Ein Ziel nach dem anderen: Die Logik, die israelischen Liberalen half, Völkermord zu begehen
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- 29. Okt.
- 7 Min. Lesezeit
Indem sie jedem Tötungsakt ein militärisches Ziel zuordneten, konnten Israelis aller politischen Richtungen an den Massakern teilnehmen, ohne die Moral ihrer Handlungen in Frage zu stellen.
Von Yuval Abraham, +972Mag in Kooperation mit Local Call, 20. Oktober 2025
(Originalbeitrag in englischer Sprache)
Einige Monate nach dem 7. Oktober schrieb ich mich für einen Einführungskurs zum Thema Völkermord an der Open University of Israel ein. Der Dozent begann die erste Vorlesung, an der etwa 20 jüdisch-israelische Studierende über Zoom teilnahmen, mit der Ankündigung, dass wir am Ende des Semesters genau verstehen würden, was Völkermord bedeutet, und erklären könnten, warum Israel in Gaza keinen Völkermord begeht.
Kurz gesagt lautete sein Argument wie folgt: Israel zerstört zwar möglicherweise Gaza, aber seine Handlungen sind eher durch militärische Ziele motiviert als durch die „Absicht, eine bestimmte Gruppe als solche zu vernichten“, wie es in der Völkermordkonvention heißt. Ohne diese Absicht, so seine Schlussfolgerung, sei der Begriff Völkermord nicht zutreffend.
In den letzten zwei Jahren habe ich zahlreiche investigative Recherchen veröffentlicht, die Details der israelischen Angriffspolitik im Gazastreifen aufdecken, von denen einige dazu beigetragen haben, die juristischen Anschuldigungen wegen Völkermordes zu untermauern. Als Südafrika im Januar 2024 vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH) Klage gegen Israel einreichte, stützte es sich unter anderem auf unsere Enthüllung aus dem November 2023, die Israels KI-gesteuerte Massenmordkampagne gegen die Familienhäuser mutmaßlicher Militanter aufdeckte. Als ein UN-Ausschuss letzten Monat ebenfalls zu dem Schluss kam, dass Israel Völkermord begeht, stützte er sich unter anderem auf eine weitere unserer Untersuchungen, aus der hervorgeht, dass laut einer internen Datenbank des israelischen Geheimdienstes mehr als 80 Prozent der Todesopfer in Gaza Zivilist*innenen sind.
Doch nur wenige der Dutzenden Soldat*innen und Offiziere, mit denen ich im Laufe dieser Ermittlungen gesprochen habe und von denen viele bereitwillig als Whistleblower fungierten, sahen sich selbst als Mitwirkende an einem Völkermord. Als Geheimdienstoffiziere und Kommandeure die Bombardierung von Familienhäusern in Gaza beschrieben, wiederholten sie oft die Logik des Universitätsdozenten: Sicher, wir haben vielleicht Verbrechen begangen, aber wir waren keine Mörder, weil jede Handlung ein bestimmtes militärisches Ziel hatte.
Nach dem 7. Oktober beispielsweise ermächtigte die Armee Soldat*innen, bis zu 20 Zivilist*innen zu ermorden, um einen mutmaßlichen Hamas-Aktivisten niedrigen Ranges zu töten, oder Hunderte von Zivilist*innen, wenn es um hochrangigere Persönlichkeiten ging. Die überwiegende Mehrheit dieser Morde ereignete sich in Wohnhäusern von Zivilist*innen, in denen keine militärischen Aktivitäten stattfanden. Aber für die meisten Soldat*innen, mit denen ich gesprochen habe, rechtfertigte die bloße Existenz eines mutmaßlichen militärischen Ziels, selbst in Fällen, in denen die Lage nach den Geheimdienstinformationen unklar war, praktisch jede daraus resultierende Zahl von Todesopfern.
In einer anderen Untersuchung beschrieb mir ein Soldat, wie sein Bataillon ferngesteuerte Drohnen einsetzte, um auf palästinensische Zivilist*innen, darunter Frauen und Kinder, zu schießen, als diese versuchten, in ihre zerstörten Häuser in einem von der israelischen Armee besetzten Gebiet zurückzukehren. Dabei wurden innerhalb von drei Monaten 100 unbewaffnete Palästinenser*innen getötet. Das Ziel sei nicht gewesen, sie um ihrer selbst willen zu töten, sondern die Nachbarschaft leer zu halten und damit für die dort stationierten Soldaten sicherer zu machen, erklärte er.
Eine andere Soldatin berichtete, dass sie an der Bombardierung eines ganzen Wohnblocks beteiligt war, der aus mehr als zehn mehrstöckigen Wohnhäusern und einem Hochhaus bestand, in denen zahlreiche Familien lebten. Sie wusste im Voraus, dass sie und ihre Mannschaft dabei wahrscheinlich etwa 300 Zivilist*innen töten würden. Die Operation, erklärte sie, basierte jedoch auf Geheimdienstinformationen, wonach sich ein relativ hochrangiger Hamas-Kommandeur irgendwo unter einem dieser Gebäude verstecken könnte. Ohne genauere Informationen zerstörten sie das gesamte Gebiet in der Hoffnung, ihn zu töten.
Die Soldatin räumte ein, dass der Angriff einem Massaker gleichkam. Aber ihrer Ansicht nach war dies nicht die Absicht; das Ziel war es, den Kommandanten zu treffen, der möglicherweise gar nicht dort war.
Diese einsatzorientierte Sichtweise spielte eine entscheidende Rolle dabei, gewöhnliche Israelis zur Teilnahme am Völkermord zu bewegen – vielleicht sogar mehr als Gehorsam allein, der in solchen Kontexten normalerweise als Hauptmotiv angesehen wird. Indem sie jede Gewalttat als eigenständige Aufgabe betrachteten, von der gezielten Tötung eines Hamas-Aktivisten bis zur Sicherung eines Geländes, konnten die Soldat*innen vermeiden, sich mit ihrer Rolle bei der Massenvernichtung von Zivilist*innen auseinanderzusetzen.
Diese Denkweise lässt sich in Zeiten künstlicher Intelligenz und Big Data auch leichter aufrechterhalten. Diese Technologien können fast augenblicklich Informationen über eine gesamte Bevölkerung sammeln und analysieren und Gebäude und ihre Bewohner*innen mit angeblicher Präzision kartografieren. Auf diese Weise produzieren sie einen endlosen Strom von scheinbaren militärischen Rechtfertigungen und schaffen so einen Anschein von Legalität für eine Politik des Massenmords. Die KI hat es Israel faktisch ermöglicht, einen Grundpfeiler des Völkerrechts – die Verpflichtung, nur militärische Ziele anzugreifen – in ein Instrument zu verwandeln, das genau jenes Gemetzel legitimiert und beschleunigt, das es eigentlich verhindern sollte.
Sich überschneidende Motive
Während in Gaza ein fragiler, von den USA vermittelter Waffenstillstand in Kraft tritt, werden die weltweiten Bemühungen um Rechenschaftspflicht und Gerechtigkeit mit voller Kraft fortgesetzt. Der Fall Südafrikas vor dem IGH wird weitergehen, während Israel und seine Unterstützer – darunter auch westliche Regierungen – versuchen werden, die Vorwürfe des Völkermords zu diskreditieren, um die rechtlichen Konsequenzen eines solchen Urteils abzuwenden. Dabei werden sie weiterhin auf die erklärten militärischen Ziele hinter jedem einzelnen Angriff verweisen, wie es die Armee routinemäßig als Reaktion auf unsere Berichterstattung tut.
Die Tendenz der Täter*innen von Völkermord, „Sicherheit“ als Rechtfertigung für Massengewalt anzuführen, ist gut dokumentiert und rationalisiert brutale Handlungen in einem breiteren Rahmen der Selbstverteidigung. Aber unabhängig davon, welche fadenscheinigen Ausreden in jedem einzelnen Fall vorgebracht werden, wurden Israels Angriffe unbestreitbar in dem vollen Bewusstsein durchgeführt, dass sie zur Vernichtung eines anderen Volkes führen würden. Das Ergebnis ist eine palästinensische Todesopferzahl, die vermutlich 100.000 übersteigt, und die fast vollständige Zerstörung des Gazastreifens.
Dennoch verfehlt es den Kern der Sache, sich nur darauf zu konzentrieren, wie sich einzelne Gewalttaten zu einem Gesamtbild des Völkermords summierten. Für viele israelische Politiker*innen waren Massensterben und Zerstörung das Ziel. Von der absichtlichen Aushungerung von zwei Millionen Menschen über die Erschießung von Hilfssuchenden bis hin zur systematischen Zerstörung ganzer Städte und der aktiven Arbeit an einer Massenvertreibung war die Vernichtung der Palästinenser*innen im Gazastreifen als Ziel an sich überdeutlich.
Insbesondere nachdem Israel im März den vorherigen Waffenstillstand gebrochen hatte, wurden die militärischen Ziele, die man noch hätte anführen können, noch vager. Was blieb, war eine nackte mörderische Logik, die die Armee selten mit militärischen Argumenten zu rechtfertigen versuchte.
Diese Motivation kam nicht nur in Taten, sondern auch in Worten zum Ausdruck. Wie Premierminister Benjamin Netanjahu im Mai sagte: „Wir reißen weiterhin Häuser ab; sie können nirgendwohin zurückkehren. Das einzig logische Ergebnis wird sein, dass die Bewohner*innen Gazas aus dem Gazastreifen auswandern wollen.“ Der ehemalige Chef des Militärgeheimdienstes, Aharon Haliva, drückte sich noch deutlicher aus: „Für alles, was am 7. Oktober passiert ist, für jeden von uns, der am 7. Oktober gestorben ist, müssen 50 Palästinenser*innen sterben. Es spielt jetzt keine Rolle mehr, ob es Kinder sind oder nicht. Ich spreche nicht aus Rache, sondern als Botschaft für zukünftige Generationen. Sie brauchen ab und zu eine Nakba, um den Preis zu spüren.“
Entscheidend ist jedoch, dass einsatzorientierte Motive und genozidale Motive sich nicht gegenseitig ausschließen, sondern gegenseitig verstärken. Und diese Überschneidung vergrößerte die Basis derjenigen, die bereit waren, sich an den Massakern zu beteiligen.
Die offen völkermordbereiten Soldat*innen – von denen es viele gibt – zerstörten die Stadt Rafah vollständig, um die Palästinenser*innen ethnisch zu säubern, während diejenigen mit einem eher liberaleren Selbstverständnis sie zerstörten, um eine „Sicherheitspufferzone” zu schaffen. Haliva sah die Bombardierung von Familienhäusern als einen Akt der Rache, während Soldat*innen, die mit solchen Rechtfertigungen mehr Probleme hatten, sich einreden konnten, dass dies getan wurde, um ein Ziel im Inneren zu treffen.
Die einsatzorientierte Mentalität zerlegt die Zerstörung eines Volkes und eines Ortes in Tausende von isolierten Handlungen, die jeweils für sich genommen gerechtfertigt sind, aber keine als Teil einer größeren Völkermordkampagne (an)erkannt wird. Sie ermöglicht es einigen der Ausführenden, die übergeordnete Absicht zu ignorieren, selbst wenn Politiker wie Netanjahu und Haliva sie offen artikulieren. Um ein altes Sprichwort umzukehren: Indem sie sich nur auf jeden einzelnen Baum konzentrieren, übersehen sie den Wald des Völkermords.
Völkermord als moralischer Rahmen
Im Zentrum all dieser Rechtfertigungen steht die Entmenschlichung der Palästinenser*innen. Die Soldat*innen, die 300 Menschen töteten, um einen einzigen Hamas-Kämpfer zu töten, sagten mir, dass sie dies wahrscheinlich nicht getan hätten, wenn sich ein jüdisches Kind in dem Gebäude befunden hätte.
Entmenschlichung wirkt in zwei Richtungen: Sie bläht das Opfer nicht nur zu einer monströsen Bedrohung auf, sondern bewirkt auch das Gegenteil - sie reduziert es zu Staub, schrumpft es, bis es verschwindet. Auf diese Weise kann ein Soldat, der einen bestimmten Auftrag ausführt, die Tötung von 300 Menschen rechtfertigen. Sie werden nicht als 300 einzigartige Menschen betrachtet, sondern lediglich als Datenpunkte in einer Software, die „Kollateralschäden“ berechnet.
Viele jüdische Israelis haben die Entwicklungen der letzten zwei Jahre mit der Sprache des Holocaust verstanden. Ein Freund aus meiner Kindheit, der Berufsoffizier wurde und nicht mehr mit mir spricht, schrieb auf Facebook, dass er vor dem 7. Oktober darauf achtete, öffentlichen Zeugnissen von Holocaust-Überlebenden beizuwohnen, „um so traumatisiert wie möglich zu werden“ und so einen Sinn in seiner Arbeit zu finden. Nach dem Massaker der Hamas, das er als Werk der heutigen Nazis ansieht, schrieb er, dass er nun den Schmerz der Holocaust-Überlebenden tief verstehen könne.
Andere in Israel und auf der ganzen Welt – mich selbst eingeschlossen – betrachteten Israels Massaker an Zivilist*innen, die hungernden Kinder in Gaza, die Massengräber und die endlosen Zwangsvertreibungen aus der entgegengesetzten Perspektive.
Es ist bemerkenswert, dass die Bilder des Holocaust sowohl zur Rechtfertigung der Zerstörung Gazas als auch zum Widerstand dagegen dienen können. Dieses Paradoxon zeigt die Macht des Völkermords als dominierende moralische Sprache unserer Zeit und die Tatsache, dass Palästinenser*innen ihr Leiden oft in diese Sprache übersetzen müssen, um überhaupt als Opfer gehört zu werden.
Wenn wir jedoch die letzten zwei Jahre nicht nur durch das Prisma des Völkermords betrachten, sondern auch als eine zweite Nakba – ein anhaltendes Projekt der Auslöschung, das darauf abzielt, sowohl ein Volk als auch den Raum, den es bewohnt, zu zerstören –, können wir vielleicht besser verstehen, wie Israels Handlungen zu bewerten sind. Während Völkermord oft als Gewalt um ihrer selbst willen verstanden wird, steht hinter der Nakba Gewalt mit einem bestimmten Ziel: die Vertreibung und Auslöschung eines Volkes.
Und doch kann ich als jüdischer Israeli, der mit den Schrecken der letzten zwei Jahre konfrontiert ist, nicht umhin, in Begriffen des Holocaust zu denken. Die Zerstörung Gazas hat mir geholfen, nicht nur die Geschichten der Opfer besser zu verstehen, sondern auch die der Täter - der schweigenden Mehrheit, die durch ihre Handlungen die Gräueltaten ermöglicht hat, und die Geschichten, die sie sich selbst erzählen, um all das zu rechtfertigen.
Yuval Abraham ist Journalist und preisgekrönter Filmemacher und lebt in Jerusalem.




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