Die Journalist*innen in Gaza werden vor den Augen der Weltöffentlichkeit zum Schweigen gebracht – wer wird unsere Geschichte erzählen?
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- 10. Sept.
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Letzten Monat wurde unser Zelt in Gaza-Stadt von Israel angegriffen, wobei meine Kollegen Anas al-Sharif, Mohammed Qreiqeh und vier weitere Journalisten ums Leben kamen, schreibt Wael al-Dahdouh, Leiter des Al-Jazeera-Büros in Gaza. Wie viele Menschenleben müssen noch sterben, bevor die Welt aufmerksam wird?
Von Wael al-Dahdouh, The Independent, 9. September 2025
(Originalbeitrag in englischer Sprache)
Seit mehr als 700 Tagen führt Israel einen verheerenden Krieg gegen Gaza - einen Krieg, dessen Ausmaß und Brutalität wenig Hoffnung oder Anzeichen für ein Ende lassen. Man muss keine Statistiken oder Berichte genauestens prüfen, um die Folgen zu begreifen; von dem Ort, den ich einst mein Zuhause nannte, ist einfach nichts mehr übrig.
Ich bin im Stadtteil al-Zaytoun in Gaza-Stadt geboren und aufgewachsen. Wir teilten unsere Nachbarschaft mit Flüchtlingsfamilien, die durch die Nakba von 1948 zur Flucht gezwungen worden waren - jene Katastrophe, die durch die Besetzung Israels und die Vertreibung unzähliger Palästinenser*innen aus ihren Städten und Dörfern gekennzeichnet war. Die Nakba war kein Kapitel, das 1948 endete, sondern ist eine fortdauernde Realität für jeden Palästinenser und jede Palästinenserin, die ihre Wurzeln in der Balfour-Erklärung von 1917 hat und durch Jahrzehnte der Vertreibung, Besetzung und Verleugnung fortbesteht.
Seit der Nakba haben die Palästinenser*innen wiederholte Kriege, Besatzung und die ständige Verkleinerung ihres Territoriums erdulden müssen - zuerst 1948 und dann erneut nach 1967 mit der Besetzung des Westjordanlands, Ostjerusalems und des Gazastreifens. Israel, das mit den 78 Prozent des historischen Palästinas, die es für sich beansprucht, nicht zufrieden ist, expandiert weiter und annektiert die verbleibenden palästinensischen Gebiete. Immer wieder steht die Welt vor einer grundlegenden Frage: Wie viel Leid, Enteignung und Zerstörung müssen die Palästinenser*innen noch erdulden, bevor Gerechtigkeit herrscht?
Als langjähriger Journalist habe ich über zahlreiche Kriege berichtet und mehr als drei Jahrzehnte lang langes und hartes Leid in Gaza ertragen. Doch nichts hätte mich auf den Krieg vorbereiten können, der seit 23 Monaten tobt, dessen Ausmaß und Auswirkungen beispiellos sind und der von Tragödien geprägt ist, die alles übertreffen, was ich bisher erlebt habe.
Meine bisherigen Erfahrungen scheinen jedoch nun nur noch eine Generalprobe gewesen zu sein, ein Vorspiel für das, was dieser Krieg Journalist*innen, der Bevölkerung Gazas und mir persönlich angetan hat. Der Verlust meiner Frau, meiner Kinder, meines Enkelkindes und meiner Verwandten sowie die körperlichen Verletzungen, die ich durch wiederholte Angriffe erlitten habe, haben mir Wunden zugefügt, die mit Worten nicht zu beschreiben sind. Dieser Verlust zwingt mich, meine berufliche und humanitäre Pflicht weiter zu erfüllen, damit die Welt die bittere Wahrheit erfährt – egal wie schmerzhaft sie auch sein mag.
Während meines derzeitigen Besuchs in London und im britischen Unterhaus möchte ich mich an die gewählten Vertreter*innen wenden und sie auf die Zerstörung in Gaza aufmerksam machen. Ich bin geneigt, mich der erschütternden Wahrheit zu stellen: Wie konnte Israel solche Verbrechen so offen begehen, während die Welt zusah? Dies ist ein Völkermord, der rund um die Uhr in den internationalen Medien und sozialen Netzwerken übertragen wird. Es ist vielleicht der erste Krieg, in dem die Opfer selbst ihre Geschichte erzählen mussten, nicht aus freien Stücken, sondern aus Notwendigkeit.
Dieser Krieg ist anders. Obwohl weltweit darüber berichtet wurde, fehlte es der Berichterstattung weitgehend an Kontext und sie spiegelte selten die Perspektive der Opfer wider, einschließlich jene der Journalist*innen. Stattdessen wiederholte sie oft die Darstellung des Angreifers. Die Opfer in Gaza wurden auf bloße Zahlen reduziert, ihrer Emotionen, ihres Wertes und ihres Mitgefühls beraubt. Die Berichterstattung der internationalen Medien war überwiegend mit den Besatzungstruppen sympathisierend, wobei die Opfer regelmäßig aufgefordert wurden, zu rechtfertigen, warum die gezielten Angriffe auf Babys, Frauen und Kinder unrechtmäßig waren. Schulen, Krankenhäuser, Moscheen, Kirchen und Wohnhäuser wurden bombardiert, was zum Tod unzähliger Zivilist*innen führte, doch viele Nachrichtenredaktionen wiederholten einfach die Behauptungen und Propaganda der israelischen Besatzungsstreitkräfte. Im krassen Gegensatz zu dem, was Seymour Hersh und andere während des Vietnamkriegs erreicht haben, sind viele Menschen in Gaza heute der Meinung, dass die internationalen Nachrichtenredaktionen uns im Stich gelassen haben, indem sie zu nichts anderem als einer Verlängerung der israelischen Öffentlichkeitsarbeit geworden sind. [Seymour Hersh (*1937) ist ein US-amerikanischer investigativer Journalist und politischer Publizist, der 1969 weltweite Anerkennung für die Aufdeckung des zunächst vertuschten Massakers von My Lai während des Vietnamkriegs erlangte, Anm.]
Bis heute wurden fast 250 Journalist*innen getötet - viele von ihnen wurden systematisch ins Visier genommen und ermordet, während die Welt schweigend zusah. Ich habe meinen geliebten Sohn Hamza verloren, ebenso wie neun weitere Kollegen, darunter meinen Kameramann Samer Abu Daqqa, der während eines Einsatzes getötet wurde, bei dem ich selbst verletzt wurde und wie durch ein Wunder überlebte. All diese ermordeten Journalist*innen wurden allein deshalb ins Visier genommen und zum Schweigen gebracht, weil sie sich dafür entschieden hatten, ihre berufliche Pflicht zu erfüllen und die Verbrechen gegen die Bevölkerung von Gaza aufzudecken.
Israel, dem es von Anfang an gelungen ist, ausländische Korrespondent*innen auszuschließen und die meisten lokalen palästinensischen Journalist*innen in Gaza zum Schweigen zu bringen, geht nun dazu über, jedeN zu verteufeln, der es wagt, ein Mikrofon in die Hand zu nehmen oder sich vor eine Kamera zu stellen. Israels größte Angst ist es, dass die Welt das wahre Ausmaß seiner Verbrechen erfährt, insbesondere wenn diese Berichte eines Tages vor internationalen Gerichten als Beweismittel dienen könnten, und zieht es daher vor, weiterhin in völliger Straffreiheit zu handeln.
Ein Monat nach dem Angriff auf das Zeltlager des Al-Jazeera-Teams in Gaza-Stadt und der Ermordung von Anas al-Sharif – den Israel fälschlicherweise als Hamas-Aktivisten beschuldigte, was der UN-Sonderberichterstatter als Verleumdungskampagne bezeichnete – sowie von Mohammed Qreiqeh und vier weiteren Journalisten ist klar, dass Israels anhaltende Angriffe systematisch und vorsätzlich sind. Die Angriffe dauern an und hat sich kürzlich mit der Ermordung von fünf Journalist*innen bei einem doppelten Angriff auf das Nasser Krankenhaus verschärft.
Was Israel Zivilist*innen und Journalist*innen antut, ist eine altbekannte Strategie, die leider nicht überrascht. Was uns mehr schockiert, ist die Untätigkeit der Staats- und Regierungschefs weltweit, insbesondere derjenigen, die sich seit langem für Pressefreiheit und Menschenrechte einsetzen. Israel hat diesen Völkermord ausgelöst, weil es zu Recht davon ausgeht, dass seine militärische Stärke und seine Allianzen ihm Straffreiheit gewähren, um Krieg gegen eine gefangene, wehrlose Bevölkerung zu führen. Die sogenannte „freie Welt” bleibt durch ihr ohrenbetäubendes Schweigen – und in einigen Fällen sogar durch ihre aktive Unterstützung – mitschuldig.
Die Welt hat Gaza, seine Bevölkerung und seine Journalist*innen im Stich gelassen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die internationale Gemeinschaft oder Journalist*innen mit solcher Gleichgültigkeit reagiert hätten, wenn solche Verbrechen anderswo begangen worden wären.
Insbesondere Großbritannien trägt eine historische und moralische Verantwortung gegenüber dem palästinensischen Volk. Es muss nun Führungsstärke zeigen, sich für eine gerechte Lösung einsetzen und einem der letzten Überbleibsel des kolonialen Expansionismus in der Welt ein Ende setzen.
Wir, die Journalist*innen von Gaza, haben einen unvorstellbar hohen Preis bezahlt - mit unserem Blut, dem Verlust unserer Familien und der Zerstörung all dessen, was uns lieb und teuer ist. Wir geloben, unserem Beruf treu zu bleiben, die Verbrechen gegen unser Volk zu dokumentieren und unsere Geschichte zu erzählen, bis der letzte Journalist gestorben ist.
Es gibt kaum noch Journalist*innen in Gaza, die davon berichten können. Ich appelliere an meine Kolleg*innen in Großbritannien und weltweit: Jetzt seid ihr an der Reihe, die Fackel weiterzutragen, auch wenn es schon spät ist.
Ohne eure Stimmen werden unsere vielleicht nicht mehr lange überleben.
Wael al-Dahdouh ist Leiter des Al-Jazeera-Büros in Gaza.




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