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Die grausame Aufgabe, Tausende von Leichen aus den Trümmern von Gaza zu bergen

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  • 5. Nov.
  • 6 Min. Lesezeit

Angehörige und Expert*innenen berichten von der menschlichen und gesellschaftlichen Notwendigkeit, die Toten zu finden und zu identifizieren, während Bilder und Daten das Ausmaß dieser Aufgabe verdeutlichen. Es wird als eine der aufwändigsten und größten Bergungsaktionen der modernen Kriegsführung beschrieben.


Von Lorenzo Tondo in Jerusalem und Seham Tantesh in Gaza; Grafiken von Ana Lucía González Paz, Lucy Swan und Paul Scruton; The Guardian, 2. November 2025


(Originalbeitrag in englischer Sprache und mit dazugehörenden Grafiken)

 

Während die Verhandlungen über den brüchigen Waffenstillstand im Gazastreifen weitergehen, haben die Palästinenser*innen begonnen, sich durch 61 Millionen Tonnen Trümmer zu graben - 20 Mal mehr als die Gesamtmasse aller Trümmer, die seit 2008 durch andere Konflikte entstanden sind. Darunter sollen noch mindestens 10 000 Menschen begraben sein.

The Guardian sprach mit mehreren Familien in Gaza, die verzweifelt nach den Leichen ihrer vermissten Angehörigen suchen, sowie mit Mitgliedern des palästinensischen Zivilschutzes, einer Abteilung der Sicherheitsdienste, die für Rettungsdienste und Rettungsaktionen zuständig ist. Fotos, Videoaufnahmen und Daten geben Aufschluss über das ungeheure Ausmaß der bevorstehenden Aufgabe.

Die Rettungsteams mussten sich bisher auf rudimentäre Werkzeuge – Schaufeln, Spitzhacken, Schubkarren, Rechen, Hacken – und ihre bloßen Hände verlassen. Anfragen an Israel, Bagger und schwere Maschinen ins Land zu lassen, um effektiver arbeiten zu können, blieben unbeantwortet.

„Die ganze Welt hat gesehen, welche Geräte eingesetzt wurden, um die Leichen der israelischen Geiseln zu bergen [darunter Bulldozer und Bagger]“, so Dr. Mohammed al-Mughir, Direktor für humanitäre Hilfe und internationale Zusammenarbeit beim Zivilschutz. „Wir benötigen die gleichen Geräte, um unsere Leichen zu bergen.“

Das Ministerium für Gesundheit und Zivilschutz in Gaza schätzt, dass noch etwa 10 000 Menschen unter den Trümmern begraben sind. Einige Expert*innen gehen davon aus, dass die Zahl sogar bei 14 000 liegen könnte.

Nach Angaben des Gesundheitsministeriums wurden in den ersten 16 Tagen des Waffenstillstands 472 Leichen geborgen und zur Identifizierung in Leichenhallen von Krankenhäusern gebracht. In dieser Zahl sind die 195 Leichen nicht enthalten, die Israel im Rahmen des Waffenstillstandsabkommens zurückgegeben hat.

Selbst wenn Israel heute Bagger und Bulldozer in den Gazastreifen lassen würde, schätzen Beamte des Zivilschutzes, dass es bis zu neun Monate dauern wird, bis die meisten Leichen geborgen wären.

Die Behörde berichtet, dass sich die Bergungsarbeiten bisher auf kleine Häuser und ein- oder zweistöckige Wohnblocks beschränkt haben, wo die Rettungskräfte mit den wenigen ihnen zur Verfügung stehenden Werkzeugen an die Leichen herankommen können.

„Das Problem entsteht, wenn man es mit sieben oder acht Stockwerken hohen Gebäuden zu tun hat – dann brauchen wir schweres Gerät, auf dessen Einfuhr wir noch warten“, so Mughir.

In der Zwischenzeit stehen täglich Hunderte von Familien vor Krankenhäusern und Büros des Gesundheitsministeriums und des Zivilschutzes Schlange, um Informationen über vermisste Angehörige zu erhalten. Mughir berichtet, dass allein im Hauptquartier des Zivilschutzes in Gaza-Stadt täglich mehr als 30 Familien um Hilfe bei der Suche und Bergung ihrer Angehörigen bitten.

 

Seit einem Jahr verschüttet

Am 29. Oktober 2024 stürzte das fünfstöckige Haus in Beit Lahiya im Norden Gazas, in dem die Großfamilie von Aya Abu Nasr lebte, nach einem israelischen Luftangriff ein.

„Die meisten meiner Familienmitglieder haben im Erdgeschoss und im ersten Stock gewohnt“, erzählt die 26-jährige Nasr. „Ich habe fünf meiner Geschwister verloren – zwei Brüder und drei Schwestern – zusammen mit ihren ganzen Familien. Mehr als 100 Mitglieder meiner Großfamilie starben bei diesem Angriff, und etwa 50 von ihnen liegen auch heute noch, ein ganzes Jahr später, unter den Trümmern begraben.“

Nasr sagt, sie habe wiederholt versucht, die Leichen zu bergen, aber ihre Überreste seien zwischen dem Erdgeschoss und dem ersten Stock verstreut. Ohne Bagger sei es unmöglich, sie zu bergen.

Seit Beginn des Krieges wurden Hunderte von Vermisstenanzeigen bei den Zivilschutzbehörden eingereicht. Beamte sagen, sie hätten bereits Schätzungen darüber, wie viele Leichen vermutlich unter bestimmten Gebäuden und Häusern liegen.

„In Rafah gibt es mehr als 35 Häuser, in denen sich etwa 170 Leichen befinden“, berichtet Mughir. „In Khan Younis und den östlichen Regionen des Gazastreifens gibt es viele Gebäude, unter denen Hunderte weiterer Leichen noch nicht geborgen wurden.“

Aufgrund wiederholter Vertreibungen und Evakuierungsbefehle im gesamten Gazastreifen wurden Tausende von Familien von ihren Angehörigen getrennt. Viele wissen aufgrund von Berichten von Freund*innen oder Nachbar*innen, dass ihre Angehörigen getötet wurden, haben aber keine Ahnung, wo ihre Leichen liegen.

Das letzte Mal, dass Hadeel Shahiber aus dem westlichen Gazastreifen ihre Eltern und Geschwister sah, war am 8. November 2023, als die israelische Armee im Rahmen ihrer ausgedehnten Bodenoffensive die Evakuierung von Gaza-Stadt, einschließlich des Gebiets um das Al-Shifa-Krankenhaus, anordnete. Die heute 34-jährige Shahiber beschloss, im Hafengebiet zu bleiben, während ihre Verwandten in das Viertel al-Sabra flohen. Neun Tage später wurden sie alle bei einem israelischen Luftangriff getötet.

„Als ich Wochen später endlich al-Sabra erreichte, hielt uns ein Mann mit einer Liste der Namen der identifizierten Toten auf“, erzählt Shahiber. „Die ersten Namen auf der Liste waren mein Vater Nabil, meine Mutter und meine Geschwister. Während der ersten Waffenruhe im Januar, mehr als ein Jahr nach ihrem Tod, konnten wir endlich einige von ihnen, darunter auch meine Eltern, bergen und ordnungsgemäß beerdigen. Aber einige Leichen liegen immer noch unter den Trümmern begraben. Zu wissen, dass einige meiner Liebsten unter den Trümmern liegen und keine würdige Beerdigung erhalten, erfüllt mich mit Schmerz und Trauer.“

 

Die Notwendigkeit, Opfer zu identifizieren

Die Identifizierung der Leichen dient nicht nur dazu, den Toten ihre Würde zurückzugeben, sondern ist auch für die Gesundheit der Lebenden notwendig. Psycholog*innen beschrieben die unbewältigte Trauer der Angehörigen der nicht identifizierten Toten als „mannigfaltigen Verlust“, der zu Depressionen, Traumata und Identitätsverwirrung führen oder diese verstärken kann - eine in Gaza weit verbreitete Persönlichkeitsstörung. Den wenigen verbliebenen Krankenhäusern in dem Gebiet fehlt die Ausrüstung für DNA-Tests, die dringend benötigt werden, um Tausende von Vermissten oder Verstorbenen zu identifizieren. Israel lässt keine Materialien für DNA-Tests nach Gaza einführen.

Aus diesem Grund und aufgrund des fortgeschrittenen Verwesungszustands vieler Leichen haben Gerichtsmediziner oft Schwierigkeiten, die Opfer zu identifizieren.

Im Rahmen des von den USA vermittelten Waffenstillstands übergab Israel – im Austausch für die von der Hamas zurückgegebenen Überreste von 15 Geiseln – 195 Leichen von Palästinensern an den Gazastreifen. Einige von ihnen waren mit verbundenen Augen, gefesselt an Händen und Füßen oder wiesen Schusswunden auf. Dutzende Leichen konnten seitdem identifiziert werden, aber mindestens 54 nicht identifizierte Palästinenser, die aus Israel zurückgebracht wurden, wurden diesen Monat beigesetzt.

Die polnische Dichterin und Literaturnobelpreisträgerin von 1996, Wisława Szymborska, schrieb: „Nach jedem Krieg muss jemand aufräumen. Jemand muss die Trümmer an den Straßenrand schieben, damit die mit Leichen beladenen Wagen vorbeifahren können.“

Jaco Cilliers, Sonderbeauftragter des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen zur Unterstützung des palästinensischen Volkes, skizziert den Umfang dieser Operation in Gaza: „Zunächst geht es darum, die Straßen zu räumen und Krankenhäuser, Schulen und andere soziale Einrichtungen zugänglich zu machen, daher werden dort die größten Trümmer beseitigt“, so Cilliers. „Wenn man eine zwölf Meter hohe Mauer um den Central Park bauen und sie mit Trümmern füllen würde, wäre das die Menge, die beseitigt werden muss.“

Das Umweltprogramm der Vereinten Nationen hat berechnet, dass es sieben Jahre dauern würde, bis 105 Lastwagen alle Trümmer beseitigt hätten. Die Fahrzeuge müssten sich durch eine zerstörte Landschaft bewegen, in der 77 Prozent des Straßennetzes beschädigt sind. Viele Straßen sind vollständig zerstört, blockiert oder auf andere Weise unpassierbar.

Die Arbeit wird durch gefährliche Trümmer wie Blindgänger und Asbest noch schwieriger und gefährlicher, so die Arbeitsgruppe der Vereinten Nationen für die Beseitigung von Trümmern im Gazastreifen. Seit Oktober 2023 hat der Minenräumdienst der Vereinten Nationen 147 Vorfälle im Zusammenhang mit Kampfmitteln in Trümmern registriert, bei denen 52 Menschen ums Leben kamen und Hunderte verletzt wurden.

Der Leiter des UNMAS-Programms, Luke Irving, sagt dazu: „Das Risiko besteht nun darin, dass die Menschen unter den Bedingungen des Waffenstillstands an den Ort zurückkehren, an dem sich ihre alten Häuser und Geschäfte befanden, und dass sie zu einem normalen Leben zurückkehren wollen, was völlig verständlich ist. Und wenn sie beginnen, Trümmer zu beseitigen, werden sie unweigerlich auf explosive Kampfmittel stoßen, wenn es in der Gegend zu schweren Kämpfen gekommen ist.“

Derzeit werden alle Hoffnungen in Gaza auf eine ausreichend umfassende Trümmerbeseitigung – und ganz allgemein auf eine Rückkehr zum normalen Leben – durch die anhaltenden israelischen Angriffe immer wieder zunichte gemacht.

Das Gebiet gleicht einem Flickenteppich aus Betonruinen und zerbrochenen Mauern, mit Kratern übersäten Stadtvierteln, Trümmerhaufen und Straßen, die ins Nichts führen. Die Frage, die sich stellt, ist nicht, was als Nächstes einstürzen könnte, sondern was, wenn überhaupt, wieder aufgebaut werden kann.


ree

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