Die Mathematik des Hungers: Wie Israel eine Hungersnot in Gaza verursachte
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- 6. Aug.
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Israel kontrolliert den Lebensmittelfluss nach Gaza. Es wurde berechnet, wie viele Kalorien die Palästinenser*innen zum Überleben benötigen. Die Daten zeigen, dass nur ein Bruchteil davon zugelassen wurde.
Von Emma Graham-Harrison, The Guardian, 31. Juli 2025
(Originalbeitrag in englischer Sprache)
Die Mathematik der Hungersnot in Gaza ist einfach. Die Palästinenser*innen können das Gebiet nicht verlassen, der Krieg hat die Landwirtschaft zerstört und Israel hat den Fischfang verboten, sodass praktisch jede Kalorie, die die Bevölkerung zu sich nimmt, von außerhalb herbeigeschafft werden muss.
Israel weiß, wie viel Nahrung benötigt wird. Seit Jahrzehnten reguliert es den Hunger in Gaza, indem es zunächst die Lieferungen so berechnet, dass Druck ausgeübt wird, ohne dass es zu einer Hungersnot kommt.
„Die Idee ist, die Palästinenser*innen auf Diät zu setzen, aber nicht, sie verhungern zu lassen“, sagte ein hochrangiger Berater des damaligen Premierministers Ehud Olmert im Jahr 2006. Ein israelisches Gericht ordnete zwei Jahre später die Freigabe von Dokumenten an, die die Details dieser makabren Summen enthielten. Cogat, die israelische Behörde, die nach wie vor die Hilfslieferungen nach Gaza kontrolliert, berechnete damals, dass die Palästinenser*innen durchschnittlich mindestens 2 279 Kalorien pro Person und Tag benötigten, was durch 1,836 kg Lebensmittel gedeckt werden könnte.
Heute fordern humanitäre Organisationen eine noch geringere Mindestration: 62 000 Tonnen Trocken- und Konservennahrung, um den Grundbedarf von 2,1 Millionen Menschen pro Monat zu decken, was etwa 1 kg Nahrung pro Person und Tag entspricht.
Während Gaza in diesem Sommer in eine Hungersnot gestürzt ist, haben israelische Politiker*innen die Existenz einer Massenhungersnot auf verschiedene Weise geleugnet, ohne Beweise behauptet, dass die Hamas Hilfsgüter stiehlt und hortet, oder die Hungersnot auf Versäumnisse der UN bei der Verteilung zurückgeführt und Bilder von Hilfsgüterpaletten gezeigt, die innerhalb der Grenze auf ihre Abholung warten. Sie verwiesen auf die tödlichen und chaotischen Lebensmittelverteilungen durch die Gaza Humanitarian Foundation, ein von den USA und Israel unterstütztes Logistik-Startup, als Beweis dafür, dass die Palästinenser*innen Zugang zu Lebensmitteln hatten.
Doch Daten, die von der israelischen Regierung selbst zusammengestellt und veröffentlicht wurden, machen deutlich, dass sie Gaza ausgehungert hat. Zwischen März und Juni ließ Israel laut Aufzeichnungen der Cogat nur 56 000 Tonnen Lebensmittel in das Gebiet einführen, weniger als ein Viertel des Mindestbedarfs von Gaza für diesen Zeitraum.
Selbst wenn jeder Sack Mehl der Vereinten Nationen eingesammelt und verteilt worden wäre und die GHF sichere Systeme für eine gerechte Verteilung entwickelt hätte, wäre eine Hungersnot unvermeidlich gewesen. Die Palästinenser*innen hatten nicht genug zu essen.
Eine Hungersnot mit „Worst-Case-Szenario“ breitet sich derzeit in Gaza aus, sagten von den Vereinten Nationen unterstützte Expert*innen für Ernährungssicherheit diese Woche. Die Lebensmittellieferungen liegen „weit unter dem Bedarf“, während „die Einfuhr von Hilfsgütern drastisch eingeschränkt“ ist, heißt es in einem Bericht der Integrated Food Security Phase Classification (IPC), der sich auf israelische Zahlen zur Hilfe stützt. Das Famine Review Committee (FRC), eine unabhängige Expertengruppe, die IPC-Warnungen überprüft, sagte, die Lebensmittellieferungen seien „völlig unzureichend“ gewesen, und hob die GHF besonders hervor: „Unsere Analyse der von der GHF gelieferten Lebensmittelpakete zeigt, dass ihr Verteilungsplan zu einer Massenhungersnot führt, selbst wenn er ohne die erschreckende Gewalt, über die berichtet wurde, funktioniert würde.“, so der FRC.
Im März und April stand Gaza unter vollständiger Belagerung, sodass keine Lebensmittel ins Land gelangen konnten. Mitte Mai erklärte Netanjahu, dass die Lieferungen aufgrund des internationalen Drucks wegen einer „Hungerkrise“ wieder aufgenommen werden würden.
Nur wenige Wochen zusätzlicher Hilfslieferungen während der Waffenruhe im Januar und Februar dieses Jahres lieferten laut UN-Daten gerade noch genügend Kalorien, um Gaza damals vor einer Hungersnot zu bewahren. Im Mai kamen jedoch nur noch wenige Lebensmittel an, deren Menge lediglich dazu diente, den Abstieg Gazas in die Hungersnot zu verlangsamen, nicht aber, ihn zu stoppen. Zwei Monate später hat das Ausmaß des Leids nun eine weitere Welle internationaler Empörung ausgelöst, darunter Forderungen von Donald Trump, „jedes Gramm Lebensmittel“ an hungernde Kinder zu verteilen.
Als Reaktion darauf hat Netanjahu nur „minimale“ zusätzliche Hilfe zugesagt. Die Zahl der Lebensmittel-Lkw, die das Gebiet erreichen, ist zwar gestiegen, liegt aber immer noch weit unter dem Minimum, das erforderlich wäre, um die Palästinenser*innen dort zu ernähren, geschweige denn eine Hungersnot abzuwenden.
Luftabwürfe, die während des gesamten Krieges sporadisch eingesetzt wurden, wurden ebenfalls wieder aufgenommen. Frankreich, Deutschland, Großbritannien, Ägypten, Jordanien und die Vereinigten Arabischen Emirate gehören zu den Ländern, die Flüge angekündigt haben, obwohl der Abwurf von Lebensmitteln per Fallschirm teuer, ineffizient und mitunter für die Menschen am Boden tödlich ist. Im vergangenen Jahr ertranken mindestens zwölf Menschen bei dem Versuch, im Meer gelandete Lebensmittel zu bergen, und mindestens fünf wurden getötet, als Paletten auf sie fielen.
In den ersten 21 Monaten des Krieges lieferten 104 Tage Luftabwürfe laut israelischen Daten nur Lebensmittel für vier Tage für Gaza, wobei die Kosten sich auf mehrere zehn Millionen Dollar beliefen. Würde man das gleiche Budget für Lastwagen ausgeben, könnte man viel mehr Lebensmittel liefern, aber der Wert dieser Flüge ist nicht nur finanzieller Natur. Sie ermöglichen es Israel und seinen Verbündeten, die Hungersnot als eine durch logistische Probleme verursachte Katastrophe darzustellen und nicht als eine durch die Politik des Staates verursachte Krise.
Luftabwürfe werden in der Regel als letztes Mittel eingesetzt, um Menschen in Notsituationen zu versorgen, in denen feindliche Streitkräfte oder geografische Gegebenheiten Lieferungen auf dem Landweg unmöglich machen. In Gaza sind die einzigen Hindernisse für die Lieferung von Hilfsgütern über die Grenze hinweg die Beschränkungen, die von Israel auferlegt werden, einem Verbündeten vieler westlicher Nationen, darunter Großbritannien, und das mit britischen und US-amerikanischen Waffen ausgerüstet ist.
Zwei in Israel ansässige Menschenrechtsorganisationen erklärten diese Woche, dass Israel in Gaza Völkermord begehe, wobei sie sich auf Berichte stützten, die Beweise wie die Instrumentalisierung des Hungers anführten. B’tselem beschrieb eine „offizielle und offenkundig erklärte Politik“ der Massenverhungerung.
Die israelische Regierung weiß, wie viel Nahrung die Menschen in Gaza zum Überleben benötigen und wie viel Nahrung in das Gebiet gelangt, und hat diese Daten in der Vergangenheit verwendet, um zu berechnen, wie viel Nahrung benötigt wird, um eine Hungersnot zu vermeiden. Die große Lücke zwischen dem Kalorienbedarf Gazas und den seit März eingeführten Lebensmitteln macht deutlich, dass israelische Politiker*innen heute andere Berechnungen anstellen.
Sie können die Verantwortung für diese von Menschen verursachte Hungersnot nicht auf andere abwälzen, ebenso wenig wie ihre Verbündeten.




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