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Die Journalisten in Gaza sind talentiert, professionell und integer. Deshalb nimmt Israel sie ins Visier.

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  • 19. Aug.
  • 5 Min. Lesezeit

Die jüngsten Morde haben die Welt erschüttert und Empörung ausgelöst. Aber über das Niveau des palästinensischen Journalismus wird wenig gesprochen.


Von Nesrine Malik, The Guardian, 18. August 2025

(Originalbeitrag in englischer Sprache)

 

Zum ersten Mal traf ich Tamer Almisshal, den Leiter des Al-Jazeera-Teams in Gaza, im Juli letzten Jahres. Sein Team hatte bereits zwei Journalisten beerdigt, Hamza al-Dahdouh und Samer Abu Daqqa. Die anderen, erzählte er mir, litten Hunger. Außerdem hatten sie mit der Beschaffung von Schutzausrüstung, Drohungen der israelischen Streitkräfte und der Ermordung von Familienangehörigen zu kämpfen. Ismail al-Ghoul hatte seine Frau und sein Kind seit Monaten nicht gesehen und vermisste sie sehr. Hossam Shabat, Mohammed Qraiqea und Anas al-Sharif baten um Zeit, um morgens Lebensmittel zu besorgen, bevor sie mit ihrer Berichterstattung beginnen konnten. Heute sind sie alle tot.


Ich sprach mit verschiedenen Mitgliedern des Gaza-Teams, während ich ein Profil über den erfahrenen Gaza-Reporter Wael al-Dahdouh schrieb, der seine Frau, drei seiner Kinder und seinen Enkel verloren hatte. Alle sprachen von ihrer Arbeit als einer Pflicht, die trotz der Risiken erfüllt werden müsse. Seitdem wurden drei Mitglieder dieses Teams in einer Reihe von Attentaten getötet. Jedes Mal, wenn ich mein Beileid aussprach, lautete die Antwort, dass die Berichterstattung nicht eingestellt werde. „Wir machen weiter“, sagte mir der Redakteur in Gaza letzte Woche, nachdem er sein gesamtes Team in Gaza-Stadt bei dem gezielten Angriff verloren hatte, der Anas Al-Sharif, Mohammed Nofal, Ibrahim Thaher und Mohammed Qraiqea das Leben kostete. „Wir werden ihre Botschaft und ihre letzten Wünsche nicht verraten.“


Während diese Morde die Welt erschütterten – und die Reaktionen darauf in unbewiesenen und in einigen Fällen lächerlich unglaubwürdigen Behauptungen versanken, dass einige dieser Journalisten Militante gewesen seien –, wurde wenig über das Niveau des Journalismus in Gaza gesprochen. Wie flüssig, eloquent und gelassen seine Journalist*innen unter unmöglichen Umständen sind. Wie sehr sie es schaffen, täglich schreckliche Ereignisse und Schmerzen in einem journalistischen Arabisch festzuhalten, das sie zu einer Kunst perfektioniert haben, während sie vor der Kamera professionell und gefasst bleiben. Wie sehr sie es schaffen, einen kühlen Kopf zu bewahren. Ich hatte oft Mühe, ihre Worte ins Englische zu übersetzen, so reichhaltig und ausdrucksstark ist ihre Sprache. Selbst Al-Sharifs letzte Botschaft, ein Text für die Ewigkeit, verliert in der Übersetzung etwas von ihrer Kraft. Darin spricht er diejenigen an, die uns „den Atem genommen“ haben, aber das Wort, das er verwendet, kommt eher „belagert“ nahe – und erinnert nicht nur an physische Erstickung, sondern auch an das Zum-Schweigen-Bringen der Stimme eines besetzten Volkes.


Was mir auffällt, wenn ich mit Journalist*innen in und aus Gaza spreche, ist, wie überzeugend und herzzerreißend idealistisch sie sind; wie sehr Journalismus für sie eine Pflicht war, selbst wenn dies den sicheren Tod bedeutete. Alle, die getötet wurden, hatten eine Wahl, und diejenigen, die noch am Leben sind und berichten, haben sie immer noch. Al-Sharif sagte, er sei in den letzten zwei Jahren mehrmals von israelischen Behörden bedroht worden. Al Jazeera berichtete mir, dass er eine Warnung vom israelischen Geheimdienst erhalten habe, mit der Berichterstattung aufzuhören. Als er sich weigerte, wurde sein Vater bei einem Luftangriff getötet. Als Al-Ghoul Anfang letzten Jahres die Nachfolge von Al-Dahdouh antrat, sagte Al-Dahdouh ihm, dass es ein gefährlicher Job ist und niemand ihm einen Vorwurf machen würde, wenn er seinen Posten aufgeben und zu seiner Frau und seinem Kind zurückkehren würde. Al-Ghoul lehnte ab und wurde bei einem gezielten Angriff enthauptet.


Mit diesen Morden versucht die israelische Regierung nicht nur, den Strom vernichtender Berichte und Bildmaterialien zu stoppen, sondern auch das Bild der Palästinenser*innen zu zerstören, das diese Medienprofis vermitteln. Die Glaubwürdigkeit, die Würde und das Talent, die die Journalist*innen aus Gaza in ihren Berichten und Social-Media-Beiträgen der Welt zeigen, müssen ausgelöscht werden. Je mehr Gaza als ein Ort dargestellt wird, an dem es von Militanten nur so wimmelt, an dem es keine zuverlässigen Berichterstatter*innen gibt und an dem Israels Rechtfertigungen für Tötungen und Hungersnöte nicht durch glaubwürdige Zeug*innen angefochten werden können, desto leichter kann Israel seinen Völkermord fortsetzen.


Eine aktuelle Untersuchung des +972 Magazine und Local Call hat die unhelvoll benannte „Legitimierungszelle“ identifiziert, eine Einheit des israelischen Militärs, die laut dem Bericht damit beauftragt ist, „in Gaza ansässige Journalist*innen zu identifizieren, die als verdeckte Hamas-Agenten dargestellt werden können, um die wachsende weltweite Empörung über die Tötung von Reporter*innen durch Israel zu dämpfen“. Den Quellen der Untersuchung zufolge wird diese Maßnahme „von der Wut getrieben, dass in Gaza ansässige Reporter*innen‚ den Namen [Israels] vor der Welt in Verruf bringen‘“.


Im Mittelpunkt dieser Bemühungen steht die Tatsache, dass Israel sich darauf verlassen kann, dass westliche Medien seine Behauptungen immer als irgendwie plausibel behandeln, obwohl sich diese Behauptungen immer und immer wieder als unwahr herausgestellt haben. Rettungskräfte, die laut israelischer Armee getötet wurden, weil sie sich „verdächtig näherten“, wurden laut Angaben gefesselt und mit Schüssen im Stil einer Hinrichtung aufgefunden. Die Behauptung, die Hamas würde systematisch Hilfsgüter stehlen, die zur Rechtfertigung der Blockade und Hungersnot herangezogen wird, wurde von Quellen innerhalb des israelischen Militärs selbst widerlegt. Genauso behauptete Israel, nicht sie, sondern die Hamas sei es, die auf Palästinenser*innen schießt, die für Hilfsgüter anstehen.


Letztendlich verdient dieses Verhalten die Bezeichnung, die es verdient: systematische Täuschung, die ihr Recht auf Glaubwürdigkeit als Autorität zunichte macht. Und dennoch wird uns erzählt, dass Israel einen Journalisten getötet hat, aber Israels Behauptung, dass der Journalist ein Militant war, wird sofort nachgeschoben. Sie sollen sich selbst ein Urteil bilden. Die daraus resultierende Zweideutigkeit bedeutet, dass diese Behauptungen, selbst wenn sie nicht überprüft werden können, mit potenzieller Wahrheit behaftet sind. Sehen Sie, wie das funktioniert?


Die Wahrheit ist, dass Journalist*innen in Gaza von vielen ihrer Kolleg*innen in den westlichen Medien kolossal im Stich gelassen wurden - nicht nur in Bezug auf die Berichterstattung über ihre Ermordung, sondern auch in Bezug auf die Darstellung des gesamten Konflikts. Die Zahlen der Toten und Hungernden in Gaza werden oft als von „Hamas-geführten“ Ministerien stammend beschrieben, aber man sieht keine Vermerke, dass die Aussagen der israelischen Behörden als serienmäßig unzuverlässig einzustufen sind, oder den Zusatz „vom Internationalen Strafgerichtshof gesucht“ neben dem Namen Benjamin Netanjahu. Unterdessen reichen die Aussagen palästinensischer Journalist*innen nie ganz aus - nicht bevor ausländische Medien (die keinen Zugang zu Gaza haben) ihr endgültiges Urteil als Goldstandard abgegeben haben. Sie werden aus dem Journalismus verbannt und ihre Wahrheit wird mit ihnen begraben.


In Gaza wird es jedoch immer jemanden geben, der mutig und hellsichtig ist und der die Berichterstattung fortsetzt. Der eine Presseschutzweste anzieht, die ihn zur Zielscheibe macht. Sie tragen weiterhin allein die Verantwortung, der Welt die Realität der Ereignisse in Gaza zu vermitteln, auch wenn ihre Stimmen und ihr Atem unter Beschuss stehen.

 

Nesrine Malik ist Kolumnistin bei The Guardian.


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