„Die Situation ist jenseits aller Vorstellungskraft“
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- 6. Mai
- 11 Min. Lesezeit
Die Mitarbeiterin einer Hilfsorganisation berichtet, wie Hunderttausende von Menschen im Gazastreifen genau zwei Monate, nachdem Israel alle Hilfslieferungen eingestellt hat, verzweifelt nach Lebensmitteln suchen und ums Überleben kämpfen.
Von Isaac Chotiner, The New York Times Magazine, 2. Mai 2025
(Originalbeitrag in englischer Sprache)
Mitte Januar einigten sich Israel und die Hamas auf einen Waffenstillstand und beendeten damit vorübergehend den Krieg im Gazastreifen, der nach den Angriffen vom 7. Oktober 2023 begann und bei dem mehr als fünfzigtausend Palästinenser*innen getötet wurden. (Die Zahl der israelischen Todesopfer des Hamas-Angriffs und des darauf folgenden Krieges beläuft sich auf insgesamt etwa dreitausend). Während der ersten fünfzehn Monate des Krieges wurde das Verhalten Israels, insbesondere die Weigerung, ausreichende Mengen an Hilfsgütern in den Gazastreifen zu lassen, international verurteilt. Während des Waffenstillstands verbesserte sich die humanitäre Lage, doch Anfang März stellte Israel die Hilfe vollständig ein, die Gespräche über eine Verlängerung des Waffenstillstands scheiterten. Seitdem sind die Kriegshandlungen wieder in vollem Umfang aufgenommen worden, die im Gazastreifen noch vorhandenen Lebensmittel und Medikamente reichen für die Bedürfnisse der Bevölkerung nicht aus.
Vor kurzem sprach ich telefonisch mit Louise Wateridge, einer leitenden Mitarbeiterin des Hilfswerks der Vereinten Nationen für Palästinaflüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA). Wateridge hat den Gazastreifen im Dezember 2024 verlassen, und das internationale Personal des UNRWA darf seit einigen Monaten nicht mehr in das Gebiet zurückkehren. (Letztes Jahr verabschiedete die israelische Regierung zwei Gesetze, die im Januar in Kraft traten und die es der israelischen Regierung verbieten, mit der UNRWA zu kommunizieren und die es der UNRWA untersagen, in Israel oder den besetzten Gebieten tätig zu werden. Die UNRWA-Mitarbeiter*innen vor Ort haben versucht, ihre Arbeit fortzusetzen). Ich wollte verstehen, was sich während des Waffenstillstands vor Ort verändert hatte und mit welcher neuen Realität die Menschen im Gazastreifen seit dessen Ende konfrontiert sind. Während unseres Gesprächs, das aus Gründen der Länge und Klarheit gekürzt wurde, sprachen wir auch darüber, wie die Mitarbeiter*innen der Hilfsorganisationen versuchen, mit den lebensbedrohlichen israelischen Militäraktionen umzugehen, was das Ende der Kommunikation zwischen dem UNRWA und der israelischen Regierung für die künftige Bereitstellung von Hilfsgütern bedeuten könnte und wie sich die Gesellschaft im Gazastreifen angesichts der zunehmenden Verzweiflung der hungernden Menschen weiter auflösen wird.
Wie würden Sie die derzeitige Situation beschreiben - die Zeit nach dem Ende des Waffenstillstands?
Heute kann man wohl mit Sicherheit sagen, dass alle Fortschritte, die während des Waffenstillstands erzielt wurden, wieder zunichte gemacht wurden. Seit Freitag, dem 2. Mai, sind nun genau zwei Monate vergangen, in denen absolut keine Lieferungen in den Gazastreifen gelangt sind. Und das gilt nicht nur für humanitäre Lieferungen, sondern für alle Lieferungen. Es geht um kommerzielle Lieferungen, um Treibstoff, Lebensmittel und Medikamente. Es geht um absolut alles. Seit zwei Monaten ist nichts mehr in den Gazastreifen gelangt.
Man konnte wochenlang sehen, was während des Waffenstillstands erreicht worden war. UNRWA war in der Lage, die gesamte Bevölkerung während des Waffenstillstands zu ernähren. Wir haben fünfhunderttausend Menschen mit Hilfsgütern versorgt, d. h. mit Unterkünften, Hygieneartikeln und dergleichen. Die Erfolge der Kolleg*innen vor Ort waren groß, weil wir unsere Arbeit machen konnten. Die jetzige Situation übersteigt jede Vorstellungskraft und lässt sich nicht in Worte fassen, denn die Menschen verhungern im Grunde genommen. Es sind bewusste Entscheidungen, die getroffen werden, die verhindern, dass Nachschub kommt. Und das geht jetzt schon seit zwei Monaten so. Wenn wir mit unseren Kolleg*innen sprechen, wenn wir mit Menschen in Gaza sprechen, dann erfahren wir, dass Kinder jetzt verhungern. Die Menschen überleben mit einer Mahlzeit am Tag. Die Menschen haben keine Medikamente.
Ich möchte nur kurz einen Schritt zurückmachen um zu verstehen, was während des Waffenstillstands geschah. Vor dem Waffenstillstand hörten wir von der Unmöglichkeit, Waren über die Grenze zu bringen, und von Problemen bei der Verteilung von Waren innerhalb des Gazastreifens. Was hat sich also in dieser Zeit geändert?
Der eigentliche Unterschied war der Zugang. Wir verbrachten mehr als ein Jahr, vom 7. Oktober 2023 bis Januar 2025, mit humanitärer Hilfe, die in jeder Hinsicht gedrosselt war. Unsere Einrichtungen wurden bombardiert. Sie wurden in Mitleidenschaft gezogen. Ich habe Stunden damit verbracht, ich kann Ihnen nicht sagen, wie viele Stunden, in Konvois zu sitzen und darauf zu warten, den Menschen Hilfe zu bringen, darauf zu warten, dass die Konvois sich bewegen können, darauf zu warten, dass wir Zugang bekommen und dass uns der Zugang verweigert wird, dass wir abgewiesen werden. Ich war letztes Jahr um diese Zeit in Rafah, bevor die Militäroperationen begannen. Damals lebten dort 1,4 Millionen Menschen, und es herrschte Chaos. Aber während des Waffenstillstands wurden uns Bulldozer und Maschinen geliefert, die wir brauchten. Wir bekamen Lebensmittel geliefert. Die Plünderungen gingen zurück, weil die Menschen hatten, was sie brauchten. Wir waren in der Lage, den Menschen in allen Gebieten des Gazastreifens Dienstleistungen und Hilfe zukommen zu lassen, was vor dem Waffenstillstand einfach nicht der Fall war. Das geschah wirklich über Nacht.
Was meinen Sie mit Zugang? Können Sie mehr darüber erzählen?
Fast ein ganzes Jahr lang habe ich mit Ärzt*innen in Krankenhäusern gesprochen, und sie sagten: „Wir haben immer genug Treibstoff für etwa drei Tage.“ Am ersten Tag hatten sie genug Treibstoff. Damit werden die Generatoren betrieben, die die Brutkästen am Laufen halten, die wiederum Babys am Leben erhalten. Die Maschinen, die Klimaanlagen in den Intensivstationen, alles, was ein Krankenhaus am Laufen hält, wurde von diesen Generatoren mit Treibstoff betrieben. Am ersten Tag hatten sie also alles. Am zweiten Tag mussten sie die Maschinen abschalten und die Klimaanlagen abschalten. Die Fliegen kamen in die Intensivstation, weil sie die Fenster öffnen mussten, weil es keine Klimaanlage gab. Und am dritten Tag mussten sie anfangen, die Maschinen abzuschalten, und dann gab es wieder genug Treibstoff, weil wieder ein bisschen hereingelassen wurde.
Die Menschen hatten vielleicht in der einen Woche genug zu essen, aber was passierte in der nächsten Woche? Es war also der Zugang zu den Vorräten, der sich änderte. Während des Waffenstillstands kamen Tausende von Lastwagen, was vor dem Waffenstillstand nicht der Fall war. Vor dem Waffenstillstand hatten wir manchmal vielleicht fünfzig Lastwagen pro Tag. Und vieles davon wurde geplündert, weil die Bevölkerung so verzweifelt war. Während des Waffenstillstands stieg diese Zahl auf mehr als viertausend Lastwagen pro Woche. Die Menschen bekamen auch Zelte. Dadurch änderte sich vieles.
Aber es war auch der Zugang, den wir innerhalb des Gazastreifens hatten. Es gab Gebiete, die wir seit Monaten nicht mehr gesehen haben. Rafah war eines davon. Unsere Mitarbeiter*innen konnten in ihre Häuser in Rafah zurückkehren. Wir hatten Zugang zu Einrichtungen, die wir monatelang nicht gesehen hatten, weil uns der Zugang verwehrt wurde. Wir konnten einige der Gesundheitszentren wieder aufbauen. Wir konnten einige dieser Einrichtungen reparieren und sie wieder als Gesundheitszentren und als Unterkünfte nutzen.
Das Gleiche galt für Jabalia. Ende des letzten Jahres war Jabalia vollständig belagert. Nach dem Waffenstillstand hatten wir Zugang zu diesen Gebieten. Wir konnten Menschen finden. Die Menschen konnten nach Hause zurückkehren. Traurigerweise konnten die Menschen in die Gebäude zurückkehren, in denen sie gelebt hatten, und ihre Angehörigen bergen. Viele Menschen, die ich kenne, und viele unserer Kolleg*innen kehrten nach dem Waffenstillstand als Erstes in ihre Häuser zurück, um zu graben und ihre Familien zu finden, die noch unter den Trümmern lagen – manche hatten wochenlang dort gelegen, manche mehr als ein Jahr –, um sie zu beerdigen und in Würde zu trauern und diese Menschen zur letzten Ruhe zu betten. Das war also die Situation, die wir während des Waffenstillstands hatten. Und jetzt ist all das verloren. Wir hatten auch damit begonnen, über fünfzigtausend Kinder wieder zu unterrichten, aber auch das wurde stark beeinträchtigt.
Als ich mich im ersten Kriegsjahr mit Ihnen und anderen Helfer*innen unterhielt, sagten Sie, dass die Hilfe immer unzureichend war, dass sie aber selten bei Null lag. Was gebraucht wurde, waren fünfhundert Lastwagen pro Tag, aber stattdessen wurden hundert oder zweihundert oder fünfundsiebzig zugelassen. Aber was jetzt passiert – null Lastwagen – ist um ein Vielfaches schlimmer.
Ich denke, das kann man durchaus so sagen. Wir bräuchten etwa fünfhundert Lastwagen pro Tag, um den Bedarf von zwei Millionen Menschen zu decken, und wir bekommen keinen einzigen.
Ihre Kontakte mit der israelischen Regierung waren im letzten Jahr begrenzt, aber wie sieht es jetzt aus? Haben Sie Verständnis dafür, wie die Regierung erklärt, was passiert?
Seit dem Inkrafttreten des Knesset-Gesetzes Ende Januar haben wir keinen Kontakt mehr zu den israelischen Behörden. Sie werden nicht mit der UNRWA kommunizieren. Die Koordinierung und Kommunikation läuft über das UN-Büro für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten (UNOCHA).
Aber die Realität ist, dass wir mit 12 000 Mitarbeiter*innen die größte humanitäre Organisation vor Ort sind. Wir sind eine der wenigen Organisationen, die jetzt noch etwas tun können, weil unsere Mitarbeiter*innen Dienstleistungen erbringen und die Gesundheitszentren mit dem wenigen, was sie noch haben, weiter betreiben können, einschließlich der Beseitigung von Müll und sanitären Anlagen und dem Versuch, die Ausbreitung von Krankheiten zu verhindern. Wir sind also eine der wenigen Organisationen, die trotz des zweimonatigen Ausfalls an Vorräten und Informationen noch irgendetwas tun können.
Aber die israelischen Behörden wollen nicht mit der Organisation zusammenarbeiten. Und Sie können sich vorstellen, welche Herausforderungen das für alles mit sich bringt. Das macht die Sache natürlich in jeder Hinsicht noch viel schwieriger. Im Moment gibt es drei Kategorien von humanitären Helfer*innen. Da sind meine Kolleg*innen, die jeden Tag aufstehen und ihren Gemeinden dienen. Sie tun das schon den ganzen Krieg über. Für sie steht alles auf dem Spiel. Sie setzen jeden Tag ihr eigenes Leben, das Leben ihrer Familien aufs Spiel, um dies zu tun. Und dann gibt es Leute wie mich, denen die Einreise in den Gazastreifen nicht mehr gestattet wird, die aber den Gazastreifen gut kennen, weil sie entweder früher oder zumindest während des Krieges dort gearbeitet haben. Und das gilt nicht nur für die UNRWA. Es sind auch andere UN-Organisationen, andere NGOs, Ärzt*innen, Chirurg*innen. Die Zahl jener humanitären Helfer*innen, die qualifiziert, ausgebildet und in der Lage sind, den Menschen im Gazastreifen zu helfen, denen jedoch [von Israel, Anm.] die Einreise verweigert wird, steigt enorm an. Und die dritte Kategorie sind diejenigen, die getötet wurden. Fast dreihundert meiner UNRWA -Kolleg*innen sind getötet worden. Insgesamt wurden vierhundert humanitäre Helfer*innen getötet.
Die Realität sieht so aus, dass Israel nur dann Rechenschaft ablegen muss, wenn man seinen eigenen Tod filmt und Videomaterial zur Verfügung stellt, damit überhaupt Rechenschaft darüber gefordert wird, warum diese Menschen getötet oder wie sie getötet werden - aber sie werden getötet. Das ist also die Realität der humanitären Hilfe. Und es ist einfach nur grauenhaft. Es ist absolut grauenhaft. Wie um alles in der Welt kann man humanitäre Hilfe leisten, wenn das die Realität für die Menschen ist, die sie leisten?
Wie war der Umgang von UNOCHA mit der israelischen Regierung?
Sie stehen in Kontakt mit den israelischen Behörden. Sie stellen Informationen über unsere Einrichtungen zur Verfügung, aber es kommt immer wieder zu sehr ernsten Zwischenfällen. Erst vor wenigen Wochen wurde einer unserer Kollegen durch israelischen Panzerbeschuss auf eine UN-Einrichtung getötet, und diese Informationen wurden den israelischen Behörden zur Verfügung gestellt. Es gibt also eine Koordinierung, aber ein Großteil der Konvois und der Bewegungen innerhalb des Gazastreifens wird immer noch verweigert. Wir sind also wieder in die Zeit vor dem Waffenstillstand zurückgekehrt, in der wir auf jede erdenkliche Weise eingeschränkt wurden.
In den letzten anderthalb Jahren hat Israel die Hilfe immer stärker eingeschränkt, und dann gab es irgendeine Art von internationalem Druck oder die humanitäre Situation wurde immer schlimmer. Um zu verhindern, dass zweihunderttausend Menschen verhungern, ließ Israel für eine kurze Zeit mehr Hilfe zu, um sie dann wieder einzuschränken. Und dann konnten die Israelis sagen: „Seht ihr, es ist nicht so schlimm, wie die Leute sagen.“ Wenn ich Ihnen zuhöre, was jetzt passiert, scheint es so, als würde sich das fortsetzen: Während des Waffenstillstands wurden Lebensmittel ins Land gebracht, und die Menschen konnten etwas von dem bekommen, was sie brauchten, und jetzt wird es wieder eingeschränkt.
Ich denke, das ist eine angemessene Analyse dessen, was vor sich geht. Und jetzt geht es um alles, von dem, was man morgens isst, über fehlende Toiletten bis hin zu der Ungewissheit, ob man am Ende des Tages vertrieben wird. Man muss fliehen. Wohin soll man gehen? Wie kommt man dorthin? Wenn wir mit den Menschen sprechen, klingen sie völlig erschöpft. Sie haben nichts mehr, was sie geben könnten. Sie sind hungrig. Sie sind müde. Wenn ich mit meinen Kolleg*innen spreche, können sie wegen des Lärms nachts nicht schlafen. Sie erzählen, dass die Flugzeuge über sie hinwegfliegen. Manchmal werfen sie Bomben ab. Manchmal aber auch nicht. Man lebt also ständig in Angst davor. Es gibt nicht genug zu essen. Man ist hungrig, müde, erschöpft.
Von einem Moment auf den anderen werden Sie wieder vertrieben. Man muss praktisch ohne Vorankündigung in ein anderes Gebiet fliehen. Und es ist einfach unerbittlich. Es ist eine Konstante. Sie leben einfach in dieser Blase, in der sie bis an ihre Grenzen getrieben werden und nichts mehr zu geben haben. Eine Sache, die ich im letzten Jahr oft gehört habe, ist: „Wir werden einfach hier bleiben und zusammen sterben, weil es unvermeidlich ist, dass wir sterben werden. Wir sind wie Kugeln in einer Flippermaschine. Wir kommen hier nicht raus und wir wollen einfach nur an einem Ort bleiben, damit wir, wenn wir sterben, wenigstens zu Hause sind oder zusammen sterben." Und das ist die einzige Würde, die es jetzt noch gibt.
Sie haben vorhin erwähnt, dass Dinge wie Plünderungen zurückgegangen sind, als die Hilfslieferungen in den Gazastreifen zurückkehrten, was durchaus Sinn macht. Auf welche Weise gehen die Dinge auf gesellschaftlicher Ebene zurück, wenn der gegenwärtige Grad der Knappheit zurückkehrt?
Anfang dieser Woche erzählten uns Menschen in einer Unterkunft von einer Mutter, die noch etwas Mehl übrig hatte. Viele Vorräte sind für die Menschen weg. Einige Menschen um sie herum haben nichts mehr zu essen. Sie hatte Mehl. Sie backt also Brot, hat aber ein schlechtes Gewissen, weil die Kinder anderer Leute riechen können, wie sie das Brot auf dem Holzfeuer backen, und wenn die Kinder anderer Leute kommen und um ein Stück Brot bitten, versucht sie, es mit ihnen zu teilen, obwohl sie weiß, dass ihre Kinder und ihre Familie dadurch in Not geraten werden. Aber was kann man schon tun? Das sind doch hungrige Kinder, oder? Wir hören also im Moment viele solcher Geschichten, in denen Menschen eigentlich nichts mehr haben, aber trotzdem noch teilen. Ich weiß nicht, woher sie diese Kraft nehmen.
Ich erinnere mich, dass ich selbst ähnliche Geschichten gehört habe, als ich im Norden war, als die Belagerung von Jabalia stattfand und wir Familien trafen, die geflohen waren. Sie rannten um ihr Leben. Sie hatten nichts bei sich. Viele von ihnen haben Verwandte verloren, die vor ihren Augen getötet wurden, und ihre Kinder wurden vor ihren Augen getötet. Wir sprachen mit ihnen in einer UNRWA-Unterkunft, und andere Familien gaben ihnen hier eine Decke und dort eine Matratze, damit sie etwas hatten. Aber auch diese Menschen hatten nichts. Es gibt also diese Stärke in der Gesellschaft, die wirklich inspirierend und kraftvoll, aber auch erschütternd ist. Es ist einfach herzzerreißend, dass sie so leben müssen, aber trotzdem noch zusammenhalten.
Aber wie in jeder Gesellschaft gibt es natürlich auch hier Panik. Die Zwischenfälle nehmen jetzt zu, weil die Menschen hungern und versuchen zu überleben, und das wird sich auch auf die Gesellschaft auswirken. Man kann also nicht pauschal sagen, wie zwei Millionen Menschen versuchen, den Hunger zu überleben.
Aber die Dinge werden auseinanderfallen, und das sehen wir jetzt schon. Wir haben zum Beispiel Zwischenfälle mit unseren Lagerhäusern. Wir haben nichts mehr. Da ist nichts mehr drin. Es gibt nichts mehr zu geben. Aber die Leute versuchen immer noch, einzubrechen und zu sehen, was es dort gibt, weil sie so verzweifelt sind. Man kann es ihnen nicht verdenken. Wenn es irgendwelche Konvois oder Bewegungen gibt, versuchen sie zu sehen, ob etwas in den Autos ist, weil sie einfach nichts haben. An diesem Punkt befinden wir uns jetzt, und wir waren schon einmal dort.
Meine Kolleg*innen im Norden ernährten sich von Tierfutter und sammelten, was sie finden konnten, weil es keine Lebensmittel mehr gab, und die Kinder starben an Unterernährung. Dann sieht man diese Videos, in denen der Hilfstransporter endlich ankommt und völlig überrannt wird. Die Menschen schwammen aufs Meer hinaus, als Hilfsgüter aus der Luft abgeworfen wurden.
Keine der Familien, mit der wir sprechen, nimmt drei Mahlzeiten am Tag zu sich. Niemand hat drei Mahlzeiten am Tag. Sie haben nur eine Mahlzeit am Tag. Manche Menschen essen einen ganzen Tag lang nichts. Viele Eltern essen nicht, damit ihre Kinder essen können. Und das wirkt sich natürlich auf alles aus. Es wird alles zusammenbrechen, wenn es das nicht schon längst getan hat.
Isaac Chotiner schreibt für The New Yorker, wo er der Hauptautor von Q. & A. ist, einer Reihe von Interviews mit Persönlichkeiten aus Politik, Medien, Büchern, Wirtschaft, Technologie und mehr.

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