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Eine Ödnis aus Trümmern, Staub und Gräbern: So sieht Gaza aus der Luft aus

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  • 8. Aug.
  • 5 Min. Lesezeit

The Guardian begleitete eine jordanische Militärluftbrücke und erhielt so die seltene Gelegenheit, die durch Israels Angriffe verwüstete Landschaft Gazas zu sehen.


Von Lorenzo Tondo, mit Fotos von Alessio Mamo, The Guardian, 5. August 2025


(Originalbeitrag in englischer Sprache; bitte sehen Sie sich unbedingt die dazugehörenden Bild- und Videoaufnahmen an!)

 

Aus der Luft betrachtet sieht Gaza aus wie die Ruinen einer alten Zivilisation, die nach Jahrhunderten der Dunkelheit ans Licht gekommen sind. Ein Flickenteppich aus Betonformen und zerbrochenen Mauern, Stadtviertel übersät mit Kratern, Trümmern und Straßen, die nirgendwo hinführen. Die Überreste von Städten, die ausgelöscht wurden.


Aber hier gab es keine Naturkatastrophe und keinen langsamen Lauf der Zeit.


Gaza war bis vor weniger als zwei Jahren ein geschäftiger, lebendiger Ort, trotz aller Herausforderungen, denen seine Bewohner*innen schon damals ausgesetzt waren. Seine Märkte waren gefüllt, seine Straßen voller Kinder. Dieses Gaza gibt es nicht mehr - es wurde nicht unter Vulkanasche begraben, nicht von der Geschichte ausgelöscht, sondern durch eine israelische Militäraktion dem Erdboden gleichgemacht, die einen Ort hinterlassen hat, der wie nach einer Apokalypse aussieht.


The Guardian erhielt am Dienstag die Erlaubnis, an Bord eines jordanischen Militärflugzeugs zu reisen, das Hilfsgüter transportiert. Israel gab letzte Woche bekannt, dass es die koordinierten humanitären Luftabwürfe über Gaza wieder aufgenommen habe, nachdem der internationale Druck wegen der gravierenden Knappheit an Lebensmitteln und medizinischen Hilfsgütern zugenommen hatte. Die Lage hat sich so sehr verschärft, dass dort nun eine Hungersnot droht.


Der Flug bot nicht nur die Möglichkeit, mitzuerleben, wie drei Tonnen Hilfsgüter – bei weitem nicht ausreichend – über dem von Hungersnot heimgesuchten Gazastreifen abgeworfen wurden, sondern auch die seltene Gelegenheit, ein Gebiet – wenn auch nur aus der Luft – zu beobachten, das seit dem 7. Oktober und der darauf folgenden Offensive Israels weitgehend von den internationalen Medien abgeschottet wurde. Nach den von der Hamas angeführten Angriffen an diesem Tag verhängte Israel ein Einreiseverbot für ausländische Journalist*innen nach Gaza - ein beispielloser Schritt in der Geschichte moderner Konflikte, der zu den seltenen Fällen zählt, in denen Reporter*innen der Zugang zu einem aktiven Kriegsgebiet verwehrt wurde.


Selbst aus einer Höhe von etwa 600 Metern konnte man Orte erkennen, die einige der verheerendsten Kapitel des Konflikts markieren - eine Landschaft, die von den Narben der tödlichsten Angriffe gezeichnet ist.


Dies sind die Orte von Bombardierungen und Belagerungen, die von palästinensischen Journalist*innen mutig dokumentiert wurden - oft unter Einsatz ihres eigenen Lebens. Mehr als 230 palästinensische Reporter*innen liegen in notdürftig angelegten Friedhöfen begraben.


Etwa einienhalb Stunden nach dem Start fliegt das Flugzeug über die Ruinen des nördlichen Gazastreifens und der Stadt Gaza, die nun eine Ödnis aus zerbröckelndem Beton und Staub sind. Gebäude sind zu Trümmern zerfallen, Straßen sind mit Kratern übersät, ganze Stadtteile sind dem Erdboden gleichgemacht. Aus dieser Entfernung ist es fast unmöglich, die Bewohner*innen Gazas zu sehen. Nur durch ein fast 400-mm-Kameraobjektiv ist es möglich, eine kleine Gruppe von Menschen zu auszumachen, die zwischen den Trümmern einer zerstörten Landschaft stehen - das einzige Zeichen von Leben an einem Ort, der ansonsten unbewohnbar erscheint.


Als sich das Flugzeug dem Flüchtlingslager Nuseirat nähert, öffnet sich die hintere Luke und Paletten mit Hilfsgütern rutschen heraus, während sich hinter ihnen Fallschirme entfalten, die sie zu Boden gleiten lassen.


„Mit den heutigen Luftabwürfen hat die jordanische Armee nun insgesamt 140 Luftabwürfe durchgeführt, zusätzlich zu 293 in Zusammenarbeit mit anderen Ländern, und seit der Wiederaufnahme der Luftabwürfe am 27. Juli 325 Tonnen Hilfsgüter nach Gaza geliefert“, heißt es in einer Mitteilung des jordanischen Militärs.


Doch solche Mengen reichen bei weitem nicht aus. Humanitäre Organisationen warnen, dass sich der Hunger in dem Gebiet rasch ausbreitet. Luftabwürfe können zwar den Eindruck erwecken, dass etwas unternommen wird, doch sind sie nach allgemeiner Auffassung kostspielig, ineffizient und reichen bei weitem nicht an die Menge an Hilfsgütern heran, die mit Lastwagen transportiert werden könnte. In den ersten 21 Monaten des Krieges lieferten 104 Tage Luftabwürfe laut israelischen Daten nur die Menge an Lebensmitteln, die in Gaza für vier Tage ausreicht.


Die Luftabwürfe können auch tödlich sein: Im vergangenen Jahr ertranken mindestens 12 Menschen bei dem Versuch, im Meer gelandete Lebensmittel zu bergen, und mindestens fünf wurden getötet, als Paletten auf sie stürzten.


Weiter südlich fliegt das Flugzeug über Deir al-Balah im Zentrum des Gazastreifens. Dort, im Baraka-Gebiet, wurde am 22. Mai die 11-jährige Yaqeen Hammad, bekannt als Gazas jüngste Social-Media-Influencerin, getötet, als eine Reihe schwerer israelischer Luftangriffe ihr Haus traf, während sie in einem winzigen Stück Grünfläche, das sie sich in einem Flüchtlingslager angelegt hatte, Blumen goss.


Ein paar Kilometer weiter fliegt das Flugzeug in der Nähe von Khan Younis, das seit Monaten von der israelischen Armee belagert wird, während in und um die Krankenhäuser heftige Kämpfe toben. Irgendwo in den nördlichen Vororten liegen die Überreste des Hauses von Dr. Alaa al-Najjar, einer palästinensischen Kinderärztin, die im al-Tahrir-Krankenhaus arbeitete, das zum Nasser-Medizinkomplex gehört. Ihr Haus wurde im Mai bombardiert, während sie Dienst hatte. Ihr Mann und neun ihrer zehn Kinder kamen bei dem Angriff ums Leben.


Aus der Luft wird einem bewusst, wie klein Gaza ist - ein schmaler Landstreifen, der zum Schauplatz eines der blutigsten Kriege der Welt geworden ist. Das Gebiet ist mehr als viermal kleiner als Groß- London. In dieser winzigen Ecke des Nahen Ostens wurden laut Gesundheitsbehörden mehr als 60 000 Menschen bei israelischen Angriffen getötet. Schätzungsweise Tausende weitere liegen noch unter den Trümmern begraben.


Einige hundert Meter unter uns arbeitet die Guardian-Reporterin Malak A Tantesh, eine Journalistin und Überlebende, an einer ihrer Meldungen. Die meisten ihrer Kolleg*innen, Redakteur*innen und andere Mitarbeiter*innen hat Tantesh noch nicht kennengelernt, da die israelische Blockade es den Menschen in Gaza unmöglich macht, das Gebiet zu verlassen. Sie wurde mehrfach vertrieben, lebt ohne zuverlässigen Zugang zu Nahrung und Wasser und hat in den Kämpfen Verwandte, Freunde und ihr Zuhause verloren. Es ist ein seltsames und beklemmendes Gefühl, eine Nachricht von ihr zu erhalten, während das jordanische Flugzeug über sie hinwegfliegt.


Als unser Flugzeug wieder in Richtung Jordanien abbiegt, zeigt ein Soldat an Bord auf den dunstigen Horizont im Süden. „Das dort unten ist Rafah“, sagt er.


Rafah, der südlichste Teil des Gazastreifens, ist eine Region, die inzwischen weitgehend zerstört ist und in der seit Mai, als die von Israel und den USA unterstützte Gaza Humanitarian Foundation die Lebensmittelversorgung übernommen hat, Hunderte Menschen bei der Suche nach Nahrung ums Leben gekommen sind. Nur wenige Kilometer östlich, inmitten von kraterübersäten Hügeln, liegt der Ort, an dem am 23. März eine israelische Militäreinheit einen Konvoi palästinensischer Rettungsfahrzeuge angegriffen und 15 Sanitäter und Rettungskräfte getötet hat, die später in einem Massengrab verscharrt wurden.


Nach der Landung auf dem jordanischen Luftwaffenstützpunkt King Abdullah II in Ghabawi scheint dieselbe Frage unter den wenigen Reporter*innenn, die an Bord des Fluges waren, zu schweben:


Wann werden wir Gaza wiedersehen?


Und, nachdem wir diese Wüste aus zerbrochenen Steinen und Gräbern gesehen haben, was kann noch zerstört werden, wenn schon so viel vernichtet wurde?




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