zu können – „in ein Gaza, so wie es früher war.“

 

Ruwaida Kamal Amer ist eine freiberufliche Journalistin aus Khan Younis.

Comments


bottom of page