top of page

Die Hungersnot im Gazastreifen dominiert die Schlagzeilen, doch die meisten Todesfälle sind auf israelische Luftangriffe zurückzuführen

  • office16022
  • vor 3 Tagen
  • 5 Min. Lesezeit

Aktualisiert: vor 2 Tagen

Obwohl der August weniger tödlich war als der Juli, wurden in Gaza täglich etwa 70 Menschen getötet. Der Versuch, zu klären, warum 29 israelische Angriffe durchgeführt wurden, bei denen 180 Menschen ums Leben kamen, stieß auf vage Antworten oder Schweigen.


Von Nir Hasson und Rawan Suleiman, Haaretz, 5. September 2025


(Originalbeitrag in englischer Sprache)

 

Am vergangenen Montag trafen vier Granaten das Nasser-Krankenhaus in Khan Yunis und töteten 22 Menschen. In den neun Minuten zwischen dem ersten und dem zweiten Angriff versammelten sich medizinisches Personal und Journalist*innen am Ort des ersten Treffers - auf der Nottreppe des Krankenhauses. Fernsehkameras waren dorthin gerichtet, weshalb der zweite, tödliche Angriff so ausführlich aufgezeichnet wurde.


Stunden später sah die Welt, wie ein präziser israelischer Militärschlag eine große Gruppe von Menschen – die meisten davon medizinisches Personal und Journalist*innen, keineR von ihnen bewaffnet – auf einer Treppe des Krankenhauses tötete. Die Empörung war so groß, dass sogar Premierminister Benjamin Netanjahu in einer ungewöhnlichen Geste eine Entschuldigung aussprach: „Israel bedauert zutiefst den tragischen Fehler, der heute im Nasser-Krankenhaus passiert ist“, schrieb Netanjahu auf seinem englischsprachigen X-Account - aber nicht auf seinem hebräischen Account.


Am selben Tag feuerte das israelische Militär wenige Kilometer nördlich des Krankenhauses eine Rakete ab, die ein Zelt von Vertriebenen traf. Bei dem Angriff kamen fünf Menschen ums Leben - die Eltern Odah und Aline Kawarea und ihre drei kleinen Kinder Issa, Aliyan und Hussam. Auf einem in den sozialen Medien geteilten Foto liegen die drei kleinen Leichen nebeneinander, ihre Gesichter von Granatsplittern zerfetzt. Odahs Bruder Ahmed berichtete der digitalen Nachrichtenagentur Ma'an, dass die Familie im Schlaf bei einem Drohnenangriff getötet wurde.


Er berichtete weiters, die Familie habe keine Verbindungen zu irgendeiner politischen Fraktion, und der Vater sei bereits ein Jahr zuvor bei einem Angriff verletzt worden, habe ein Auge verloren und sei an einer Lähmung der Hand gelitten. „Es gibt keinen sicheren Ort in Gaza; sie zwingen uns einfach, uns an einem Ort zu versammeln, um uns zu töten“, so der Bruder. Am selben Tag traf eine weitere Rakete ein anderes Zelt im Flüchtlingslager Nuseirat und tötete Scheich Imran Qudaih, seine Kinder Zakaria, Issa und Yahya sowie seinen 12-jährigen Enkel Anas.


An diesem Tag war nichts außergewöhnlich. Im Vergleich zu anderen Tagen im August war es sogar einer der Tage mit weniger Todesopfern im Gazastreifen. Im August kamen täglich durchschnittlich etwa 100 Menschen zu der vom Gesundheitsministerium in Gaza gemeldeten Zahl der Todesopfer hinzu. Mehrere Hundert Menschen wurden vermisst oder ihre Leichen erst lange nach ihrem Tod identifiziert.


Im Durchschnitt wurden täglich über 70 Menschen durch Beschuss im Gazastreifen getötet. Schätzungen zufolge wurden etwa 30 Prozent von ihnen in der Nähe von Lebensmittelverteilungszentren oder Hilfskonvois erschossen. Die meisten wurden durch Luftangriffe oder Artilleriefeuer getötet, die Zelte von Vertriebenen, Häuser und Menschen auf den Straßen trafen.


In den letzten Monaten richtete sich die Aufmerksamkeit der weltweiten Medien und Politik auf die Massenhungersnot im Gazastreifen. Frühere Berichte konzentrierten sich weitgehend auf den Tod von Hunderten von Menschen, die in Schlangen vor Lebensmittelausgabestellen warteten. Doch während dieser gesamten Zeit blieben Luftangriffe – wie während des gesamten Krieges – die häufigste Todesursache im Gazastreifen.


Haaretz übermittelte den israelischen Streitkräften eine Liste mit 29 dokumentierten Angriffen zwischen Ende Juli und Ende August, bei denen laut Angaben des palästinensischen Gesundheitsministeriums 180 Menschen ums Leben kamen, und bat um eine Stellungnahme des Militärs. Zu fünf der Angriffe gab die israelische Armee eine teilweise Antwort, wobei wichtige Fragen offen blieben: Was waren die Ziele der Angriffe? Wurde das Risiko für Zivilist*innen berücksichtigt? Wurde eine Untersuchung zu zivilen Opfern eingeleitet? Zu den übrigen 24 Angriffen fiel die Antwort völlig verallgemeinert aus.


Am 28. Juli wurden 15 Mitglieder der Familie Noufal getötet. Die israelische Armee gab an, dass das Ziel dieses Angriffs vier Militante gewesen seien. Am 11. August meldete die israelische Armee verdächtige Aktivitäten im Süden von Gaza-Stadt. Eine Rakete, die abgefeuert wurde, um die Bedrohung zu neutralisieren, traf ein Wohngebäude und tötete neun Menschen, darunter sechs Kinder der Familie Arhim. Al Jazeera veröffentlichte Aufnahmen, die zeigen, wie Mitarbeiter des Zivilschutzes die Leichen der Kinder zählen: „Hier ist ein Mädchen, und noch ein Mädchen, hier sind zwei Kinder, vier Mädchen und zwei Jungen“, sagte einer von ihnen.

Vier Tage später griff die 36. Division der israelischen Armee laut Angaben des Militärs ein „Gebäude an, das eine Bedrohung darstellte“. Bei dem Angriff wurden sieben Menschen getötet, darunter zwei Kleinkinder. Am selben Tag wurde auch „Verdächtige in einem Gebäude“ beschossen. Bei dem Gebäude handelte es sich um eine Schule im Stadtteil Al-Daraj, in der vertriebene Familien lebten. Sieben Menschen wurden getötet.


Die israelische Armee gab auch eine Erklärung für einen weiteren Angriff ab, bei dem ein Fischer auf See getötet worden war. Nach Angaben des Militärs war er „bei den Seestreitkräften der Hamas aktiv“. Zu dem Angriff, bei dem am 25. August – dem gleichen Tag, an dem das Nasser-Krankenhaus getroffen wurde – die Familie Kawarea getötet wurde, erklärte die israelische Armee, der Angriff sei „nicht bestätigt“ worden.


Zu den übrigen 24 Angriffen machte das Militär keine näheren Angaben, sondern beschränkte sich auf folgende allgemeine Erklärung: „Die israelische Armee greift ausschließlich militärische Ziele an und ergreift Maßnahmen, um Schäden für Zivilist*innen und zivile Infrastruktur gemäß den Gesetzen des bewaffneten Konflikts zu minimieren, einschließlich Vorsichtsmaßnahmen vor der Durchführung von Angriffen. Umgekehrt verstoßen terroristische Organisationen im Gazastreifen systematisch gegen das Völkerrecht und nutzen zivile Infrastruktur zynisch für terroristische Aktivitäten. Eine vorläufige Überprüfung deutet darauf hin, dass es sich bei den genannten Vorfällen um Angriffe auf terroristische Ziele handelte. Die Behauptungen in dem Bericht werden geprüft werden. In Fällen, in denen keine genauen Koordinaten angegeben wurden, war es nicht möglich, die Behauptungen des Journalisten zu überprüfen.“


Die Angriffe auf der Liste umfassen Angriffe auf Zelte, Wohngebäude und Schulen, in denen vertriebene Familien untergebracht waren. Unter anderem hat die israelische Armee nicht auf den Angriff reagiert, bei dem am 8. August die gesamte Familie Abu Hajras – Muhammad, Rana und ihre fünf Kinder – getötet wurde. Der Vater war ein palästinensischer Polizeioberst, der der Fatah und nicht der Hamas angehörte und außerdem als Kommunikationsingenieur arbeitete. Nach dem Tod der Familie erklärte Abu Hajras' Vater, sein Sohn habe die Palästinensische Autonomiebehörde und den Frieden unterstützt.


Die israelische Armee äußerte sich auch nicht zu der Tötung von sieben Mitgliedern der Familie Abu Hanidek am 13. August: Ahmad, 15; Mona, 8; Ali, 6; Ahmad, 4; und Muhammad, 2. An diesem Tag und am nächsten Tag berichteten Palästinenser*innen, dass die israelische Armee bei drei Angriffen auf Gebäude im Stadtteil Zeitoun in Gaza-Stadt mehr als 30 Menschen getötet habe.


Am 30. August, wenige Stunden vor der Ermordung des Hamas-Sprechers Abu Obeida, schlug eine weitere Rakete im Stadtteil Ansar in Gaza-Stadt ein, wo eine Reihe von Menschen auf Pitabrot wartete. Zwölf Menschen, darunter fünf Kinder, wurden getötet. Aufnahmen, die unmittelbar danach gemacht wurden, zeigten Bewohner*innen, die blutbeflecktes Pitabrot einsammelten, Leichen, die auf einen Lastwagen gestapelt wurden, und eine Mutter, die sich von ihrem Haus verabschiedete. Der Sprecher der israelischen Streitkräfte forderte von Haaretz die Koordinaten des Angriffs an und erhielt sie auch, aber es wurde keine Erklärung für das Ziel des Angriffs gegeben.


ree

 

Kommentare


bottom of page