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Die Tötung von Sanitätern in Gaza beweist, dass viele Aussagen der israelischen Armee nur falsche Behauptungen sind

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  • 26. Apr.
  • 6 Min. Lesezeit

Die Ermordung von 15 Rettungssanitätern im vergangenen Monat hat eine weitere Wahrheit über den Krieg in Gaza ans Licht gebracht. Sie enthüllt, was die israelische Armee zu verbergen versucht hat - dass ihre Berichte über „Terroristen“, „terroristische Infrastruktur“ und „Kämpfe“ im besten Fall Übertreibungen und im schlimmsten Fall reine Lügen sind.


Von Nir Hasson, Haaretz, 21. April 2025


(Originalbeitrag in englischer Sprache)

 


Für die Israelis findet der Krieg im Gazastreifen – sofern man ihn überhaupt noch als Krieg bezeichnen kann – hinter einer Nebelwand statt.

Jeden Tag gibt das Militär Pressemitteilungen über die Tötung von „Terroristen“ und die Zerstörung von „terroristischer Infrastruktur“ oder „unterirdischen Einrichtungen“ heraus. Begleitet werden die Erklärungen von Fotos von Soldaten inmitten der Trümmer oder von ein paar rostigen Waffen, die beschlagnahmt wurden.

Aber die Berichte des Sprechers der israelischen Armee passen nicht zu den Bildern, die aus dem Gazastreifen kommen - die zerfetzten Körper von Kindern, Zelte, die in Flammen aufgehen, völlige Zerstörung und Hunger. Zwischen den Berichten der Armee und den entgegengesetzten Berichten aus Gaza, die von internationalen Organisationen und PalästinenserInnen veröffentlicht werden, ist es möglicherweise schwierig zu verstehen, was vor sich geht.

Doch manchmal lichtet sich der Rauch und es öffnet sich ein Fenster zur wahren Natur des Geschehens.

Dieses Fenster öffnete sich zum Beispiel, als israelische Soldaten im Dezember 2023 drei Geiseln töteten, die eine weiße Fahne hielten. Die Israelis verstanden plötzlich, dass die Einsatzregeln, die jeder Israeli, der in der Armee gedient hat, kennt, im Gazastreifen nicht mehr galten. Sie verstanden, dass die Soldaten auf Menschen schossen, die sich offensichtlich ergeben hatten und eine weiße Fahne schwenkten.

So geschah es auch im vergangenen April, als sieben Angestellte der World Central Kitchen getötet wurden. Dabei entdeckten die Israelis, dass die israelische Luftwaffe Konvois angriff, die eindeutig als UN-Fahrzeuge gekennzeichnet und im Voraus mit der Armee abgestimmt worden waren, weil ein Fahrzeug fälschlicherweise als Transport von Hamas-Mitgliedern identifiziert worden war.

Das Gleiche ist bei anderen Vorfällen passiert, bei denen Videomaterial ans Licht kam - zum Beispiel im Fall des 13-jährigen Mohammed Salem, der im vergangenen Oktober durch Schüsse verwundet wurde und um Hilfe schrie. Doch als sich Menschen näherten, um ihm zu helfen, wurde eine weitere Rakete abgefeuert, die Salem und ein weiteres Kind tötete und 20 weitere Menschen verwundete. Oder der Fall des Mannes, der von einem Scharfschützen erschossen wurde, während er in der einen Hand eine weiße Fahne und in der anderen die Hand seines Sohnes hielt.

Dank der investigativen Berichte internationaler Medien werden von Zeit zu Zeit noch weitere Fenster geöffnet. So deckte beispielsweise eine umfangreiche NPR-Recherche den Fall auf, bei dem 132 Mitglieder der Familie Abu Nassar in Beit Lahia getötet wurden.

Die Ermordung von 15 Rettungskräften im letzten Monat war ein weiteres Fenster durch den Rauch. Es zeigte, was die israelische Armee zu verbergen versucht hat - dass ihre Berichte über „Terroristen“, „terroristische Infrastruktur“ und „Kämpfe“ im besten Fall Übertreibungen und im schlimmsten Fall reine Lügen sind.

Gerüchte, dass auf dem Weg zum Viertel Tel al-Sultan in Rafah etwas Schreckliches passiert sei, kamen bereits am Tag nach dem Tod der 15 Sanitäter und Helfer auf. Es dauerte jedoch weitere vier Tage, bis die israelische Armee UN-Mitarbeitern und palästinensischen Rettungskräften erlaubte, den Ort zu erreichen.

Die Berichte und Filmaufnahmen vom Sandhaufen, in dem die 15 Menschen und ihre Fahrzeuge vergraben waren, waren erschütternd.

Entgegen ihrer üblichen Praxis veröffentlichten die Vereinten Nationen Bildmaterial von der Bergung der Leichen. Die israelische Armee reagierte schnell mit einem Geflecht aus falschen Behauptungen oder schlichtweg Lügen, die Schritt für Schritt widerlegt wurden.

Zunächst behauptete die Armee, die Fahrzeuge seien ohne die Notbeleuchtung gefahren, die sie als Rettungsfahrzeuge kennzeichnet.

Als ein Video, das von einem der später getöteten Helfer gefilmt wurde, eindeutig die drei Fahrzeuge mit roten Lichtern zeigte, widerrief die israelische Armee und erklärte, alles sei ein Missverständnis.

Bei einem Briefing zwei Wochen später erklärte der Sprecher der israelischen Armee, dass es sich bei dem ersten getroffenen Fahrzeug nicht um einen Krankenwagen, sondern um ein Polizeifahrzeug der Hamas gehandelt habe. Auch diese Behauptung musste später zurückgenommen werden.

Eine weitere Behauptung, die sich als falsch erwies, war, dass neun der Toten Hamas-Mitglieder waren. Diese Zahl wurde später gesenkt, und jetzt behauptet die Armee nur noch, dass sechs von ihnen Mitglieder der Organisation waren. Sie hat jedoch keine Beweise vorgelegt, die sie mit der Hamas in Verbindung bringen.

Eine weitere Behauptung, die gegenüber den internationalen Medien aufgestellt wurde, war, dass das betreffende Gebiet für den zivilen Verkehr gesperrt sei. Der Räumungsbefehl für das Gebiet wurde jedoch erst drei Stunden nach dem Vorfall erteilt.

Die Armee behauptete auch, dass die Soldaten aus großer Entfernung geschossen hätten, was sich einmal mehr als falsch erwies. Sky News analysierte die Schüsse, die in dem von dem getöteten Sanitäter gefilmten Video zu hören waren, und kam zum Schluss, dass sie aus einer Entfernung von maximal 12 bis 18 Metern abgefeuert wurden.

Die Behauptung der Armee, dass nur 14 Menschen getötet worden waren, erwies sich als ebenfalls falsch, und am Sonntag gab sie zu, dass 15 Menschen getötet wurden.

Das Bild, das sich durch dieses Fenster inmitten von Rauch abzeichnet, ist schockierend: Israelische Soldaten töteten 15 unbewaffnete Menschen aus nächster Nähe, während sie in gut gekennzeichneten Fahrzeugen mit Blinklicht fuhren und orangefarbene Westen mit Sicherheitsreflektoren und blaue medizinische Handschuhe trugen.

Manch einer mag vielleicht die Erklärung der israelischen Armee akzeptieren, dass dies aufgrund eines Fehlers im Verständnis der operativen Umstände geschah oder weil die Truppe sich bedroht fühlte. Eine bessere Erklärung jedoch findet sich in den aufgezeichneten Aussagen des Befehlshabers der Truppe, die in jener Nacht in Tel al-Sultan operierte:

„Jeder, dem wir begegnen, ist ein Feind. Wenn ihr jemanden seht, vernichtet ihn“.

Doch das wahre Grauen ist nicht einmal die Ermordung der Sanitäter, sondern die Wahrheit, die durch den Rauch aus all den geöffneten Fenstern und den gesammelten Beweisen, die seit Beginn des Krieges in Gaza aufgetaucht sind, ans Licht kommt. Es gibt keinen Grund zu glauben, dass die oben beschriebenen Vorfälle – die drei getöteten Geiseln, die MitarbeiterInnen der World Central Kitchen, die Familie Abu Nassar, die Sanitäter und Dutzende anderer, die von jedem seriösen westlichen Medienunternehmen untersucht wurden – außergewöhnlich sind.

Die israelische Öffentlichkeit ist wie ein Mann, der seine Hand in einen Hut mit weißen und schwarzen Kugeln steckt und jedes Mal, wenn er einen herauszieht, eine schwarze Kugel erhält, dem aber immer wieder gesagt wird, dass alle anderen der Zehntausenden von Kugeln im Hut weiß sind und es nur Zufall ist, dass eine schwarze Kugel herauskam.

Warum sollte man annehmen, dass die Tötung der Sanitäter schlimmer war oder unter ungewöhnlicheren Umständen erfolgte als die Tötung von sechs Menschen bei einem Luftangriff auf Deir al-Balah zwei Wochen später? Oder die zehn Mitglieder einer einzelnen Familie, die in Khan Yunis getötet wurden, die 15 Mitglieder einer Familie, die im Viertel Shujaiyeh in Gaza-Stadt getötet wurden, die 29 Mitglieder einer anderen Familie, die ebenfalls in Shujaiyeh getötet wurden, oder die 37 Vertriebenen, die bei einem Brand nach einem Luftangriff auf Zelte in der „humanitären Zone“ von Al-Muwasi getötet wurden - alles Vorfälle der letzten elf Tage?

Angesichts dieser Anhäufung von schwarzen Kugeln – den Zeugenaussagen, den Fotos, den Untersuchungsberichten, den Berichten internationaler Organisationen, den Satellitenfotos und dem gesunden Menschenverstand – gibt es keine Logik in der Annahme, dass die anderen 30.000 ZivilistInnen (mindestens), die in Gaza getötet wurden, in Übereinstimmung mit israelischem und internationalem Recht gestorben sind.

Im Gegenteil, alle Beweise deuten darauf hin, dass die israelische Armee in dem Krieg, der am 7. Oktober 2023 begann, alle rechtlichen und moralischen Zügel für ihre Soldaten lockerte und zu viele Kriegsverbrechen beging, um sie alle aufzuzählen.

Diese Lockerung der Zügel ist mit vielen Kosten verbunden - ein Premierminister, der gezwungen ist, Umwege zu fliegen, um eine Notlandung in einem Land zu vermeiden, das ihn an ein Gefängnis in Den Haag ausliefern würde; offene und verdeckte Boykotte der israelischen Wirtschaft, der wissenschaftlichen Gemeinschaft und der High-Tech-Industrie; Soldaten, die Angst haben, auf Flughäfen in zahlreichen Ländern zu landen; Gewalt von innen und außen; die körperlichen und seelischen Erkrankungen von Soldaten, die am Krieg teilgenommen haben, und vieles mehr.

Aber der wahre Preis dürfte noch viel höher sein. Der wahre Preis ist jenes Bild, das die israelische Gesellschaft an dem Tag, an dem sich der Rauch verzogen hat, im Spiegel sehen wird.

 

Nir Hasson ist israelischer Journalist und arbeitet für die Tageszeitung Haaretz.




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