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Die Suche nach dem Arzt im weißen Kittel aus Gaza läuft auf Hochtouren

Dr. Hussam Abu Safiya ist einer von sechs medizinischen Mitarbeitern der in Chicago ansässigen Organisation MedGlobal, die sich weiterhin in israelischer Gefangenschaft befinden.

Von Jonah Valdez, The Intercept, 31. Jänner 2024

(Originalbeitrag in englischer Sprache)

 

Als das israelische Militär in den letzten Wochen das Kamal-Adwan-Krankenhaus – die letzte noch verbliebene größere Gesundheitseinrichtung im nördlichen Gazastreifen – einnahm, blieb Dr. Hussam Abu Safiya im Krankenhaus, um die sich verschlechternde Situation zu dokumentieren.


In einem Video zeigt Abu Safiya, der Leiter des Krankenhauses, eine Intensivstation mit zerschossenen Fenstern, wo ihm zufolge Granatsplitter den Schädel eines Krankenpflegers zertrümmerten, der einen Patienten versorgt hatte. In einem anderen Video, in dem Bomben das Gebäude erschüttern, erklärt Abu Safiya, dass mit Sprengstoff bestückte Roboter der israelischen Armee etwa 50 Meter vom Krankenhaus entfernt detonierten. Auf weiteren Videos ist zu sehen, wie Quadcopter-Drohnen Bomben auf nahe gelegene Gebäude abwerfen, während PatientInnen und Personal zusehen. 


Letzte Woche hatten israelische Soldaten das Krankenhaus gestürmt. Hundertachtzig medizinische Mitarbeiter und mehr als 75 PatientInnen und deren Angehörige befanden sich im Krankenhaus. Medizinisches Personal und PatientInnen berichteten, dass israelische Soldaten sie schlugen und einen Arzt töteten. Nach Angaben von Gesundheitsbeamten aus dem Gazastreifen setzten die Soldaten mehrere Teile des Krankenhauses in Brand. Das Krankenhaus ist derzeit nicht mehr funktionsfähig.


Dr. Abu Safiya gehörte zu denjenigen, die vom israelischen Militär verhaftet wurden. Die letzten bekannten Bilder von ihm, die zuerst von Al Jazeera ausgestrahlt wurden und seitdem im Internet weit verbreitet wurden, zeigen Abu Safiya, wie er – immer noch seinen weißen Arztkittel tragend – inmitten von Trümmerhaufen auf zwei gepanzerte israelische Fahrzeuge zugeht. Seitdem ist er im geheimen Gefängnissystem des israelischen Militärs verschwunden, ohne dass es eine Anklage gibt – Normalität für palästinensische Gefangene, die von den israelischen Behörden oft auf unbestimmte Zeit festgehalten werden. 


KollegInnen und Familienangehörige bemühen sich, Abu Safiya ausfindig zu machen und seine Freilassung zu erreichen. Die Verhaftung von Abu Safiya hat einen Aufschrei von Amnesty International, der Weltgesundheitsorganisation, von politischen VertreterInnen und Hunderten von ÄrztInnen hervorgerufen, die eine Kampagne in den sozialen Medien gestartet haben, um seine Freilassung zu fordern.


Abu Safiya hat die israelischen Angriffe auf das Gesundheitssystem des Gazastreifens im vergangenen Jahr scharf kritisiert. Auch sein 15-jähriger Sohn Ibrahim wurde im Oktober bei einem israelischen Drohnenangriff vor dem Kamal Adwan Krankenhaus getötet, wo er mit seiner Familie Zuflucht gesucht hatte. Abu Safiya ist einer von Hunderten von MedizinerInnen, die während des völkermörderischen Krieges im Gazastreifen vom israelischen Militär – meist ohne Grund – inhaftiert wurden.


Nach Angaben seiner Familie und ehemaliger Gefangener wird er in Sde Teiman festgehalten, einem geheimen israelischen Militärgefängnis in der Negev-Wüste, das für seine Misshandlungen, Folter und sexuellen Übergriffe bekannt ist. „Er leidet jetzt unter schweren Misshandlungen im Sde Teiman-Gefängnis, einschließlich Demütigung, Kälte und Verweigerung medizinischer Versorgung“, so seine Familie in einer Erklärung.


Abu Safiya arbeitet für MedGlobal, eine in Chicago ansässige humanitäre Organisation, die medizinische Hilfe in Katastrophen- und Konfliktgebieten leistet, und ist nur einer von sechs medizinischen Mitarbeitern der Organisation, die sich nach Angaben des Geschäftsführers von MedGlobal, Joseph Belliveau, weiterhin in israelischer Haft befinden. Zwei weitere Ärzte, zwei Reinigungskräfte, ein Angestellter und ein Krankenpfleger – alle am 26. Oktober in Kamal Adwan verhaftet – befinden sich weiterhin in Haft.

Belliveau sagte in den letzten Tagen, dass MedGlobal mit dem US-Außenministerium, Mitgliedern des Kongresses, der Europäischen Union, den Vereinten Nationen und der israelischen Regierung zusammengearbeitet hat, um die Freilassung von Abu Safiya und anderen MedGlobal-Mitarbeitern zu erreichen.


Israelische Beamte haben bestätigt, dass die Mitarbeiter verhaftet wurden, „aber darüber hinaus herrscht absolutes Schweigen“, so Belliveau. „Wo genau sind sie? Wie sind ihre Bedingungen? Was wirft man ihnen vor? Wie werden sie behandelt? Was kommt als nächstes? Was ist mit einem ordentlichen Verfahren? Nichts.“


Ein weiterer MedGlobal-Arzt verschwand letzten Monat in israelischer Haft und tauchte mit einer Geschichte über die brutale Behandlung durch seine Entführer wieder auf. Am 17. November verhaftete die israelische Armee einen von Abu Safiyas Kollegen des Kamal Adwan Krankenhauses an einem nahe gelegenen Kontrollpunkt. Etwa einen Monat später entließ das israelische Militär den Arzt ohne Erklärung wieder in den Gazastreifen, so Belliveau. Er lehnte es aus Sicherheitsgründen ab, den Namen des Arztes zu nennen.

„Wir konnten auch einige Tage nach seiner Entlassung nicht mit ihm sprechen, weil er so traumatisiert war von dem, was ihm widerfahren war“, berichtet Belliveau. „Während seiner Inhaftierung war der Arzt gezwungen, in einem „Hühnerstall“ im Freien zu leben, wo er der Kälte ausgesetzt war. Außerdem wurde ihm das Essen verweigert und er wurde auch auf andere Weise erniedrigend, gedemütigt und brutal behandelt. Aufgrund seines Zustands haben wir noch immer kein vollständiges Bild“, fährt er fort. „Doch das gibt Ihnen einen Eindruck von der Art der Behandlung, die unseren Kollegen widerfährt, wenn sie inhaftiert werden.“


Der MedGlobal-Arzt war im Ofer-Gefängnis im besetzten Westjordanland inhaftiert, das eine lange Geschichte von Misshandlungen hat. Im Mai starb Dr. Adnan al-Bursh, der Leiter der orthopädischen Abteilung des Al-Shifa-Krankenhauses in Gaza-Stadt, in Ofer. MenschenrechtsvertreterInnen und Familienangehörige vermuten, dass der Orthopäde an den Folgen von Folter durch israelische Wachen gestorben ist. Seit Beginn der Angriffe auf den Gazastreifen im vergangenen Jahr, die von zahlreichen internationalen Menschenrechtsgruppen und Experten als Völkermord bezeichnet werden, sind mindestens drei palästinensische Ärzte in israelischen Gefängnissen getötet worden.


Ehemalige Gefangene und Wärter des Gefängnisses Sde Teiman, in dem Abu Safiya angeblich festgehalten wird, haben von Folterungen wie sexuellen Übergriffen, Schlägen, Hunger, Schlafentzug und der Verweigerung medizinischer Versorgung berichtet. Gegen israelische Soldaten, die als Wärter in dem Gefängnis dienten, wird derzeit Anklage erhoben, weil sie einen palästinensischen Gefangenen gruppenvergewaltigt haben sollen.


Belliveau sagt, dass AnwältInnen und ÄrztInnen des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz das Gefängnis nicht betreten dürfen, um Abu Safiya zu sehen und zu behandeln, was nach humanitären Völkerrecht vorgeschrieben ist.


Das israelische Militär verdächtigt Abu Safiya, ein Hamas-Aktivist zu sein, und behauptet, dass die Hamas von der Einrichtung in Kamal Adwan aus operiert habe, hat aber keine Beweise für diese Behauptungen vorgelegt. Das israelische Militär reagierte nicht auf Bitten um Stellungnahme.


Belliveau, ehemaliger Geschäftsführer von Ärzte ohne Grenzen Kanada, verteidigt seine Mitarbeiter gegen solche Anschuldigungen und kritisierte das israelische Militär dafür, dass es seine Behauptungen über die Beteiligung der Hamas an medizinischen Einrichtungen nicht belegen kann. Organisationen wie MedGlobal überprüfen alle ihre Mitarbeiter in einem Prozess, so Belliveau, ein Prozess, der auch die israelische Regierung mit einbezieht. Belliveau würdigt die Professionalität und das Durchhaltevermögen derjenigen, die trotz der harten Bedingungen weiterarbeiten.


In den 25 Jahren, in denen er medizinische Hilfe in Konfliktgebieten geleistet hat – unter anderem in Konflikten voller Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht im Irak, im Kongo, im Sudan, im Jemen, in Liberia und in Sierra Leone – sind die Herausforderungen, mit denen er sich in Gaza konfrontiert sieht, um seine Mitarbeiter vor den Angriffen der israelischen Armee zu schützen, beispiellos, so Belliveau.

MedGlobal erwägt, rechtliche Schritte gegen das israelische Militär aufgrund der Inhaftierung von Abu Safiya und anderen medizinischen Mitarbeitern der Organisation einzuleiten. Ärzte ohne Grenzen unternimmt auch rechtliche Schritte innerhalb des israelischen Rechtssystems, um die Freilassung einer ihrer Ärzte, Dr. Mohammed Obeid, zu erwirken, der vor seiner Verhaftung im Oktober als orthopädischer Chirurg in Kamal Adwan Krankenhaus tätig war.


Die jüngste israelische Bodeninvasion im nördlichen Gazastreifen hat Hunderte von Menschen getötet und Tausende von PalästinenserInnen zur Flucht gezwungen. Bombardierungen und Angriffe haben das Gesundheitssystem in der Region lahm gelegt, und die Verwundeten haben Mühe, eine angemessene Versorgung zu finden. Im gesamten Gazastreifen suchen viele Menschen unter winterlichen Bedingungen nach einer Unterkunft, und mindestens fünf Kleinkinder sind bereits in der Kälte erfroren. Humanitäre Hilfe gelangt nur dürftig in den nördlichen Gazastreifen, der weiterhin einer strengen israelischen Blockade unterliegt. Die Vereinten Nationen haben davor gewarnt, dass eine Hungersnot immer wahrscheinlicher wird. 


„Diese Grundprinzipien des humanitären Völkerrechts, wonach die Konfliktparteien Maßnahmen zum Schutz medizinischer Einrichtungen ergreifen müssen, sind völlig außer Kraft gesetzt, und wir sprechen von einer völligen Vernichtung medizinischer Einrichtungen“, so Belliveau. „Es ist schwer, das in Worte zu fassen.“


Jonah Valdez ist Reporter bei The Intercept und berichtet über Politik, US-Außenpolitik, Israel und Palästina, Menschenrechtsfragen und Protestbewegungen für soziale Gerechtigkeit.



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