Eine Debatte in der Knesset zeigt, dass nicht jeder das Aushungern von Kindern aus dem Gazastreifen für eine schlechte Sache hält
- office16022
- vor 2 Tagen
- 5 Min. Lesezeit
Eine scheinbar triviale Bemerkung einer israelischen Ärztin wurde von den Abgeordneten der Knesset mit einer Flut von Vorwürfen beantwortet. „Ich bin mir nicht sicher, ob Sie für uns sprechen, wenn Sie sagen, wir würden jedes Kind und jede Frau behandeln wollen“, sagte einer der Abgeordneten.
Von Nir Hasson, Haaretz, 10. Mai 2025
(Originalbeitrag in englischer Sprache)
In der israelischen Knesset fand erstmals eine Diskussion über die humanitäre Krise im Gazastreifen statt. Während einer Sitzung am vergangenen Donnerstag [am 8. Mai, Anm.] machte Dr. Sharon Shaul von NATAN, einer in Israel ansässigen Organisation, die weltweit humanitäre Hilfe leistet, eine scheinbar triviale Bemerkung: „Ich denke, dass auch jeder, der hier am Tisch sitzt, nicht möchte, dass ein leidendes Kind keine Schmerzmittel oder nur minimale medizinische Behandlung erhält.“
Der israelische Abgeordnete Amit Halevi (Likud) unterbrach sie wütend: „Ich bin mir nicht sicher, ob Sie für uns sprechen, wenn Sie sagen, wir würden jedes Kind und jede Frau behandeln wollen. Ich hoffe, Sie stehen auch nicht hinter dieser Aussage. Wenn man gegen eine solche Gruppe kämpft, gibt es keine Unterscheidungen wie in einer normalen Welt.“
Dr. Shaul gab nicht nach: „Ich hoffe, dass auch Sie nicht wollen, dass ein Vierjähriger, dessen Arm amputiert wurde, ohne Schmerzmittel auskommen muss. Ich kann nur hoffen, auch Sie haben soviel Einfühlungsvermögen.“ Die Abgeordnete Limor Son Har-Melech (religiöser Zionismus) konnte sich nicht zurückhalten: „Die einzige Behandlung, die hier nötig ist, ist für Sie“, sagte sie und zeigte auf Dr. Shaul. Ein anderer Teilnehmer bemerkte: „Sie sind die kränkste Ärztin, die ich je gesehen habe.“
Die Diskussion wurde vom Abgeordneten Moshe Tur-Paz (Yesh Atid) im Rahmen eines Unterausschusses des Ausschusses für auswärtige Angelegenheiten und Verteidigung einberufen, der sich mit öffentlicher Diplomatie und Außenbeziehungen befasst. Dabei ging es nicht um den Hunger an sich, sondern um den Schaden, den er in der Diplomatie und den öffentlichen Beziehungen anrichten könnte.
„Soweit ich weiß, hat der Staat Israel nicht die Absicht, den Hunger als Waffe einzusetzen. Ich glaube, dass es in der jüdischen Moral, die ich kenne, keine Erlaubnis gibt, Nichtkombattant*innen auszuhungern, selbst wenn es keine unbeteiligten Zivilist*innen gibt, und ich habe den Eindruck, dass die israelische Regierung nicht darauf hinarbeitet, den Gazastreifen auszuhungern“, sagte Tur-Paz nach dem Treffen.
Diejenigen, die in der Diskussion den Ton angaben, waren jedoch Halevi und Son Har-Melech. Entgegen der Hoffnung von Dr. Shaul waren viele am Tisch tatsächlich der Meinung, dass das Aushungern und Quälen der Kinder im Gazastreifen nicht nur legitim, sondern sogar wünschenswert ist.
Shifra Tzur Aryeh, die sich als Bewohnerin des Gazagürtels [die Gebiete im Süden Israels, die sich in einem Gürtel von etwa sieben Kilometern Breite um den Gazastreifen ziehen, Anm.] zu erkennen gab, beschimpfte die Abgeordneten, weil sie die Diskussion überhaupt geführt hatten. „Wen bemitleiden Sie?“, rief sie und wiederholte die falschen Behauptungen über die ‚Ausweidung‘ schwangerer Frauen während des Angriffs vom 7. Oktober als Grund dafür, dass die Bewohner*innen des Gazastreifens kein Mitleid verdient hätten.
Eine weitere Teilnehmerin war Rashel Twito, Gründerin von Tzav 9, einer Organisation, die während des ersten Kriegsjahres Hilfsgütertransporte blockierte und deren Aktivitäten manchmal zu Übergriffen auf Fahrer und zur Zerstörung von Hilfsgütern führten. Twito führte das erste Geisel-Abkommen auf die Aktionen von Tzav 9 zurück - obwohl ihre Tätigkeit zwei Monate nach diesem Abkommen im Jahr 2023 begann und Monate vor dem zweiten Freilassungs-Abkommen Anfang 2025 endete.
„Wir haben uns behauptet und waren erfolgreich“, sagte sie. „Jeden Tag haben wir Lastwagen blockiert, und dank dieser Aktion haben wir die erste Welle an Geiseln zurückbekommen. Ich bin keine Sadistin, aber ich kenne meinen Feind. Am Ende gab es hier eine Belagerung, und sie hat dazu beigetragen, die Geiseln zurückzubringen. Das hat sich als erfolgreich erwiesen. Das Völkerrecht und die UNO sind mir egal - das ist das einzige ernsthafte Druckmittel, das funktioniert.“
Tzav 9 gilt als extremistische Gruppe, die von der Regierung Biden und der Europäischen Union sanktioniert wurde. Facebook entfernte ihre Seite. Doch in der gestrigen Diskussion stand Tzav 9 im Mittelpunkt des Konsenses.
Selbst der aus Nir Oz stammende Yizhar Lifshitz – Sohn von Oded Lifshitz, der entführt und ermordet wurde, und Yocheved, die entführt und später freigelassen wurde – lobte Twito: „Ich respektiere dich, weil du wenigstens etwas getan hast, während sie (die Politiker) nur reden.“
Lifshitz argumentierte, dass, „obwohl es fast keine Unschuldigen in Gaza gibt, jeder moralische Mensch verstehen kann, dass das Verhungern von Kindern nichts ist, worauf wir stolz sein können... Es gibt eine Grenze, die wir nicht überschreiten dürfen. Der Anblick von Müttern mit toten Kindern in ihren Armen - ist es das, was unsere Geiseln zurückbringen wird? Unsere Stärke liegt auch in der Gerechtigkeit unseres Weges.“
Dafür wurde er von Son Har-Melech heftig beschimpft: „Es ist schrecklich, dass Sie das überhaupt erwähnen. Es ist furchtbar, schrecklich und entsetzlich, dass Sie von Hunger sprechen, während unsere Kinder so grausam abgeschlachtet wurden. Ich hätte nicht erwartet, dass Sie das zur Sprache bringen.“
Es gab auch Teilnehmer*innen an der Diskussion, die versuchten, über die Bedrohung durch Hunger und das Leiden der Kinder im Gazastreifen zu sprechen. Arnon Khoury-Yafin, ein Statistiker und Wirtschaftswissenschaftler, der ein Modell zur Berechnung der Nahrungsmittelmengen in Gaza entwickelt hat, versuchte, den Abgeordneten die Situation zu erklären.
Sein Modell basiert auf der Berechnung der Menge an Lebensmitteln, die nach Angaben der israelischen Armee in den Gazastreifen gebracht wurden, und der Kalorien, die sich daraus ableiten lassen. Seinem Modell zufolge gibt es im Durchschnitt genügend Nahrungsmittel im Gazastreifen - aber er hat wenig Zweifel daran, dass die schwächsten und ärmsten Bevölkerungsgruppen im Gazastreifen an schwerer Unterernährung leiden.
„Dem Modell zufolge sind wir bereits an einem Punkt angelangt, an dem Zehntausende überhaupt nichts mehr zu essen haben oder weniger als 300 Kalorien pro Tag zu sich nehmen. Und selbst wenn wir den Durchschnitt betrachten, besteht vielleicht kein Kaloriendefizit, aber ein Mangel an bestimmten Nährstoffen“, erklärte Arnon. Auch er wurde vom Abgeordneten Halevi zurechtgewiesen, der weder ein Modell noch komplexe Berechnungen benötigte, um zu erklären: „In Gaza gibt es keinen einzigen Hungernden, nicht einmal ein einziges Kind. Es ist eine Schande, dass Sie diese Lüge noch weiter verbreiten - niemandem dort fehlt etwas.“
In der anschließenden geschlossenen Sitzung präsentierte die israelische Armee ähnliche Daten wie Khoury-Yafin. Die Armee behauptet, dass es in Gaza immer noch genug Nahrungsmittel gibt, wenn sie gleichmäßig verteilt werden, aber selbst die israelische Armee gibt zu, dass sich „Hungerzonen“ gebildet haben könnten: Familien, Kinder und bedürftige Einzelpersonen, die nicht in der Lage sind, die Mindestnahrungszufuhr sicherzustellen.
„Ich glaube nicht, dass sich irgendjemand in diesem Raum vorstellt, dass wir in 15 Jahren zurückblicken und sagen werden: 'Es war großartig, dass wir sie ausgehungert haben - was für eine kluge Strategie'“, sagte Ron Yamin von der politischen Zentrale der Koalition der linken Organisationen.
Son Har-Melech konnte sich einmal mehr nicht zurückhalten: „Niemand hungert - hören Sie auf, die Lügen der Hamas zu wiederholen!“
Yamin ließ sich jedoch nicht beirren: „Das Schicksal eines Kindes, das nichts gegessen hat, das sein Zuhause und seine Familie verloren hat, ist besiegelt. Hunger führt zu Verzweiflung, und Verzweiflung führt zu Extremismus. Ich bin hier, um euch zu warnen: Wenn wir jetzt keine Bauchschmerzen dabei haben, dass wir Kinder hungern lassen, dann werden uns die Kopfschmerzen jahrelang verfolgen. Die Erfahrung des Hungers prägt sich dem Körper und der Seele ein, und sie wird uns noch viele Jahre lang begleiten.“
„Dein Herz ist nicht mehr zu retten“, schrie Tzur Aryeh sie daraufhin an.

Yorumlar