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Dr. Maynard: Ich bin Zeuge des absichtlichen Verhungernlassens von Kindern in Gaza – warum lässt die Welt das zu?

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  • 26. Juli
  • 4 Min. Lesezeit

Ein dauerhafter Waffenstillstand, der ungehinderte und sichere Fluss von Hilfsgütern und die Aufhebung der Blockade sind jetzt dringend erforderlich – all das könnte mit politischem Willen erreicht werden.


Von Nick Maynard, The Guardian, 22. Juli 2025

(Originalbeitrag in englischer Sprache)

 

Ich schreibe diese Zeilen aus dem Nasser-Krankenhaus im Süden Gazas, wo ich gerade die Operation eines weiteren schwer unterernährten Teenagers abgeschlossen habe. Ein sieben Monate altes Baby liegt auf unserer pädiatrischen Intensivstation, so winzig und unterernährt, dass ich es zunächst für ein Neugeborenes hielt. Der Ausdruck „Haut und Knochen“ wird dem Zustand ihres Körpers nicht gerecht. Sie verschwindet buchstäblich vor unseren Augen, und trotz aller Bemühungen sind wir machtlos, wir können sie nicht retten. Wir sind derzeit Zeug*innen einer absichtlichen Aushungerung von Gaza.


Dies ist mein dritter Einsatz in Gaza seit Dezember 2023 als freiwilliger Chirurg bei Medical Aid for Palestinians. Ich habe Massenanfälle miterlebt und bereits im Januar 2024 Alarm wegen Unterernährung geschlagen. Aber nichts hat mich auf das schiere Grauen vorbereitet, das ich jetzt miterlebe: den Einsatz von Hunger als Waffe gegen eine ganze Bevölkerung.


Die Unterernährungskrise hat sich seit meinem letzten Besuch zu einer Katastrophe entwickelt. Jeden Tag sehe ich, wie sich der Zustand meiner Patient*innen verschlechtert und sie sterben – nicht aufgrund ihrer Verletzungen, sondern weil sie zu unterernährt sind, um eine Operation zu überleben. Die chirurgischen Eingriffe, die wir durchführen, scheitern, die Patient*innen bekommen schlimme Infektionen und sterben dann. Das passiert immer wieder, und es ist herzzerreißend, das mit anzusehen. In den letzten Wochen sind in diesem Krankenhaus vier Babys gestorben – nicht durch Bomben oder Kugeln, sondern durch Hunger.


Familien und Mitarbeiter*innen tun ihr Bestes, um zu bringen, was sie können, aber es gibt einfach nicht genug Lebensmittel in Gaza. Für Säuglinge haben wir praktisch keine Babynahrung. Kinder erhalten Zehnprozentige Dextrose (Zuckerwasser), die keinen Nährwert hat, und oft sind ihre Mütter zu unterernährt, um zu stillen. Als ein internationaler Kollege versuchte, Babynahrung nach Gaza zu bringen, wurde sie von den israelischen Behörden beschlagnahmt.


Benjamin Netanjahus Ansatz ist zweigleisig: Er verhindert, dass Lebensmittel nach Gaza gelangen, und lässt verzweifelten Zivilist*innen keine andere Wahl, als militarisierte Verteilungsstellen aufzusuchen, um begrenzte Vorräte zu erhalten. Bis Mai gab es in Gaza mehr als 400 Hilfsverteilungsstellen, an denen die Menschen sicheren Zugang zu Lebensmitteln hatten. Jetzt gibt es nur noch vier dieser militarisierten Zonen im Süden, wo hungernde Familien ständig der Gefahr von Angriffen ausgesetzt sind.


Ich höre täglich von Dutzenden von Traumapatient*innen, die in die Notaufnahmen von Gaza strömen – viele von ihnen mit Schussverletzungen, die sie an diesen militarisierten Verteilungsstellen erlitten haben. Ich habe Jungen im Alter von 12 bis 15 Jahren operiert, deren Angehörige berichten, dass sie angeschossen wurden, als sie versuchten, Lebensmittel für ihre Familien zu beschaffen. Letzte Woche starb ein 12-Jähriger auf dem Operationstisch, nachdem ihm in den Bauch geschossen worden war – an einem Ort, den man nur als Todesfalle für all diejenigen bezeichnen kann, die nach Nahrung suchen.


Meine Kolleg*innen in der Notaufnahme berichten ebenfalls von einem beunruhigenden Muster: Die Verletzungen konzentrieren sich an verschiedenen Tagen auf bestimmte Körperteile – Kopf, Beine, Genitalien –, was darauf hindeutet, dass diese Körperteile gezielt angegriffen werden.

In den letzten Tagen habe ich zwei Frauen operiert, die laut den Menschen, die sie gebracht haben, von Quadcoptern erschossen wurden, während sie in ihren Zelten in der Nähe eines dieser Orte Schutz gesucht hatten. Eine von ihnen stillte gerade ihr Kind, als sie getroffen wurde, die zweite war schwanger. Glücklicherweise haben beide ihre Verletzungen – bisher – überlebt. Diese Frauen suchten nicht einmal Hilfe – sie suchten lediglich Schutz in Gebieten, die angeblich „sicher” sind, aber dem wahllosen Beschuss der der israelischen Armee ausgesetzt sind.


Nicht nur die Patient*innen hier sind unterernährt, sondern auch das medizinische Personal. Als ich ankam, erkannte ich einige meiner Kolleg*innen, mit denen ich letztes Jahr zusammengearbeitet hatte, kaum mehr wieder - einige hatten 30kg abgenommen. Zur Mittagszeit begeben sich einige Ärzt*innen und Krankenpfleger*innen zu den Verteilungsstellen, obwohl sie wissen, dass sie damit ihr Leben riskieren, aber keine andere Wahl haben, wenn sie ihre Familien ernähren wollen.


Das Nasser-Krankenhaus ist das letzte große funktionierende Krankenhaus im Süden Gazas, aber wir arbeiten am Limit, leiden unter den Folgen früherer Angriffe und sind mit einer Flut von Verletzten überfordert, während gleichzeitig alles Mangelware ist. Netanjahus systematische Zerstörung des Gesundheitssystems in Gaza hat dazu geführt, dass alle medizinischen Notfälle in dieser einen Einrichtung landen, während medizinisches Personal und Patient*innen direkt angegriffen werden. Erst diese Woche wurde unser lieber Kollege, ein OP-Krankenpfleger, zusammen mit seinen drei kleinen Kindern in seinem Zelt getötet.

Ich möchte mich klar ausdrücken: Was den Palästinenser*innen in Gaza angetan wird, ist barbarisch und völlig vermeidbar. Ich kann nicht glauben, dass wir an einem Punkt angelangt sind, an dem die Welt zusieht, wie die Menschen in Gaza Hunger und Beschuss erdulden müssen, während Lebensmittel und medizinische Hilfe nur wenige Kilometer entfernt auf der anderen Seite der Grenze warten.


Die erzwungene Unterernährung und die Angriffe auf Zivilist*innen werden Tausende weitere Menschenleben kosten, wenn sie nicht sofort gestoppt werden. Jeder Tag der Untätigkeit bedeutet, dass mehr Kinder sterben werden, nicht nur durch Kugeln oder Bomben, sondern auch durch Hunger. Ein dauerhafter Waffenstillstand, der ungehinderte und sichere Fluss von Hilfsgütern durch das von der UNO geleitete System und die Aufhebung der Blockade sind jetzt notwendig – und all das kann mit politischem Willen erreicht werden.


Die fortgesetzte Komplizenschaft der britischen Regierung bei den Gräueltaten Israels ist unverantwortlich, und ich möchte keinen weiteren Tag damit verbringen, Kinder zu operieren, die von einer Armee erschossen und ausgehungert wurden, das unsere Regierung unterstützt. Die Geschichte wird nicht nur diejenigen verurteilen, die diese Verbrechen begangen haben, sondern auch diejenigen, die tatenlos zugesehen haben.


Aus dem Nasser-Krankenhaus heraus sage ich Ihnen: Das alles ist vorsätzlich. Das alles ist vermeidbar.


Und das alles muss jetzt sofort aufhören.

 


Prof. Nick Maynard ist Facharzt für Chirurgie am Universitätsklinikum Oxford und reist seit 15 Jahren regelmäßig nach Gaza. Er engagiert sich ehrenamtlich bei Medical Aid for Palestinians im Nasser-Krankenhaus in Gaza.


ree

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