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Essay von Mosab Abu Toha: Es gibt keinen Frieden in Gaza

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Seit Präsident Trump seinen Plan für einen Waffenstillstand angekündigt hat, sind Menschen, die ich kenne, getötet worden. Ein Verwandter berichtete von Folter während eines Jahres in israelischer Haft.


Von Mosab Abu Toha, The New Yorker, 24. Oktober 2025


(Originalbeitrag in englischer Sprache)

 

Letzten Monat mussten mein Vater und meine Geschwister, die seit dem 7. Oktober 2023 schon oft vertrieben wurden, vor den israelischen Angriffen in Gaza-Stadt fliehen. In den Wochen danach haben sie mich oft gefragt, ob es bald einen Waffenstillstand geben würde oder ob sie mehr Hilfe bekommen würden. Weil ich in den USA lebe und ständig die Nachrichten verfolge, haben sie sich an mich gewandt, um Antworten und irgendwie Beruhigung zu bekommen. Aber in Wahrheit hatte ich begonnen, die Hoffnung zu verlieren. Ich wollte ihnen nicht sagen, dass ich nicht mehr wirklich mit einem Waffenstillstand rechnete. Früher habe ich sie nur zum Plaudern angerufen, aber jetzt konzentrierte ich mich auf praktische Dinge. Brauchen sie Decken, Zelte, Medikamente? Haben meine Nichten und Neffen genug Kleidung?

Am Morgen des 25. September wachte ich mit Nachrichten aus Gaza auf. Laut einem Telegram-Beitrag hatte ein israelischer Luftangriff ein Haus im Flüchtlingslager Al-Shati getroffen, in dem ein Zweig der Familie Abu Toha lebte. Ich fürchtete sofort um meine Verwandten. Ich rief Ashraf an, meinen Cousin ersten Grades. Ashraf erzählte mir, dass Mohammad Ayman Abu Toha, sein Neffe, zusammen mit seiner Frau und vier seiner Kinder im Alter von zehn, sechs, vier und zwei Jahren getötet worden war. Sie waren wie ich im Lager geboren worden und wurden im Lager getötet. Nur eines von Mohammads Kindern, der zwölfjährige Anas, war noch am Leben. Er war das, was Ärzte in Gaza als W.C.N.S.F. [Wounded Child No Surviving Family, Anm.] bezeichnen – ein verwundetes Kind ohne überlebende Familie.

Am 3. Oktober veröffentlichte Präsident Donald Trump dann in den sozialen Medien, dass die Unterhändler der Hamas, die Israel weniger als einen Monat zuvor in Katar zu töten versucht hatte, einem von ihm als „Friedensplan“ bezeichneten Vorschlag zugestimmt hätten. Er schrieb, dass „Israel die Bombardierung des Gazastreifens unverzüglich einstellen muss“. Am folgenden Tag griff Israel weitere Häuser in Gaza-Stadt an und tötete Berichten zufolge Dutzende Menschen, darunter ein drei Monate altes Baby. Ashraf schrieb mir eine Nachricht, dass ein weiterer Cousin, Abdallah, Vater eines Zweijährigen und eines Sechsmonatigen, getötet worden sei. „Ich habe Freunde angerufen, die als Ersthelfer tätig sind, um Abdallahs Leiche zu bergen“, erzählte mir Ashraf. „Israelische Quadcopter-Drohnen eröffnen das Feuer auf jeden, der sich in der Gegend aufhält.“

Dennoch begann ich, vorsichtigen Optimismus in den Stimmen meiner Lieben zu hören. Es gab das Gefühl, dass es diesmal wirklich anders sein könnte. Am 8. Oktober um 18:51 Uhr schrieb Trump auf Truth Social: „Ich bin sehr stolz, bekannt geben zu dürfen, dass Israel und die Hamas beide die erste Phase unseres Friedensplans unterzeichnet haben.“ Die israelischen Streitkräfte sollten ihre Angriffe einstellen und sich zurückziehen, die Hilfslieferungen sollten wieder aufgenommen werden, die von der Hamas festgehaltenen Geiseln sollten gegen fast zweitausend inhaftierte oder eingesperrte Palästinenser*innen ausgetauscht werden, und ein technokratisches, unpolitisches palästinensisches Übergangskomitee sollte vorübergehend die Kontrolle über den Gazastreifen übernehmen. Die Menschen in Gaza wussten, dass Israel den Waffenstillstand brechen könnte, wie es bereits nach einer ähnlichen Vereinbarung im März geschehen war. Aber schon bald gab es Feierlichkeiten auf den Straßen – nicht aus Freude über den Sieg, denn niemand fühlte sich als Sieger, sondern aus Freude über das Überleben. Die Menschen hatten ihre Häuser, Familienangehörige und jegliches Gefühl von Normalität verloren, aber sie waren am Leben, und allein das war schon etwas wert.

Am 9. Oktober rief ich Ashraf an, um zu fragen, ob sie Abdallah schon beerdigen konnten. „Unsere Familie im Lager Al-Shati hat heute versucht, seine Leiche zu bergen“, erzählte er mir. „Die israelischen Drohnen haben das Feuer auf sie eröffnet.“ Auch die Leichen von Mohammeds Kindern lagen noch unter den Trümmern. Ein paar Minuten später wurde ich von Sky News zu den Aussichten auf einen Waffenstillstand interviewt. Ich sprach über einen kürzlichen israelischen Angriff auf ein Wohnhaus im Stadtteil Sabra in Gaza-Stadt. Zum Zeitpunkt des Interviews waren mindestens vier Menschen getötet und mindestens sieben verletzt worden; Dutzende weitere waren noch unter den Trümmern verschüttet. In den Nachrichtenberichten stieg die Zahl der Todesopfer schließlich auf sechzehn.

Nach dem Interview sah ich mir ein Video von einem Kind an, das die Ersthelfer retten konnten. Dann war es Zeit für mich, meine eigenen Kinder von der Schule abzuholen.

Yazzan, mein neunjähriger Sohn, fragte mich, ob der Krieg vorbei sei. Er wollte wissen, ob wir feiern könnten. Ich zögerte. Ich wusste, dass seine Mutter Maram ihm auf dem Weg zur Schule bereits von einem möglichen Waffenstillstand erzählt hatte. Ich wollte nicht andeuten, dass Maram nicht ehrlich gewesen war. „Ja, Yazzan“, sagte ich ihm. „Sie sind gerade dabei, das Abkommen abzuschließen. Warten wir ab.“

Ich erzählte Yazzan nicht, dass kein Palästinenser und keine Palästinenserin an der Ausarbeitung des Abkommens beteiligt war. Ich erzählte ihm nicht, dass in Gaza immer noch Familien durch israelische Angriffe getötet wurden. Ich erzählte ihm nicht, dass der Plan nichts darüber aussagt, Israel wegen Kriegsverbrechen zu untersuchen, die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen oder die Rechte der Palästinenser*innen zu wahren.

Als die israelische Regierung bekannt gab, dass sie die erste Phase des Abkommens genehmigt hatte, war Yazzan beim Fußballtraining. Maram und ich erzählten es unseren drei Kindern, nachdem er nach Hause gekommen war. „Juhu!“, rief Yazzan. „Lasst uns feiern!“ Er sah müde aus nach einem langen Tag, aber er sprang vor Aufregung in die Luft. Er verließ kurz den Raum und kam mit meinem Bluetooth-Lautsprecher zurück.

„Kannst du Musik auflegen?“ Er wollte Dabke-Musik hören, die oft auf palästinensischen Hochzeiten und Partys gespielt wird. Als ich den Lautsprecher an mein Handy angeschlossen hatte, sprangen Yazzan und sein fünfjähriger Bruder Mostafa auf unserem Bett herum. Ihre achtjährige Schwester Yaffa war eingeschlafen. Mostafa nahm vor dem Spiegel eine Pose ein. Er tanzte herum, schnappte sich dann einen leeren Koffer aus dem Schrank und kletterte hinein. Er bat Yazzan, den Koffer zu drehen.

Maram und ich sahen uns an. Wie immer hielten wir unsere Handys in der Hand. Seit mehr als zwei Jahren verfolgten wir wie besessen die Nachrichten, ohne zu wissen, wann die nächste Tragödie eintreten würde. Wir hielten unsere Gefühle zurück und waren immer noch besorgt darüber, was als Nächstes passieren könnte. Aber in diesem Moment wollten wir achtsam bleiben und die Freude unserer Kinder respektieren.

Am 12. Oktober fragte Yazzan beim Mittagessen, ob ich ihm einen neuen Baseballschläger kaufen könnte. „Jetzt hast du doch mehr Zeit, um mit uns zu spielen“, fügte er hinzu. „Kein Krieg in Gaza, keine aktuellen Nachrichten. Das bedeutet doch weniger Zeit zum Schreiben, oder?“

In dieser Nacht blieben Maram und ich lange auf und warteten gespannt auf eine Liste der Palästinenser*innen, die aus israelischer Haft entlassen werden sollten. Mehrere unserer Verwandten waren seit Monaten inhaftiert. Um 23:23 Uhr – 6:23 Uhr in Gaza – wurden 1700 Namen in einer Telegram-Gruppe veröffentlicht. Zu unserer großen Erleichterung fanden wir zwei nahe Verwandte auf der Liste, die ich aus Sicherheitsgründen Khaled und Adel nennen werde. Beide hatten fast ein Jahr in israelischer Haft verbracht. Viele andere Angehörige, darunter Marams Cousin Suhaib, waren jedoch nicht dabei. Suhaib, ein gutaussehender junger Mann, der als Hochzeitsfotograf arbeitete, war das einzige Mitglied seiner unmittelbaren Familie, das einen Luftangriff im Oktober 2024 im Norden Gazas überlebt hatte. Er wurde gerade zwischen zwei Krankenhäusern verlegt, als israelische Soldaten den Krankenwagen anhielten und ihn mitnahmen.

Wir riefen unsere Familien in Gaza an. Obwohl der Internetzugang dort extrem eingeschränkt ist, wussten unsere Familien bereits, wer freigelassen worden war. Sie hatten in dieser Nacht nicht geschlafen. Die Häftlinge wurden zur medizinischen Untersuchung ins Nasser-Krankenhaus in Khan Yunis gebracht. Das Rote Kreuz würde dabei helfen. Eine Menschenmenge hatte sich versammelt, um sie zu empfangen – nicht nur Familienangehörige, Freund*innen und Nachbar*innen, sondern auch Fremde, die das Schicksal ihrer vermissten Angehörigen erfahren wollten.

Amerikanische Nachrichtensender übertrugen live, wie Geiseln aus Israel und aus anderen Ländern mit ihren Familien wiedervereint wurden. Da Israel jedoch internationalen Medien die Arbeit in Gaza ohne militärische Aufsicht untersagt hat, war es für Journalist*innen schwieriger, die Momente festzuhalten, in denen inhaftierte Palästinenser*innen zurückkehrten. Ich dachte an die drei qualvollen Tage im November 2023 zurück, als israelische Streitkräfte mich von meiner Frau und meinen Kindern wegbrachten und mich schlugen. Während dieser Zeit war meine größte Angst, dass Maram und den Kindern etwas zustoßen könnte. Ich dachte an all die Inhaftierten, die erfahren würden, dass ihre Familien bei Luftangriffen getötet worden waren.

Als Maram und ich endlich mit Khaled sprachen, einem Bauern, der in meine Familie eingeheiratet hatte, war er gerade mit seinem jüngeren Bruder auf dem Weg von Khan Younis im Süden Gazas nach Deir al-Balah im Zentrum Gazas. Ich erinnere mich, wie ich mit Khaled Erdbeeren, Mais, Kürbisse, Gurken und grüne Bohnen gepflückt habe. Ich erinnere mich an Familiengrillpartys und gemeinsame Radtouren zum Strand. Aber davon ist heute nichts mehr übrig. Weder Khaleds Haus noch meines. Weder seine Farm noch der Garten meiner Familie. Nicht einmal die Straße zum Strand. Seine Frau kümmert sich in einem Zelt um ihre drei Kinder.

Als Nächstes riefen wir Adel an, der in Marams Familie eingeheiratet hatte. Ein Bus hatte ihn und viele andere Palästinenser kürzlich aus einem israelischen Gefängnis nach Gaza gebracht. Er erzählte uns, dass Soldaten ihn mehrmals auf den Kopf geschlagen hatten, bevor das Rote Kreuz eintraf. Anstatt seine Freilassung zu feiern, weinte Adel nur. Er hatte gerade erfahren, dass Marams Vater im Sommer getötet worden war. Er war auf dem Weg zu einem Grenzübergang gewesen, in der Hoffnung, auf einen Hilfs-Lkw zu treffen, als ihn Splitter eines israelischen Luftangriffs am Kopf trafen.

„Es tut mir so leid wegen deinem Vater“, sagte Adel zu Maram. „Mein Herz ist gebrochen.“

Zwei Tage später erzählte mir Khaled seine Geschichte. Seine Inhaftierung begann im November 2024 an einem Kontrollpunkt in der Salah al-Din-Straße. „Ich wurde gezwungen, mich vor sieben israelischen Soldaten vollständig zu entkleiden“, erzählte mir Khaled. Er sagte, dass die Soldaten ihn in einem Badezimmer einsperrten und dann verhörten. Sie befragten ihn zu den Geiseln in Hamas-Gewahrsam und ob er Mitglied der Hamas oder der militanten Gruppe Islamischer Dschihad sei. Als er dies verneinte, schlugen sie ihn mit ihren Gewehrkolben, fügte Khaled hinzu. „Du lügst“, erinnerte er sich an die Worte eines Soldaten. „Ich werde dich erschießen.“

Er sagte, dass er in Sde Teiman, einer israelischen Militärbasis, die als Internierungslager genutzt wird, hundert Tage lang mit verbundenen Augen und Handschellen festgehalten wurde und zweimal pro Woche Soldaten ihn mit Kampfhunden, Schallgranaten und Pfefferspray attackierten. Er verbrachte seine Tage kniend auf etwas, das sich wie Kies anfühlte. „Wenn ich versuchte, mich hinzusetzen, trat mich ein israelischer Soldat“, sagte Khaled. „Wir bekamen sehr wenig zu essen. Wir mussten die Toilette benutzen, während wir noch mit verbundenen Augen und gefesselt waren.“

Khaled wurde kurzzeitig in das Ofer-Gefängnis verlegt, wo Adnan al-Bursh, ein Orthopäde, der einst das Al-Shifa-Krankenhaus in Gaza leitete, 2024 nach Folterungen gestorben war. Dann wurde Khaled zurück nach Sde Teiman geschickt. „Das war während der sogenannten ‚Disco-Zeit‘“, erzählte er mir. „Aus Lautsprechern dröhnt Musik in unerträglicher Lautstärke. Man ist wie ein Hund angekettet. Man trägt Windeln. Sie schlagen und demütigen einen.“ Manchmal hatte er sich gewünscht, er könnte sterben.

Ein Detail hat mich besonders schockiert. Während eines Verhörs wurde Khaled beschuldigt, Mitglied des Islamischen Dschihad zu sein, was er erneut bestritt. „Ich bin nur ein Bauer“, antwortete er. Khaleds größte Angst war, dass seine Frau und seine Kinder, von denen eines auf eine Operation wartete, bei einem Luftangriff getötet werden könnten. Er erzählte mir, dass ein israelischer Geheimdienstoffizier Khaled ein Foto von ihnen gezeigt habe. „Es war ein Foto von unserer Familienversicherungskarte“, erzählte mir Khaled. Er hatte keine Ahnung, wie der Offizier daran gekommen war. „Die Haft war an sich schon eine Qual, aber die Bedrohung meiner Familie war eine Qual anderer Art – mindestens genauso schwer, wenn nicht sogar schlimmer“, sagte er.

Nach vier Tagen wurde die Befragung beendet, und Khaled verstand, dass seine Akte geschlossen worden war. Er wurde jedoch nicht freigelassen. Er verbrachte etwa einen Monat in einem anderen Teil von Sde Teiman. Schließlich wurde er in das Al-Naqab-Gefängnis (Negev) verlegt, wo die Häftlinge in Zelten schliefen. „Soldaten stürmten unsere Zelte und schossen mit Gummigeschossen auf unsere Beine und Knie“, sagte er. „Die Verletzten wurden blutend zurückgelassen.“ Er berichtete, dass einige ihrer Wunden von Maden befallen waren.

Khaled erfuhr von einigen Wärtern von dem Waffenstillstandsabkommen. Am 10. Oktober befahlen ihm die Wärter in Al-Naqab und mehreren anderen, sich in einer Reihe aufzustellen. Khaled nahm an, dass er in ein anderes Gefängnis verlegt werden sollte, bis er an einen Ort namens „Ward A” gebracht wurde. „Das ist die Station für diejenigen, deren Entlassung bevorsteht”, sagte Khaled. „Wir alle begannen, Hoffnung zu schöpfen.“ Zwei Stunden später wurden ihnen Handschellen angelegt und ihre Fingerabdrücke genommen, was ihre Hoffnung noch verstärkte.

Dann kamen die Wärter und nahmen ihnen ihre Decken und Matratzen weg. „Die nächsten drei Nächte schliefen wir auf dem kalten Boden“, sagte Khaled. Sie bekamen weniger zu essen als zuvor. „Die Angst kehrte zurück“, erzählte er mir. „Trotzdem dachten wir, dass sie vielleicht nur so hart durchgriffen, weil wir freigelassen werden sollten.“ Er sagte, dass ein Geheimdienstoffizier ihm schließlich signalisierte, dass er freikommen würde, und ihm sagte: „Wenn Sie etwas falsch machen, gibt es keine Warnungen. Wir schicken eine Rakete zu Ihnen. Verstanden?“

Nachdem Khaled endlich freigelassen worden war, ging er acht Meilen zu Fuß durch zerstörte Stadtviertel, vom Süden Gazas bis zu einer kleinen Stadt in der Nähe von Deir al-Balah. Er war erschöpft, aber je näher er seiner Frau und seinen Kindern kam, desto aufgeregter wurde er. Endlich erreichte er eine Gruppe von Zelten, in denen seine Großfamilie lebte. Seine kleine Tochter entdeckte ihn als Erste, und vor Freude hob er sie hoch in die Luft. Dann eilten seine anderen Verwandten herbei und umarmten ihn.

Er betrat das Zelt seiner Kernfamilie, wo seine Frau ihn umarmte. Khaled wagte nicht zu fragen, wo sein dreijähriger Sohn war.

Es stellte sich heraus, dass der Junge nur schlief und auf einer dünnen Decke auf dem Boden lag. Khaled kniete nieder, rief den Namen seines Sohnes und beugte sich vor, um ihn zu küssen. Sein Sohn regte sich im Halbschlaf und blinzelte Khaled mit unvertrautem Blick an. In den Augenblicken, bevor er wieder einschlief, schien er seinen Vater nicht zu erkennen.

Als das Magazin „The New Yorker“ das israelische Militär zu den von Khaled beschriebenen Zuständen befragte, bezeichnete ein Sprecher diese als „unbegründete Anschuldigungen“. Die israelische Gefängnisbehörde, die die Gefängnisse Ofer und Al-Naqab betreibt, erklärte gegenüber der Washington Post, dass sie für angemessene Lebensbedingungen sorge. Aber ähnliche Erfahrungen wie die von Khaled – darunter langes Knien, Schläge, Angriffe durch Militärhunde und mangelnde medizinische Versorgung – wurden von Menschenrechtsorganisationen, den Vereinten Nationen und Nachrichtenorganisationen berichtet. Im Juni 2024 berichtete die Times über Bewohner*innen des Gazastreifens, die angaben, sie seien nackt durchsucht, mit verbundenen Augen und Handschellen gefesselt und dann nach Sde Teiman gebracht worden, wo sie in einem ohrenbetäubenden „Disco-Raum” festgehalten und körperlich misshandelt worden seien. „Jede Misshandlung von Häftlingen, sei es während ihrer Inhaftierung oder während des Verhörs, verstößt gegen das Gesetz und die Richtlinien der israelischen Armee und ist als solche strengstens verboten“, erklärte die israelische Armee in einer Stellungnahme gegenüber der Times. Auf die Frage nach Luftangriffen, bei denen Zivilist*innen getötet wurden, erklärte die israelische Armee gegenüber The New Yorker: „Während des gesamten Krieges hat die Armee im Einklang mit dem Völkerrecht gehandelt, um die Sicherheit des Staates Israel und seiner Bürger*innen vor Angriffen der Hamas auf Zivilist*innen zu schützen, indem sie militärische Ziele angegriffen hat.“

Letzte Woche hat ein Freund aus meiner Heimatstadt Beit Lahia auf Facebook ein Video von unserem alten Viertel gepostet. Es hat mich erschüttert. Kein einziges Haus stand mehr. Die Zahnarztpraxis in unserer Straße, ein Bekleidungsgeschäft, eine Futtermittelmühle, in der mein Vater früher Getreide für unsere Vögel und Kaninchen gekauft hat, sogar eine Palme, die uns als Orientierungspunkt diente – alles war dem Erdboden gleichgemacht worden.

Wir erhielten auch ein Foto von Khaled und seiner Frau vor ihrem Zelt in Deir al-Balah. Die Kleidung, die Khaled während seiner Haft getragen hatte, hing hinter ihnen auf einer provisorischen Wäscheleine. Maram und ich betrachteten das Foto mit stiller Freude. Dann sagte sie leise: „Möge Allah dir gnädig sein, Vater.“ Ich konnte in ihren Augen sehen, dass sie sich wünschte, auch ihr Vater könnte zu seiner Familie zurückkehren. Wir denken auch oft an ihren Cousin Suhaib, den keiner ihrer Verwandten erreichen kann. Er ist einer von Tausenden Palästinenser*innen, die sich noch immer in israelischen Gefängnissen oder Militärlagern befinden – viele von ihnen ohne Anklage oder Gerichtsverfahren, was Menschenrechtsorganisationen als Verstoß gegen das Völkerrecht bezeichnen.

Laut Angaben des Medienbüros in Gaza haben israelische Streitkräfte seit dem Waffenstillstand fast hundert Palästinenser*innen in Gaza getötet. Am vergangenen Sonntag behauptete das israelische Militär, die Hamas habe den Waffenstillstand gebrochen, indem sie zwei israelische Soldaten im südlichen Gaza getötet habe. Die Hamas erklärte, sie habe keine Kenntnis von Zusammenstößen in dem Gebiet, das unter israelischer Kontrolle stand, und bekräftigte ihr Bekenntnis zum Waffenstillstandsabkommen. Doch innerhalb von sieben Stunden wurden bei israelischen Angriffen mehr als vierzig Menschen getötet. Eines der Opfer war der achtjährige Sohn eines Freundes von mir. Der Junge, der bei der Familie seiner Mutter im Lager Al-Bureij wohnte, wurde zusammen mit mehreren seiner Cousins getötet. Als ich meinen Freund anrief, um ihm mein Beileid auszusprechen, sagte er mir, dass der Leichnam seines Sohnes keinen Kopf und keine Beine mehr hatte. Bislang unterscheidet sich die Lage seit dem Waffenstillstand kaum von den beiden Jahren davor. Der Sprecher des israelischen Militärs erklärte, die israelischen Streitkräfte würden „das Waffenstillstandsabkommen weiterhin einhalten und auf jeden Verstoß dagegen entschlossen reagieren“.

Maram und ich haben unsere Familien seit fast zwei Jahren nicht mehr gesehen. Unsere Kinder erinnern sich an Gaza als einen Ort der Angst. Einige ihrer Schulfreund*innen wurden getötet, aber wir haben ihnen das noch nicht gesagt. Wir mussten ihnen erklären, dass ihr Großvater mütterlicherseits, den ich Onkel Jaleel nannte, getötet worden war. Sie vermissen ihre drei überlebenden Großeltern, ihre Tanten und Onkel und ihre Cousins und Cousinen. Aber Mostafa, unser Jüngster, will nicht einmal daran denken, zurückzukehren. Er ist immer noch traumatisiert von den fast zwei Monaten, die wir in Angst vor Luftangriffen verbracht haben.

Trotz alledem, als Maram und ich zum ersten Mal die Nachricht sahen, dass die Bombardierungen aufhören würden, wandte sie sich mir zu und sagte: „Ich werde unsere Familien in Gaza besuchen.“ Sie hatte ein bittersüßes Lächeln auf den Lippen. „Du bleibst bei den Kindern, okay?“

Wir wussten beide, wie unwahrscheinlich das war. Gaza ist mehr als zerstört. Es gibt nicht viel, wohin wir zurückkehren könnten, außer zu unseren Lieben. Der Grenzübergang Rafah ist immer noch nicht wieder geöffnet, nicht einmal für Schwerverletzte, und wenn Palästinenser*innen zu Besuch kommen, riskieren sie, durch Grenzschließungen eingeschlossen zu werden. Und doch wollte Maram dort sein – um in diesen ersten fragilen Momenten der Ruhe mit ihren Familienmitgliedern zusammen zu sein, um unser Überleben zu feiern und um unsere Toten zu trauern.

 

Mosab Abu Toha erhielt für seine Essays über Gaza im New Yorker den Pulitzer-Preis 2025. Zu seinen Büchern gehört der Gedichtband „Forest of Noise“.


ree

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