Es ist nicht nur Gaza. Von der Westbank bis hin zu Syrien und Libanon geht Israels Angriff weiter.
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Von Nesrine Malik, The Guardian, 1. Dezember 2025
(Originalbeitrag in englischer Sprache)
Es ist nun klar, dass der Waffenstillstand in Gaza nur eine „Reduzierung der Feuerkraft” ist. Die Angriffe gehen weiter. Es gibt fast täglich Angriffe auf das Gebiet. An einem einzigen Tag Ende Oktober wurden fast 100 Palästinenser*innen getötet. Am 19. November wurden 32 Menschen getötet. Am 23. November waren es 21. Und so geht es weiter. Seit dem Waffenstillstand wurden mehr als 300 Menschen getötet und fast 1 000 verletzt. Diese Zahlen werden weiter steigen. Die eigentliche Veränderung besteht darin, dass der Waffenstillstand die weltweite Aufmerksamkeit und Kontrolle verringert hat. Unterdessen wird Israels sich abzeichnender Plan immer deutlicher: blutige Herrschaft nicht nur in Gaza, sondern in ganz Palästina und der gesamten Region.
Als „gefährliche Illusion, dass das Leben in Gaza zur Normalität zurückkehrt“ bezeichnete die Generalsekretärin von Amnesty International, Agnès Callamard, diese Zeit nach dem Waffenstillstand. Die israelischen Behörden hätten ihre Angriffe reduziert und einige Hilfslieferungen nach Gaza zugelassen, sagte sie, aber „die Welt darf sich nicht täuschen lassen. Der Völkermord Israels ist nicht vorbei.“ Kein einziges Krankenhaus in Gaza ist wieder voll funktionsfähig. Der Beginn der Regenzeit und das kühler werdende Wetter haben Tausende Menschen in baufälligen Zelten ausgesetzt. Seit dem Waffenstillstand am 10. Oktober haben die israelischen Behörden fast 6 500 Tonnen von den Vereinten Nationen koordinierte Hilfsgüter daran gehindert, nach Gaza zu gelangen. Laut Oxfam wurden allein in den zwei Wochen nach dem Waffenstillstand Lieferungen von Wasser, Lebensmitteln, Zelten und medizinischen Hilfsgütern von 17 internationalen Nichtregierungsorganisationen abgelehnt.
Das Ergebnis ist, dass eine Bevölkerung, deren Häuser, Lebensgrundlagen und sichere Unterkünfte zerstört wurden, immer noch keine sichereren Zelte oder ausreichende Nahrung erhalten darf. Die israelischen Behörden halten die Menschen in Gaza in einem qualvollen Fegefeuer gefangen, setzen die kollektive Bestrafung fort, verhindern die Entstehung von Bedingungen für ein normales Leben und etablieren Israel als alleinigen, keiner Rechenschaftspflicht unterliegenden Herrscher mit unbegrenzter Macht über die Bevölkerung des Gebiets.
Gaza steht an vorderster Front einer Ausweitung des israelischen Imperialismus, der sich bis ins Westjordanland und darüber hinaus erstreckt. In den besetzten Gebieten des Westjordanlands eskaliert die seit dem 7. Oktober 2023 verschärfte Unterdrückung zu einer vollständigen militärischen Belagerung. Zehntausende Palästinenser*innen wurden in diesem Jahr aus ihren Häusern vertrieben, was laut Human Rights Watch „Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und ethnische Säuberungen“ darstellt, „die untersucht und strafrechtlich verfolgt werden müssten“. Letzte Woche tauchten Aufnahmen auf, die zeigen, wie zwei palästinensische Männer in Jenin von israelischen Soldaten hingerichtet wurden, nachdem sie sich offensichtlich ergeben hatten. Itamar Ben-Gvir, der rechtsextreme Minister für nationale Sicherheit, sagte, dass die an den Morden beteiligten Streitkräfte seine „volle Unterstützung“ hätten. Sie hätten „genau so gehandelt, wie man es von ihnen erwartet – Terroristen müssen sterben“.
Und dies ist nur ein kleiner Ausschnitt aus einem seltenen gefilmten Moment des Blutvergießens. In den letzten zwei Jahren wurden mehr als 1 000 Menschen von israelischen Streitkräften und Siedlern im Westjordanland getötet. JedeR Fünfte davon ist ein Kind. In mehr als 300 Fällen handelt es sich vermutlich um „außergerichtliche Hinrichtungen”. Im Oktober dieses Jahres registrierte die UNO mehr als 260 Angriffe von Siedlern, die höchste Zahl seit Beginn der Aufzeichnungen vor 20 Jahren. Mehr als 93 Prozent der Ermittlungen zu diesen Angriffen enden ohne Anklage. Zahlreiche palästinensische Gefangene sollen in israelischen Gefängnissen durch körperliche Gewalt oder medizinische Vernachlässigung ums Leben gekommen sein, und diejenigen, die es lebend herausschaffen, berichten von einer Hölle aus Folter und Misshandlung.
Und dennoch werden die Parameter Israels, anzugreifen, zu töten und Land zu erobern, immer weiter ausgedehnt. Letzte Woche starteten israelische Streitkräfte einen Bodenangriff im Süden Syriens, bei dem 13 Syrer*innen, darunter auch Kinder, getötet wurden. Das israelische Militär weigerte sich, Informationen über die Gruppe preiszugeben, die es angeblich bei dem Angriff ins Visier genommen hatte. Es behielt sich lediglich das Recht vor, in syrisches Gebiet vorzudringen, wie es dies seit der Invasion und Besetzung der Pufferzone zwischen den beiden Ländern und anderer Teile Süd-Syriens bereits mehrfach getan hat. Seitdem werden die israelischen Streitkräfte von Human Rights Watch beschuldigt, das koloniale Vorgehen anzuwenden, das man aus den palästinensischen Gebieten kennt: Zwangsumsiedlungen, Beschlagnahmung von Häusern, Zerstörungen, Zerstörung der Lebensgrundlagen und unrechtmäßige Überstellung syrischer Häftlinge nach Israel. Israel beabsichtigt, seine Präsenz auf unbestimmte Zeit aufrechtzuerhalten.
Im Libanon sind nach dem Krieg im letzten Jahr immer noch 64 000 Menschen aus ihrer Heimat vertrieben, und die israelischen Angriffe haben sich verschärft. Trotz der Friedensverhandlungen im letzten November hat Israel fast täglich Bombenangriffe auf libanesisches Gebiet geflogen. Der letzte erfolgte erst letzte Woche. Israel besetzt weiterhin fünf strategisch günstige Punkte, von denen aus es Angriffe auf Ziele fliegt, die seiner Meinung nach mit der Hisbollah in Verbindung stehen. Nach Angaben einer UN-Friedenstruppe im Libanon hat Israel mehr als 10 000 Luft- und Bodenverstöße gegen den Waffenstillstand begangen, bei denen Hunderte von Menschen getötet wurden. In den Kämpfen werden Zivilist*innen erneut aus ihrem Land vertrieben, sind israelischen Militärangriffen schutzlos ausgeliefert und unterliegen im Wesentlichen einer Art israelischer Superhoheit. Laut einem aktuellen Bericht der New York Times „bietet die Situation im Libanon ein eindrucksvolles Beispiel für einen neuen Nahen Osten, in dem Israels Einfluss nahezu allgegenwärtig ist“.
Was für Waffenstillstände sind das? Was für ein Status quo ist das? Die Antwort lautet: ein instabiler und unhaltbarer Status quo, in dem kein vernünftiger Mensch erwarten kann, dass sich Frieden einstellt, weder in Palästina noch im gesamten Nahen Osten. Vermittler*innen, Interessenvertreter*innen und Diplomat*innen mögen immer wieder von schrittweisen Waffenstillständen und Wiederaufbauplänen sprechen, aber in Wirklichkeit handelt es sich dabei um Pläne für eine Zukunft, die niemals eintreten wird, solange Israel seine rechtswidrigen Handlungen in Gebieten, über die es keine Rechtsansprüche hat, nicht einstellt. Die gefährliche Illusion, dass das Leben zur Normalität zurückkehrt, gilt nicht nur für Gaza, sondern für ganz Palästina und die gesamte Region. Sie wird bald zerbrechen.
Nesrine Malik, politische Analystin und Autorin, ist Kolumnistin bei The Guardian.




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