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Ein 9-jähriger palästinensischer Bub stand in einiger Entfernung. Ein israelischer Soldat kniete sich hin und erschoss ihn.

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  • 28. Okt.
  • 7 Min. Lesezeit

Augenzeugen berichten, dass Muhammad al-Halaq mit verschränkten Armen dastand und keine Gefahr darstellte, als ein einziger tödlicher Schuss abgefeuert wurde. Die Soldaten haben anschließend offenbar gefeiert. Die israelische Armee erklärte, der Vorfall werde derzeit untersucht.


Von Gideon Levy (Text) und Alex Levac (Fotos), Haaretz, 25. Oktober 2025


(Originalbeitrag in englischer Sprache)

 

Ein großes Banner mit dem Bild eines Jungen in einem bunten Trainingsanzug bedeckt das Bett. Ein neuer blauer Rucksack liegt am Kopfende des Bettes, ein weißes Kleidungsstück am Fußende. Eine Frau steht da und weint, ihren Blick auf das Bild ihres Sohnes geheftet. Auch um sie herum bleibt kein Auge trocken.

Das Bett gehört Muhammad al-Hallaq, einem 9-Jährigen Buben, der in der vierten Klasse war. Er hatte den Rucksack an dem Tag bekommen, an dem er getötet wurde. Das weiße Kleidungsstück ist die Festtagskleidung, die er in der örtlichen Moschee während des Freitagsgebets trug. Die weinende Frau neben dem Bett ist Alia, seine Mutter, eine beeindruckende 33-jährige Frau, Mutter von vier Kindern, darunter der tote Muhammad.

Ein Soldat der israelischen Streitkräfte erschoss den Jungen am vergangenen Donnerstag, dem 16. Oktober, als er ruhig und in einiger Entfernung von den Streitkräften stand. In einem Video, das von einem Passanten aufgenommen wurde, ist er für einen Moment am Rand des Bildes zu sehen, ein kleiner Junge, der in einem blauen T-Shirt auf der Straße steht, Sekunden vor seinem Tod.

Die Soldaten feuerten Dutzende Schüsse in die Luft und verscheuchten damit Kinder, die auf dem Basketballplatz der nahe gelegenen Mädchenschule Fußball spielten. Die Kinder rannten voller Angst auseinander. Auch Muhammad floh auf die Straße und stellte sich mit vor der Brust verschränkten Armen neben eine Steinmauer. Offenbar sah er keinen Grund, weiter zu rennen: Die Soldaten waren weit weg, auf der Straße war es ruhig.

Aber einer der Soldaten beschloss, dem Jungen eine Lektion zu erteilen. Nach Aussagen von Augenzeugen, mit denen Haaretz sprach, kniete sich der Soldat hin, zielte und feuerte einen einzigen Schuss ab. Die Kugel traf Muhammad in die rechte Hüfte und trat nach Zerstörung wichtiger Blutgefäße und Organe aus der linken Hüfte wieder aus. Muhammad hatte keine Chance. Er schaffte es noch, ein oder zwei Schritte zu gehen, brach dann zusammen und versuchte, auf dem Boden zu kriechen, bis er sich nicht mehr bewegte.

Etwa anderthalb Stunden später wurde er im Krankenhaus für tot erklärt. Er war das dritte Kind der Familie al-Hallaq, einer armen Familie, die in dem abgelegenen Dorf al-Rihiya südlich von Hebron lebt.

Die israelische Armee hatte keinen Grund, das Dorf zu überfallen, geschweige denn ein Kind zu töten. Dies ist ein weiterer Fall, in dem der Krieg in Gaza auf das Westjordanland übergreift. Was dort erlaubt ist, ist auch hier erlaubt: Töten um des Tötens willen, sogar von kleinen Kindern, für deren Blut Satan noch keine Rache ersonnen hat, wie ein Dichter schrieb.

Auf die Frage von Haaretz, ob der Soldat, der den Jungen getötet hatte, zur Befragung festgenommen worden sei, gab die Pressestelle der israelischen Armee ihre übliche Antwort. Der eine allgemeine Satz – „Der Vorfall ist bekannt und wird von der Militärstaatsanwaltschaft untersucht“ – reicht offenbar aus, um die moralische Verpflichtung der Armee in Bezug auf die Tötung eines unschuldigen Kindes anzuerkennen. In ein oder zwei Jahren wird der Fall wegen mangelnden öffentlichen Interesses eingestellt werden.

Und der Soldat – was wird mit ihm geschehen? Wird er sich an den engelsgleichen Jungen erinnern, den er kaltblütig getötet hat? Wird er sich an ihn erinnern, wenn er selbst Vater eines Kindes im gleichen Alter ist? Wird der tote Junge in seinen Träumen erscheinen? In seinen Albträumen? Hat er überhaupt eine Vorstellung von dem Unglück, das er dieser armen Familie zugefügt hat? Oder hat er vielleicht schon alles vergessen? Tatsache ist, dass er nicht einmal verhört wurde. Einen kleinen Jungen wie diesen zu töten, hat für die israelische Armee keine Konsequenzen, und wahrscheinlich auch nicht für den Soldaten, der den Abzug betätigt hat.

Augenzeugen berichteten uns, dass der Soldat nach dem Schuss seine Arme in einer Geste offensichtlicher Freude hob; seine Kameraden schlossen sich der Fröhlichkeit an. Dann feuerten sie Tränengasgranaten auf einige der Einheimischen, die versuchten, den Jungen zu retten, bevor sie wenige Minuten später den Ort verließen.

In al-Rihiya leben etwa 7 000 Menschen. Der Weg zum Dorf ist aufgrund der zahlreichen verlassenen Checkpoints, die seit Ausbruch des Krieges im Gazastreifen vor zwei Jahren entstanden sind, sehr beschwerlich. Man muss sich seinen Weg durch die labyrinthartigen Straßen des Flüchtlingslagers Al-Fawar bahnen, das ebenfalls fast vollständig von der Außenwelt abgeschnitten ist.

Die Eltern sitzen in dem Trauerzelt, das neben ihrem Haus aufgestellt wurde. Der Vater, Bahjat, 38, arbeitete jahrelang auf Baustellen in Israel; jetzt ist er in einem Supermarkt in einem Flüchtlingslager in der Nähe von Ramallah beschäftigt. Die Entfernung von zu Hause und die unzähligen Checkpoints zwingen ihn, die Woche im Lager zu verbringen und nur am Wochenende nach Hause zu kommen.

Als wir ihn diese Woche besuchten, erzählte uns Bahjat, dass er an dem Tag, an dem sein Sohn getötet wurde, ebenfalls bei der Arbeit war. Die panische, albtraumhafte Reise zu seinem Sohn, nachdem ihm zunächst mitgeteilt worden war, dass der Junge verwundet worden sei, dauerte drei Stunden. In einer WhatsApp-Gruppe von al-Rihiya sah er einen Clip, in dem Muhammad von seinem Onkel zu dessen Auto getragen wurde, blutend aus der Hüfte, den Kopf hängend. In diesem Moment wusste er, dass das Schicksal seines Sohnes besiegelt war. Drei Stunden vergingen, ehe er die Leiche sah: Er war gezwungen worden, mehr als eine Stunde an dem sogenannten Container-Checkpoint zu warten, der das Westjordanland in zwei Teile teilt, während Soldaten wie üblich träge ein Auto nach dem anderen kontrollierten.

An diesem Morgen verließ Muhammad sein Zuhause, um seine kleine Schwester Sila, eine 6-Jährige, die in der ersten Klasse ist, zur Mädchenschule neben seiner Schule zu begleiten. Am Ende des Tages holte er sie wie üblich ab und die beiden gingen nach Hause. Stolz zeigte er den neuen Rucksack und das Federmäppchen, die er und seine Klassenkameraden als Geschenk von UNICEF, dem Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen, erhalten hatten und auf denen das Logo der Organisation prangt.

Muhammads Mutter zeigt sie uns. Seine Hefte und Schulbücher sind noch darin, darunter auch das Rechenheft, in das der Lehrer am letzten Tag seines Lebens rote Anmerkungen geschrieben hatte. In seinem Federmäppchen befinden sich Stifte und Bleistifte sowie ein Fläschchen Parfüm, das er benutzte, nachdem er seine festliche weiße Kleidung für das Freitagsgebet in der Moschee angezogen hatte. Alia streicht über das kleine Fläschchen, als wolle sie sich nicht davon trennen.

Nachdem Muhammad am Donnerstag sein Mittagessen beendet hatte, kamen einige seiner Freunde vorbei und gemeinsam gingen sie zur Mädchenschule, die etwa 1,5 Kilometer von seinem Zuhause entfernt liegt. Dort spielen sie fast jeden Tag nach der Schule auf dem Basketballplatz Fußball. Es war etwa 14:30 Uhr, als Muhammad das Haus verließ, um nie wieder zurückzukehren. Zur gleichen Zeit fuhr seine Mutter mit ihrem Vater in die nahe gelegene Stadt Yatta, um Einkäufe zu erledigen.

Gegen 17 Uhr fuhren plötzlich zwei Jeeps der israelischen Armee in das Dorf. Die Kinder waren noch auf dem Basketballplatz. Die Soldaten schossen in die Luft, um die Anwohner*innen zu vertreiben und sie nach Hause zu schicken, so wie man streunende Hunde verjagt. Das ist mittlerweile Routine: Die Armee dringt durchschnittlich dreimal pro Woche in dieses Dorf ein, normalerweise nachts. Dieses Mal tauchten die Truppen bei Tageslicht auf.

Die Straßen leerten sich. Auch die Kinder, die Fußball spielten, zerstreuten sich. Muhammad floh zusammen mit ihnen vom Schulhof und stellte sich an die Mauer. Die Soldaten befanden sich im Tal, etwa 250 Meter entfernt. Sie schrien und schossen in die Luft. Unmittelbar danach kniete sich offensichtlich einer von ihnen hin und schoss auf Muhammad.

Die Soldaten feuerten daraufhin vier Tränengasgranaten auf Passant*innen ab und ließen Muhammad drei bis vier Minuten lang bluten, bevor er geholt werden konnte.

Einer der Onkel des Jungen, der in der Nähe wohnt und gesehen hatte, was passiert war, eilte auf die Straße und trug Muhammad zusammen mit seinem Sohn zum Auto des Onkels. Ein Video zeigt, wie der Onkel seinen Neffen, der leblos zu sein scheint, ins Auto hebt. Diese Woche berichtete der Onkel – er hat Angst, dass sein Name veröffentlicht wird –, dass er einen Puls am Hals des Kindes gefunden habe, wenn auch schwach. Er wollte den Jungen so schnell wie möglich in das staatliche Krankenhaus in Yatta bringen, sah aber dieselben beiden Jeeps, die er in al-Rihiya gesehen hatte, langsam vor sich fahren. Er befürchtete, dass die Soldaten ihn aufhalten und Muhammad möglicherweise entführen würden, und wählte daher eine Umgehungsstraße, die die Fahrtzeit verdoppelte: 30 Minuten statt 15.

Ein weiterer Cousin, der 19-jährige Aiham, erzählt uns, dass er den Moment, in dem Muhammad getroffen wurde, vom Dach seines Hauses aus gesehen hat. Er berichtet, dass die Soldaten ihre Arme erhoben hätten, was für ihn wie eine Geste des Triumphs oder der Freude aussah. Andere Augenzeugen bestätigten dies gegenüber Manal al-Jabari, der Feldforscherin für B'Tselem – Das israelische Informationszentrum für Menschenrechte in den besetzten Gebieten – in der Region Hebron. Sie erzählten ihr auch, dass die Überwachungskamera, die an einer Straße mit Blick auf den Ort der Schießerei installiert war, einige Zeit später von Soldaten entfernt wurde.

Als der Onkel im Abu Hasan Qassem Krankenhaus in Yatta ankam, dachte er, das Herz seines Neffen hätte aufgehört zu schlagen. Die Ärzte versuchten, Muhammad wiederzubeleben und brachten ihn schnell in den Operationssaal, aber es war schon zu spät. Am Abend rief ein Agent des Sicherheitsdienstes Shin Bet den Onkel an, um ihn und seine Familie davor zu warnen, während der Beerdigung Demos zu organisieren.

Nachdem Muhammad erschossen worden war, rief der Bruder seines Vaters Bahjat an, um ihm mitzuteilen, dass sein Sohn verletzt worden war. Als er in die WhatsApp-Gruppe des Dorfes schaute, wurde ihm klar, dass sich sein Sohn in einem kritischen Zustand befand. Er erinnert sich, dass er unter Schock stand. Einwohner*innen der palästinensischen Stadt Idna erklärten sich bereit, ihn nach Hause zu fahren. Am Ende der qualvollen Fahrt kam er um 20:30 Uhr im Krankenhaus an.

Muhammads Mutter Alia war mit ihrem Vater in Yatta einkaufen, als sich die Ereignisse zutrugen, und als er einen Anruf erhielt, verspürte sie ein ungutes Gefühl. Als ihr Vater das Telefon in seine Tasche steckte, wuchs ihre Angst. Ein Verwandter fragte: „Was ist in deiner Nachbarschaft los? Ist jemand verletzt worden?“ Sie wechselte zu ihrem eigenen Telefon und sah das Video, in dem ihr sterbender Sohn in das Auto seines Onkels gelegt wurde.

Das medizinische Team im Krankenhaus ließ Alia und ihren Vater nicht in Muhammads Zimmer und versuchte, sie zu beruhigen, indem es ihr sagte, er habe nur eine leichte Verletzung erlitten. Als sie die Familie um Blutspenden baten, dachte sie, es gäbe noch Hoffnung. Erst nach einiger Zeit teilten ihr die Ärzte mit, dass die Kugel große Blutgefäße zerrissen hatte und ihr Muhammad tot war. Er hatte seiner Mutter einmal erzählt, dass er später einmal Kardiologe werden wollte.

Muhammad wurde noch in derselben Nacht auf dem Dorffriedhof beigesetzt.

Jetzt weint Alia im Schlafzimmer ihres Sohnes; ihr jugendlicher Sohn Wajdi ist traurig. Jetzt will sie nur noch, dass der Soldat, der ihren Sohn erschossen hat, die Strafe bekommt, die er verdient. Ihre Kinder schlafen nicht mehr in ihren Betten neben Muhammads Bett. Sie haben Angst.


Gideon Levy ist Kolumnist bei Haaretz und Mitglied der Redaktion der Zeitung.


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