Essay von Omer Bartov: "Unbegrenzte Erlaubnis"
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- 15. Apr.
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Die Erinnerung an den Holocaust wird – perverserweise – dazu benutzt, um sowohl die Auslöschung des Gazastreifens als auch das außergewöhnliche Schweigen, mit dem dieser Gewalt begegnet wird, zu rechtfertigen.
Von Omer Bartov, The New York Review, 27. März 2025
(Originalbeitrag in englischer Sprache)
Anmerkung: Omer Bartov (geboren 1954 in Israel) ist Historiker und Professor für Holocaust- und Völkermordstudien an der Brown University in den USA und gehört zu den weltweit führenden Holocaust-Forschern. Er gilt außerdem als maßgeblicher Experte für Völkermordstudien und ist Autor zahlreicher Bücher zu dieser Thematik. In seinem Essay „Unbegrenzte Erlaubnis“ für The New York Review betrachtet Bartov den Genozid in Gaza (den er auch dezidiert als solchen bezeichnet) aus unterschiedlichen Perspektiven.
1.
Am 12. Januar 1904 begannen die Herero in Deutsch-Südwestafrika – dem heutigen Namibia – eine Reihe von Angriffen auf verstreute deutsche Farmen in diesem Gebiet. Die Herero, ein Hirtenvolk von etwa 80 000 Menschen, waren für ihr wirtschaftliches, soziales und kulturelles Leben auf ihre riesigen Viehherden angewiesen, doch die deutschen Siedler, die seit dem späten 19. Jahrhundert in das Gebiet kamen, griffen zunehmend in ihr Weideland ein.
Die Aufständischen zerstörten viele der Farmen und töteten mehr als hundert Siedler, wobei sie Frauen und Kinder meist verschonten. Für die Siedler war der Aufstand der endgültige Beweis für die Notwendigkeit, die Herero, die sie als „Paviane“ bezeichneten, auszurotten. Da der deutsche Gouverneur nicht in der Lage war, die Ordnung wiederherzustellen, wandte er sich an Berlin, das etwa 10 000 Soldaten entsandte. Bis August hatten sie die Herero-Kämpfer niedergeschlagen. Im Oktober erließ der deutsche Befehlshaber, Generalleutnant Lothar von Trotha, den so genannten Vernichtungsbefehl für die noch Überlebenden:
„Die Herero sind keine deutschen Untertanen mehr. Sie haben gemordet, gestohlen, den verwundeten Soldaten die Ohren und andere Körperteile abgeschnitten und sind nun zu feige, um weiter zu kämpfen.... Das Volk der Herero muss jetzt das Land verlassen. Wenn sie sich weigern, werde ich sie mit den großen Kanonen dazu zwingen. Jeder Herero, der innerhalb der deutschen Grenze angetroffen wird, mit oder ohne Gewehr oder Vieh, wird hingerichtet werden. Ich werde weder Frauen noch Kinder verschonen.“
Die meisten Herero wurden erschossen oder verdursteten und verhungerten in der Wüste, in die sie vertrieben worden waren. Mehrere Tausend wurden in Zwangsarbeitslager gebracht.
Viele Jahrzehnte lang wurde dieser erste Völkermord des zwanzigsten Jahrhunderts von der Öffentlichkeit und von Historikern gleichermaßen ignoriert. Bei der berühmten deutschen Vergangenheitsbewältigung ging es um den Holocaust, nicht um längst vergessene Kolonialverbrechen. Erst 2021 entschuldigte sich die deutsche Regierung offiziell für „das Leid, die Unmenschlichkeit und die Schmerzen, die Deutschland während des Krieges Zehntausenden von unschuldigen Männern, Frauen und Kindern im heutigen Namibia zugefügt hat“. Sie sagte auch über eine Milliarde Euro an Reparationen zu, obwohl die Verteilung dieses Geldes umstritten bleibt, nicht zuletzt, weil die Deutschen mit der namibischen Regierung und nicht mit den Herero selbst verhandelt haben.
Dieser Völkermord zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts weist einige bemerkenswerte Ähnlichkeiten mit der Kampagne der ethnischen Säuberung und Vernichtung auf, die Israel in Gaza durchführt. Israel sah den Hamas-Angriff vom 7. Oktober 2023 ähnlich wie die Deutschen den Herero-Angriff 119 Jahre zuvor: als Bestätigung dafür, dass die militante Gruppe absolut wild und barbarisch war, dass der Widerstand gegen die israelische Besatzung immer zum Töten tendieren würde und dass die palästinensische Bevölkerung des Gazastreifens als Ganzes aus dem moralischen Universum der Zivilisation entfernt werden sollte. „Menschliche Tiere müssen als solche behandelt werden“, sagte der israelische Generalmajor Ghassan Alian (der Druse ist) kurz nach dem Angriff und schloss sich damit mehreren anderen israelischen Politikern an, darunter dem ehemaligen Verteidigungsminister Yoav Gallant. "Es wird keinen Strom und kein Wasser [in Gaza] geben, es wird nur Zerstörung geben. Ihr wolltet die Hölle, ihr werdet die Hölle bekommen", sagte Alian in einer arabischsprachigen Videobotschaft, die sowohl an die Hamas als auch an die BewohnerInnen von Gaza gerichtet war.
In den folgenden siebzehn Monaten töteten die israelischen Streitkräfte mehr als 50 000 PalästinenserInnen, von denen schätzungsweise über 70 Prozent ZivilistInnen waren, verstümmelten weit über 100 000 und zwangen der übrigen Bevölkerung unmenschliche Entbehrungen, Leiden und Schmerzen auf. Ein am 19. Januar in Kraft getretener Waffenstillstand endete abrupt am 18. März, als Israel sich weigerte, zur zweiten Phase seines Abkommens mit der Hamas überzugehen, und eine Reihe einseitiger Angriffe startete, die bereits Hunderte weiterer palästinensischer ZivilistInnen getötet haben.
Aber aus einer anderen Perspektive sind die Ereignisse von 1904 und 2023 weniger ähnlich. Die Deutschen konnten den Völkermord an den Herero rechtfertigen, weil sie sie als Wilde ansahen, und sie vergaßen ihn, weil er weit weg von Europa an einer Gruppe verübt wurde, die außerhalb Südwestafrikas unbekannt war. Die Israelis begehen in Gaza einen Völkermord, weil sie die PalästinenserInnen als Wilde ansehen, aber sie rechtfertigen ihn als Reaktion auf einen anderen potenziellen Völkermord, der dem Holocaust gleichkäme und von militanten Hamas-Kämpfern verübt würde, die eine weitere Endlösung proben würden. Der ehemalige Premierminister Naftali Bennett war einer von vielen, die darauf bestanden, dass „wir gegen Nazis kämpfen“. Dina Porat, eine Holocaust-Historikerin, schrieb am 21. Oktober 2023 in Haaretz, dass die Hamas „einen brennenden Hass auf einen Teufel kultiviert, den sie in ihrer Fantasie erschaffen hat, wie es die Nazi-Ideologie zu ihrer Zeit tat“. In einer Umfrage, die im Mai 2024 in Israel durchgeführt wurde, sagte mehr als die Hälfte der Befragten, dass der Hamas-Angriff mit dem Holocaust verglichen werden könne.
Der Völkermord an den Herero war Teil jener mörderischen Gewalt, der die europäischen Kolonisatoren indigene Völker auf der ganzen Welt ausgesetzt haben. Wie Aimé Césaire 1950 schrieb, nahmen die weißen Europäer dies erst zur Kenntnis, als Hitler „kolonialistische Verfahren auf Europa anwandte, die bis dahin ausschließlich den kolonisierten Völkern anderswo vorbehalten waren“. Sie hatten „diesen Nazismus toleriert ... entschuldigt, die Augen davor verschlossen, ihn legitimiert“ - bis er unter der Naziherrschaft als choc en retour zu ihnen kam. [Choc en retour oder „imperialer Bumerang“ ist die These, dass Regierungen, die repressive Techniken entwickeln, um koloniale Gebiete zu kontrollieren, dieselben Techniken schließlich auch im eigenen Land gegen ihre eigenen Bürger einsetzen, Anm.]
Es ist eine andere Frage, ob Césaires Schüler Frantz Fanon Recht hatte, als er vorschlug, dass, obwohl „die Juden sicherlich schikaniert ... gejagt, ausgerottet, verbrannt“ wurden, ihr Völkermord dennoch als nichts anderes als „kleine Familienstreitigkeiten“ zusammengefasst werden könnte, ein Fall von Weißen, die Weiße ermorden. Ganz abgesehen von den Millionen von Juden mit nichteuropäischem Hintergrund waren und sind selbst Juden europäischer Abstammung in gewissem Maße nicht so weiß wie andere Weiße, und ihr Weißsein, was auch immer es wert sein mag, ist vielleicht nur schwach und bedingt, wie Rachel Shabi in Off-White feststellt. Selbst wenn viele „europäisch-jüdische Gemeinschaften ... im ganzen Westen in weiße Mehrheiten eingegliedert wurden“, so argumentiert sie, „besteht eine anhaltende Ambivalenz“. Allein die Tatsache, dass sie „zunächst getrennt waren und dann in die definierende Mehrheit aufgesogen wurden“, lässt das jüdische Weißsein „begrenzt und abgeschwächt“ erscheinen.
Sicherlich lag es auch daran, dass der Völkermord an den Juden in Europa stattfand und so viele sichtbare Spuren hinterließ, dass es den Deutschen und anderen Europäern nicht gelang, ihn zu verdrängen und an den Rand zu drängen, wie sie es bei den Herero getan hatten – das heißt, sie versäumten es, einen Schlussstrich zu ziehen und ihn in die Vergangenheit zu verbannen, wie es die Deutschen nennen. Stattdessen wurde der Holocaust zu dem Ereignis, das nie vergessen werden darf und das sich nie wiederholen darf. Die Auseinandersetzung mit dem Holocaust schuf sowohl den Mechanismus zur Bekämpfung anderer Gräueltaten in Form eines humanitären Völkerrechts als auch ein moralisches Beispiel. Jahrzehntelang, so schreibt der Wissenschaftler Enzo Traverso in Gaza Faces History, diente die „Zivilreligion“, die Erinnerung an den Holocaust, „als Vorbild für die Erinnerung an andere Völkermorde und Verbrechen gegen die Menschlichkeit – von der Ausrottung der Armenier über die Militärdiktaturen in Lateinamerika, die Hungersnot des Holodomor in der Ukraine und Bosnien bis hin zum Völkermord an den Tutsi in Ruanda.“
Gleichzeitig aber bot sie aber auch eine Art Freibrief. In Being Jewish After the Destruction of Gaza („Jüdisch sein nach der Zerstörung des Gazastreifens“), einem bewegenden Bericht über seine Wandlung von einem starken Befürworter Israels zu einem entschiedenen Kritiker des Zionismus, weist Peter Beinart darauf hin, dass nach dem Holocaust ein Gefühl „falscher Unschuld“ das „zeitgenössische jüdische Leben durchdrungen hat, das Herrschaft als Selbstverteidigung tarnt“. Denn das Erinnern muss Konsequenzen haben, insbesondere wenn es mit der absoluten Verpflichtung einhergeht, „nie wieder“ einen Holocaust zuzulassen. Und wenn das „Nie wieder“ nicht nur ein Slogan, sondern Teil einer Staatsideologie wird, wenn es zum Prisma wird, das jede Bedrohung, jedes Sicherheitsproblem, jede Infragestellung der Legitimität oder der Rechtschaffenheit des Staates in eine existenzielle Gefahr verwandelt, dann darf man nichts unversucht lassen, um diejenigen zu verteidigen, die bereits der Vernichtung ausgesetzt waren. Es ist eine Weltanschauung, schreibt Beinart, die „den fehlbaren Menschen unbegrenzte Erlaubnis gibt“.
Sobald die militanten Hamas-Kämpfer als moderne Nazis angesehen werden, kann man sich Israel als Racheengel vorstellen, der seine Feinde mit Feuer und Schwert ausrottet. In meiner Kindheit und Jugend in Israel war der Holocaust ein Symbol der Schande und der Verleugnung, ein Ereignis, bei dem die Juden wie Schafe zur Schlachtbank geführt wurden. Im Laufe der Jahre, als ich älter wurde, ist er zu etwas ganz anderem geworden: zu einer Geschichte der Solidarität, des Stolzes und des jüdischen Heldentums. Es ist dieses Gefühl des „Nie wieder“, das es den meisten jüdischen BürgerInnen Israels erlaubt, sich selbst als die moralische Instanz zu sehen, selbst wenn sie, ihre Armee, ihre Söhne und Töchter und ihre Enkel jeden Zentimeter des Gazastreifens pulverisieren. Die Erinnerung an den Holocaust wurde perverserweise herangezogen, um sowohl die Auslöschung des Gazastreifens als auch das außergewöhnliche Schweigen zu rechtfertigen, mit dem dieser Gewalt begegnet wird.
Wenn wir die Getöteten, die Verwundeten, die Tausenden, die unter den Trümmern begraben sind, die Tausenden von „indirekten“ Toten aufgrund der Zerstörung der meisten medizinischen Einrichtungen, die Tausenden von Kindern, die sich nie mehr vollständig von den Langzeitfolgen des Hungers und des Traumas erholen werden, in Betracht ziehen, können wir zweifellos zu dem Schluss kommen, dass Israel das palästinensische Volk im Gazastreifen, von denen die meisten Flüchtlinge aus der Teilung Palästinas im Jahr 1948 oder deren Nachkommen sind, vorsätzlich „Lebensbedingungen ausgesetzt hat, die darauf abzielen, seine physische Zerstörung ganz oder teilweise herbeizuführen“, wie es in Artikel II(c) der UN-Völkermordkonvention von 1948 heißt.
Der Rest der Welt, insbesondere Israels westliche Verbündete und die jüdischen Gemeinden in Europa und den Vereinigten Staaten, werden sich noch viele Jahre lang mit dieser Realität auseinandersetzen müssen. Wie war es möglich, dass der Staat Israel – der als Antwort auf den Völkermord an den Juden gesehen und bezeichnet wird – im 21. Jahrhundert, achtzig Jahre nach dem Ende des Holocaust und der Schaffung eines internationalen Rechtssystems, das verhindern sollte, dass sich solche Verbrechen jemals wiederholen – nahezu ungestraft einen Völkermord an den PalästinenserInnen durchführen konnte? Wie können wir der Tatsache ins Auge sehen, dass Israel sich auf den Holocaust berufen hat, um jene Rechtsordnung, die geschaffen wurde, um eine Wiederholung dieses „Verbrechens der Verbrechen“ zu verhindern, zu zerschlagen?
2.
Der Völkermord im Gazastreifen ist der Hintergrund, aber nicht unbedingt der Schwerpunkt einer Reihe von Debatten, die bereits vor dem 7. Oktober begannen und sich seither stark intensiviert haben. Einige dieser Debatten konzentrieren sich auf einen Völkermord, der nicht stattgefunden hat, und nicht auf den, der sich gerade vor unseren Augen abspielt. Der innerjüdische Streit um den Gazastreifen hat Gemeinden, Familien und Freundschaften zerrissen. Nach dem Angriff der Hamas haben viele Jüdinnen und Juden – nicht nur in Israel, sondern auch in der Diaspora – das Gefühl, dass sie von einem Völkermord bedroht sind, und empfinden es als schlimmsten Verrat, wenn jemand – schon gar nicht einer ihrer Glaubensbrüder oder -schwestern – sagt, dass nicht die PalästinenserInnen, sondern Israel den Völkermord verübt. Um die Vehemenz, die Wut und das Gefühl der Verwundbarkeit zu verstehen, die diese Auseinandersetzungen hervorrufen, muss man sich mit der gesamten israelischen und palästinensischen Geschichte auseinandersetzen – eine Herausforderung, der sich eine Reihe neuerer Bücher auf unterschiedliche Weise zu stellen versucht haben.
In The World After Gaza (Die Welt nach Gaza) beginnt Pankaj Mishra bereits im neunzehnten Jahrhundert. Er stellt die Atmosphäre des Verrats und der Dringlichkeit fest, die den Zionismus in den Jahrzehnten vor der Gründung Israels kennzeichnete, und beschwört auf einfühlsame Weise die Qualen des geistig entwurzelten Menschen herauf, der, so der frühe Zionist Max Nordau, „seine Heimat im Ghetto verloren hat und ... in seinem Heimatland keine Heimat mehr findet“ [und] nur unter seinesgleichen geheilt werden konnte.
Wir täten gut daran, „den Zustand der Machtlosigkeit und Marginalität zu untersuchen, den der Zionismus ursprünglich beheben wollte“, schreibt Mishra. Er weist darauf hin, dass „dieser Zustand in der Geschichte Asiens und Afrikas häufiger anzutreffen ist als in der Geschichte Europas und Nordamerikas und immer noch schmerzlich ungelöst ist“. Er identifiziert zwei widersprüchliche Vektoren im Zionismus: den Drang nach Emanzipation, Befreiung und Würde und einen Impuls zum Ethnonationalismus, der seinen Ausdruck in einem kolonialen Siedlerprojekt fand. Wie „die Hindus und Muslime Südasiens“, so argumentiert Mishra, hätten „die Juden und Araber Palästinas“ zu einem bestimmten Zeitpunkt verschiedene „Optionen der Selbstbestimmung“ zur Verfügung gehabt, nur um sie durch „all die Katastrophen“ der 1940er Jahre ausgeschlossen zu sehen: „Der Zweite Weltkrieg, der Holocaust, die staatenlosen und allgemein unerwünschten jüdischen Flüchtlinge, die Erschöpfung des britischen Empire und der aufkommende Kalte Krieg“.
Diese katastrophalen Umstände schufen die Voraussetzungen für den Teilungsplan der Vereinten Nationen, den Krieg von 1948, die Gründung Israels und die Nakba – die Vertreibung der großen Mehrheit der palästinensischen Bevölkerung, etwa 750.000 Menschen, aus dem späteren jüdischen Staat. Um sein historisches und moralisches Existenzrecht zu bekräftigen, gab der neue Staat am 14. Mai 1948 ein bemerkenswertes Dokument heraus, seine „Unabhängigkeitserklärung“, die allen BürgerInnen, einschließlich der so genannten „arabischen EinwohnerInnen“, gleiche Rechte und Würde zusicherte. Wäre eine Verfassung im Geiste dieser Erklärung entstanden, hätte sie einen Staat schaffen können, der auf liberalen und demokratischen Prinzipien beruht.
Das ist natürlich nie geschehen. Es wurde nie eine Verfassung vereinbart, und der rechtliche Status der Unabhängigkeitserklärung ist bestenfalls umstritten. Noch während verschiedene Versionen fieberhaft ausgearbeitet und dann von Israels erstem Führer David Ben-Gurion fertiggestellt wurden, waren jüdische Milizen und später die israelische Armee damit beschäftigt, die palästinensische Mehrheit des Landes durch Einschüchterung und gewaltsame Vertreibung in eine Minderheit zu verwandeln.
Stattdessen wurde der Zionismus zur Leitideologie Israels, und zwar unter der ambivalenten Definition, die die Unabhängigkeitserklärung liefert. Israel, so hieß es in der Erklärung, werde „ein jüdischer Staat“ sein, der jedoch „allen seinen EinwohnerInnen ohne Unterschied der Religion, der Ethnie oder des Geschlechts die völlige Gleichheit der sozialen und politischen Rechte gewährleisten“ werde – ein Versprechen, das, was die palästinensischen BürgerInnen betraf, zumeist nicht eingehalten wurde. Bezeichnenderweise kam das Wort „Demokratie“ in der Erklärung nicht vor. Erst 1992 verabschiedete die Knesset ein Grundgesetz, das Israel als jüdischen und demokratischen Staat definierte, als Teil eines schrittweisen, unvollendeten und verzweifelten Versuchs einiger israelischer Gesetzgeber und des Obersten Gerichtshofs Israels, eine Reihe von Verfassungsgesetzen anstelle einer Verfassung zu schaffen – ein Prozess, der durch das Grundgesetz von 2018, das festlegt, dass „das Recht auf nationale Selbstbestimmung im Staat Israel nur dem jüdischen Volk zusteht“, wohl wieder rückgängig gemacht wurde.
Was war dann der Unterschied zwischen der Schaffung eines Staates für die Juden und der Schaffung eines jüdischen Staates? In seiner provokativen Studie To Be a Jewish State argumentiert Yaacov Yadgar, dass es sich in gewisser Hinsicht um „zwei unterschiedliche, umstrittene und sogar widersprüchliche politische Projekte“ handelt. Ein jüdischer Staat ist ein Staat, dessen Charakter durch das Judentum definiert ist, während ein Staat für die Juden einfach ein Staat mit einer mehrheitlich jüdischen Bevölkerung ist, der eher ethnisch als durch seine Beziehung zur jüdischen Religion definiert ist. Der Staat, den sich der Begründer des politischen Zionismus, Theodor Herzl, vorstellte, wäre liberal und könnte säkular sein. Ein jüdischer Staat hingegen würde sich zur jüdischen Religion als dem eigentlichen Kern seiner Identität bekennen.
Die Widersprüche zwischen diesen beiden Auffassungen vom Staat wurden, wie Yadgar zeigt, in einem berühmten Urteil des israelischen Obersten Gerichtshofs Aharon Barak über die Verfassungswidrigkeit der Zuweisung von staatlichem Land für Siedlungen nur an Juden eklatant deutlich. In dem Urteil hieß es: „Die Rückkehr des jüdischen Volkes in seine Heimat leitet sich aus den Werten des Staates Israel als jüdischer und demokratischer Staat ab“ - Werte, die „die Gleichheit zwischen Religionen und Nationalitäten fordern“. Wie lässt sich ein solches Urteil mit der Tatsache vereinbaren, dass das israelische Rückkehrgesetz, wie es vom Obersten Gerichtshof ausgearbeitet wurde, die Vergabe der Staatsbürgerschaft an Juden gegenüber allen anderen Religionen und Nationalitäten privilegiert, oder mit der Tatsache, dass dasselbe Gericht das Siedlungsprojekt im Westjordanland genehmigt hat?
Es fällt schwer, nicht zu dem Schluss zu kommen, dass die liberale, säkulare Definition des Zionismus ebenso ausgrenzend ist wie die religiöse und dass seine Bekenntnisse zu Gleichheit und Demokratie für alle wiederholt durch seine Konzentration auf die Bevorzugung einer Ethnie gegenüber einer anderen negiert wurden. Zwischen dem Erwachsenwerden der ersten Generation von gebürtigen Israelis, zu der ich gehöre, und der heutigen Generation ist der Staat zunehmend jüdisch geworden, da die Religion einen größeren Platz in Gesellschaft, Kultur und Politik eingenommen hat. Aber er ist auch zunehmend davon besessen, der Staat der Juden – und nur der Juden – zu sein, wie das Nationalstaatsgesetz von 2018 deutlich macht. Das Ergebnis ist die stetige Erosion demokratischer Werte im öffentlichen Leben, selbst unter der jüdischen Bevölkerung – ganz zu schweigen von den palästinensischen BürgerInnen Israels.
Bei aller Klugheit hat To Be a Jewish State sehr wenig über die PalästinenserInnen zu sagen, die etwa ein Fünftel der israelischen BürgerInnen ausmachen; weitere fünf Millionen leben unter israelischer Besatzung im Westjordanland und im Gazastreifen. Und doch ist es unmöglich zu verstehen, was es für Israel bedeutet, ein jüdischer Staat zu sein, ohne zu berücksichtigen, dass eine gleiche Anzahl von Juden und Palästinensern auf dem Gebiet des „historischen Palästina“ lebt. Mittlerweile ist der Begriff „israelisch-palästinensischer Konflikt“ eine falsche Bezeichnung für die Beziehung zwischen den beiden Ländern. Wie der altgediente palästinensische Menschenrechtsanwalt Raja Shehadeh in What Does Israel Fear from Palestine? zeigt, war Israel nach dem Sturz der kommunistischen Diktaturen 1989, der Abschaffung des Apartheidregimes in Südafrika 1994 und der Ermordung von Premierminister Yitzhak Rabin 1995, der eine Form des Kompromisses mit den PalästinenserInnen anstrebte – wie unvollkommen auch immer – und die Siedlerbewegung verabscheute, die seither die Politik des Landes beherrscht, immer weniger bereit, territoriale Zugeständnisse zu machen.
Die Konferenz von Madrid im Jahr 1991, auf der versucht wurde, den Friedensprozess wiederzubeleben, bot einen „Hoffnungsschimmer“, schreibt Shehadeh. Doch das darauf folgende Osloer Abkommen „erwies sich als bittere Enttäuschung“, da es lediglich „die Besatzung neu verpackte“ und „den Großteil des Landes unter israelischer De-facto-Hoheit beließ“. Wenn man Shehadehs Buch gegen Yadgars Buch liest, fragt man sich, ob ein jüdischer Staat, der sich vom Fluss bis zum Meer erstreckt, nicht zwangsläufig ein Apartheidstaat sein muss, wenn er das Versprechen seiner eigenen Unabhängigkeitserklärung nicht erfüllt.
In seinem demnächst in hebräischer Sprache erscheinenden Buch תיבמ שוביכ (Occupied from Within, Besetzt von innen) legt der Bürgerrechtsanwalt Michael Sfard – Enkel des renommierten polnisch-jüdischen Soziologen Zygmunt Bauman, Autor von Modernity and the Holocaust (1989) – ausführlich dar, wie er nach langem Nachdenken zu der Überzeugung gelangt ist, dass die israelische Besatzung tatsächlich ein Apartheidregime ist. Wie er betont, ist Apartheid nach internationalem Recht ein Herrschaftssystem und ein Verbrechen. Historisch gesehen ist sie mit dem rassistischen Regime in Südafrika verwandt, aber als Rechtsbegriff beruht sie nicht unbedingt auf einer eindeutig artikulierten Rassenideologie.
Stattdessen definiert das Römische Statut von 1998, mit dem der Internationale Strafgerichtshof eingerichtet wurde, das „Verbrechen der Apartheid“ als „unmenschliche Handlungen, die im Rahmen eines institutionalisierten Regimes der systematischen Unterdrückung und Vorherrschaft einer rassischen Gruppe über eine andere rassische Gruppe begangen werden, und zwar in der Absicht, dieses Regime aufrechtzuerhalten.“
(Sfard erklärt, dass das Völkerrecht den Begriff „Rasse“ anhand soziopolitischer und nicht biologischer Kategorien definiert: Er umfasst nicht nur Ethnie und Hautfarbe, sondern auch nationale und ethnische Herkunft.) In der Regel werden solche Regime durch systematische Diskriminierung bei Rechten und Ressourcen aufrechterhalten. Um ein System als Apartheid zu bezeichnen, muss man nachweisen, dass die fraglichen „unmenschlichen Handlungen“ nicht vorübergehend sind, sondern darauf abzielen, die Kontrolle und Unterdrückung der unterlegenen Gruppe aufrechtzuerhalten, ja sie sogar dauerhaft zu machen. „Man muss das Licht ausschalten, sich die Ohren zuhalten und alle Jalousien herunterlassen“, schreibt Sfard, „um die Schlussfolgerung zu verneinen, dass die israelische Herrschaft in den besetzten Gebieten“ dieser Definition entspricht. Nachdem er eine Reihe von Menschenrechtsfällen vor dem Obersten Gerichtshof Israels verhandelt hat, kommt Sfard zu dem Schluss, dass eben diese Institution im Laufe der Jahrzehnte maßgeblich zur Umsetzung der Apartheid beigetragen hat, nicht nur, indem sie sich konsequent einer Antwort auf die Frage nach der Rechtmäßigkeit der Siedlungen nach internationalem Recht entzogen hat, „sondern auch, indem sie den SiedlerInnen erlaubte, weiterhin Land von der palästinensischen Bevölkerung zu beschlagnahmen und indem sie die eklatant illegale Umleitung der Ressourcen des besetzten Gebiets für die SiedlerInnen“ billigte. Das Gericht, schreibt er, „das eine Politik der gezielten Ermordung von (palästinensischen) Terrorverdächtigen sanktioniert; eine weit verbreitete Praxis der Ausweisung von (palästinensischen) Regimegegnern, die gegen die Besatzung kämpfen, in den Libanon und nach Jordanien bestätigt; die Beschlagnahmung von Land (von palästinensischen Gemeinden) in großem Umfang für den Bau von Siedlungen erlaubt; Hunderte von Fällen kollektiver, barbarischer, buchstäblich mittelalterlicher Bestrafung der Familien von (palästinensischen) Terrorverdächtigen durch den Abriss ihrer Häuser bestätigt... es bestätigte Tausende von Verhaftungen ohne Gerichtsverfahren (von PalästinenserInnen); es legte fest, dass Durchsuchungen (in palästinensischen Häusern) und Verhaftungen von (palästinensischen) Verdächtigen auf Beschluss eines Armeekommandanten ohne Gerichtsbeschluss legal sind; es ermöglichte die Aufrechterhaltung einer administrativen Verhinderung von Auslandsreisen für Hunderttausende (von PalästinenserInnen); es sanktionierte und erleichterte die grausame Belagerung der Bevölkerung von Gaza (ja, ja, alle PalästinenserInnen) über fast zwei Jahrzehnte; und es überwachte den Betrieb eines separaten Rechtssystems für Israelis, die in der Westbank leben.“
Margaret Olin, eine Religionswissenschaftlerin und erfolgreiche Fotografin, und David Shulman, ein angesehener Indologe und häufiger Mitarbeiter der New York Review, engagieren sich seit Jahren an der Basis für den Schutz palästinensischer Hirten und Bauern vor jüdischen Siedlern und der israelischen Armee, insbesondere in den südlichen Hebron-Hills. In The Bitter Landscapes of Palestine (Die herbe Landschaft Palästinas) geben sie einen Einblick in die Geschehnisse vor Ort.
Die Fotografien des Buches zeigen die Schönheit der Landschaft, die Realität des Lebens der PalästinenserInnen in der Region – die organisch mit ihr verbunden zu sein scheinen – und die gefühllose, brutale Störung dieses Lebens durch die israelischen SiedlerInnen und Soldaten, die sie auslöschen wollen.
Die palästinensischen Hirten erinnern an imaginäre Szenen der biblischen Israeliten. Die Siedler sehen aus wie eine Mischung aus Hooligans und religiösen Eiferern, die in einem göttlich sanktionierten Ritus die Menschen in diesem Land steinigen und schlagen. Die Soldaten sehen oft gelangweilt aus und scrollen gleichgültig auf ihren Smartphones, aber sie sind in Kampfmontur gekleidet, um zwischen den Schafen und den Ruinen der Hirtenhütten zu töten.
Die Wirklichkeit eines solchen Systems kann ausländischen BesucherInnen, die nicht durch Vorwissen oder Voreingenommenheit belastet sind, mit großer Eindringlichkeit bewusst werden. Das American Jewish Committee hat den amerikanischen Essayisten Ta-Nehisi Coates angegriffen, weil er die palästinensischen Erfahrungen unter der Besatzung mit Jim Crow verglichen hat, mit der Begründung, er sei mit den komplexen Verhältnissen in der Region nicht ausreichend vertraut. Als Coates im Mai 2023 das Westjordanland besuchte, brauchte er jedoch nicht lange, um zu begreifen, dass die eine Bevölkerung dort unter demokratischen Gesetzen und die andere unter willkürlicher Militärherrschaft lebt. Bei der Beschreibung eines Besuchs in Hebron fiel ihm auf, wie „israelische Soldaten die totale Kontrolle über alle Bewegungen in der Stadt ausübten ... indem sie nach Lust und Laune anhielten und verhörten.“ An einer Stelle schreibt er in The Message: „Ich ging hinaus, um bei einem Ladenbesitzer einige Waren zu kaufen. Doch bevor ich dort ankam, kam ein Soldat von einem Kontrollpunkt, versperrte mir den Weg und forderte mich auf, meine Religion anzugeben. Er sah mich skeptisch an, als ich ihm sagte, dass ich keine habe, und fragte mich nach der Religion meiner Eltern. Als ich ihm sagte, sie seien auch nicht religiös, verdrehte er die Augen und fragte nach meinen Großeltern. Als ich ihm sagte, sie seien Christen, ließ er mich passieren.“
Dieser Soldat, so stellt er fest, war schwarz. „In der Tat“, betont er, „gab es überall viele ‚schwarze‘ Soldaten, die ihre Macht über die PalästinenserInnen ausübten, von denen viele in Amerika als ‚weiß‘ angesehen worden wären.“ Das erinnert ihn „an etwas, was ich schon lange weiß, worüber ich geschrieben und gesprochen habe, aber dennoch war ich fassungslos, als ich es hier so deutlich sah: dass Ethnie eine Art von Macht ist und nichts anderes.... Ich wusste hier, in diesem Moment, wie ich in der Hierarchie der Macht gefallen wäre, wenn ich diesem schwarzen Soldaten gesagt hätte, dass ich ein Muslim bin. Und auf dieser Straße, so weit weg von zu Hause, hatte ich plötzlich das Gefühl, dass ich sowohl durch die Zeit als auch durch den Raum gereist war.“
Im Sommer 2015 nahm ich mit meiner zwanzigjährigen Tochter, die in den Vereinigten Staaten aufgewachsen ist, an einer Reise nach Hebron teil, die von der Nichtregierungsorganisation Breaking the Silence organisiert wurde, einer Organisation ehemaliger israelischer SoldatInnen, die entschlossen sind, die Übel der Besatzung aufzudecken, die sie zuvor durchgesetzt haben. Abgesehen von einem einzigen Treffen mit jüdischen und palästinensischen AktivistInnen ein paar Jahre zuvor war ich seit meinem Armeedienst in den 1970er Jahren nicht mehr in den besetzten Gebieten gewesen.
In Hebron sahen wir, wie das Militär das einst blühende Zentrum der Stadt von der palästinensischen Bevölkerung geräumt und für die jüdischen SiedlerInnen, die die Stadt übernommen hatten, gesperrt hatte. Wir sahen auch die Verachtung, mit der die Truppen die einheimischen AraberInnen – die wahren EigentümerInnen des Ortes – behandelten, und das arrogante Verhalten der SiedlerInnen, die von schwer bewaffneten Soldaten geschützt wurden. In einem Park, der nach Meir Kahane, dem rassistischen Rabbiner und Gründer der faschistischen Kach-Partei, benannt ist, sahen wir einen Schrein, der für Baruch Goldstein errichtet worden war, einem Arzt, der im Februar 1994 in der Höhle der Patriarchen, die auch als Moschee dient, neunundzwanzig Gläubige massakrierte und mehr als hundert weitere verletzte – ein Ereignis, das die Selbstmordattentatskampagne der Hamas in jenem April auslöste. Die Inschrift auf Goldsteins Grab schwärmt, dass dieser Massenmörder – der von Israels kürzlich wiedereingesetztem Minister für nationale Sicherheit, Itamar Ben-Gvir, verehrt wird – „seine Seele für das jüdische Volk, seine Tora und sein Land gegeben hat, ‚mit reinen Händen und reinem Herzen‘.“
Für meine Tochter, die in den USA ein ganz anderes Bild von Israel verinnerlicht hatte, war die schiere Grausamkeit und Herzlosigkeit der Besatzung schlichtweg schockierend. Ein Staat, der dies nur wenige Kilometer von der angeblich „einzigen Demokratie im Nahen Osten“ zuließ, so waren wir uns einig, hatte seinen moralischen Kompass verloren; eine jüdische Bevölkerung, die diese Abscheulichkeit gleich hinter der „Trennungsmauer“ zuließ, hatte ihr Gewissen verloren. Das war acht Jahre vor dem 7. Oktober.
Es gibt eine Fülle von Informationen darüber, was seit diesem Tag in Gaza passiert ist, obwohl die Berichterstattung vor Ort schwierig und gefährlich ist. Wenn Sie einen detaillierten, tagesaktuellen Bericht darüber wünschen, wie die Bombenangriffe der israelischen Armee und der anschließende Einmarsch in den Gazastreifen von der lokalen Bevölkerung erlebt wurde, ist Atef Abu Saifs Don't Look Left eine unverzichtbare Lektüre. Selbst in jenen seltenen Berichten der amerikanischen Mainstream-Medien, in denen mit – relativer – Sympathie über die PalästinenserInnen in Gaza berichtet wird, werden Namen und persönliche Geschichten nur selten erwähnt - das genaue Gegenteil von Berichten über die Opfer des Hamas-Massakers und ihre Familien. Abu Saif füllt diese Lücke, indem er die willkürliche, grausame Zerstörung aufzeichnet, die die israelische Armee an Mitgliedern seiner Familie und seinen engsten Freunden anrichtete.
Abu Saif ist ein Minister der Palästinensischen Autonomiebehörde, der gerade mit seinem Sohn im Teenageralter das Viertel seiner Kindheit, Jabalia, besuchte, als der Krieg ausbrach. Er schreibt keine politische Geschichte aus der Ferne, sondern beschreibt das tägliche Leben und den häufigen Tod ganz normaler Menschen – wie sie sprechen, was sie essen, wovon sie träumen, und wie ihr Leben, das nie komfortabel oder besonders hoffnungsvoll war, durch Bomben aus der Luft, Kriegsschiffbeschuss, Artilleriegranaten, Panzer und Drohnen zerstört wird. Er erzählt uns zum Beispiel von Wissam, seiner dreiundzwanzigjährigen Nichte, die bei einem Bombenangriff am 16. Oktober, bei dem der größte Teil ihrer Familie ums Leben kam, beide Beine und eine Hand verlor; nach zwei Monaten wurden sie und ihre Schwester Widdad schließlich in ein Krankenhaus in Ägypten evakuiert.
Abu Saif und sein Sohn verließen den Gazastreifen Ende Dezember 2023. Im darauffolgenden Jahr ging das Gemetzel im gesamten Gazastreifen weiter. Im Oktober 2024 schrieb der Chirurg Feroze Sidhwa, der im März und April zwei Wochen lang im Gazastreifen arbeitete, in der New York Times, dass er und dreiundvierzig seiner Kollegen gesehen haben, wie mehreren Kindern im Teenageralter in den Kopf oder in die Brust geschossen wurde. Die israelischen Streitkräfte haben JournalistInnen und MedienmitarbeiterInnen im Gazastreifen ins Visier genommen – bis März dieses Jahres wurden 162 Personen getötet – sowie medizinisches Personal. Das UN-Büro für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten berichtete, dass Anfang Dezember 2024 nur noch siebzehn der sechsunddreißig Krankenhäuser im Gazastreifen – und das auch nur teilweise – funktionsfähig waren. Nach Angaben von Ärzte ohne Grenzen (Médecins Sans Frontières, MSF) waren bis dahin mehr als tausend MitarbeiterInnen des Gesundheitswesens getötet worden. Anfang Januar zählte die WHO knapp dreihundert inhaftierte Mitarbeiter des Gesundheitswesens. Bei israelischen Angriffen wurden seit Beginn des Krieges insgesamt neun MSF-Mitarbeiter getötet. Am 21. März wurde berichtet, dass die israelische Armee das türkische Krankenhaus in der Nähe des Netzarim-Korridors, der den nördlichen Gazastreifen vom übrigen Gazastreifen trennt, bombardiert hat.
Wie das Büro des UN-Hochkommissars für Menschenrechte im September 2024 berichtete, ist bekannt, dass mehrere Ärzte in israelischer Gefangenschaft gestorben sind. CNN berichtete, dass der Leiter von al-Shifa, dem größten Krankenhaus in Gaza, aussagte, dass er während seiner siebenmonatigen israelischen Haft wiederholt gefoltert wurde. (Er wurde schließlich ohne Anklage freigelassen.) Im Dezember 2024 nahm die israelische Armee den Direktor des Kamal-Adwan-Krankenhauses in Gaza, Hussam Abu Safia, fest und brachten ihn in das berüchtigte Militärlager Sde Teiman, wo er nach Angaben seines Anwalts gegenüber Al Jazeera verschiedenen Formen von Folter und unmenschlicher Behandlung ausgesetzt war. Er ist immer noch nicht aus israelischer Haft entlassen worden.
Der nördliche Gazastreifen, einschließlich Jabalia, wurde mit Sprengstoff aus US-amerikanischer Produktion in ein Trümmerfeld verwandelt, viele davon waren „Zweitausender-Bomben“, die so ausgelegt sind, dass sie großen und wahllosen Schaden anrichten. Ein israelischer Filmemacher, der Reservisten interviewte, die aus dem Gazastreifen zurückkehrten, erzählte mir, dass die Verwüstung, die sie sahen, sie an Fotos von Hiroshima erinnerte. (Er muss noch israelische oder europäische Finanzmittel finden, um den Film fertig zu stellen.) Zwischen Oktober 2024 und Januar 2025 folgten die Angriffe im nördlichen Gazastreifen dem so genannten Plan der Generäle, wonach das obere Drittel des Streifens durch eine Kombination aus Militäraktionen und Aushungerung von seiner Bevölkerung gesäubert werden sollte. Es wurde berichtet, dass das Gebiet um den Netzarim-Korridor zu einer „Tötungszone“ geworden war, in der die israelische Truppen jeden erschossen, den sie sahen. Viele Zeugenaussagen aus Gaza beschreiben herumstreunende Hunde, die sich von nicht bestatteten Leichen ernähren. Als der ehemalige Stabschef der israelischen Armee und Verteidigungsminister Moshe „Bogie“ Ya'alon diese Operation als ethnische Säuberung bezeichnete, wurde er von der Rechten, aber auch von der Opposition angegriffen, deren Führer ihn anprangerten, weil er andeutete, dass die israelische Armee nicht mehr als „die moralischste Armee der Welt“ bezeichnet werden könne.
Aber „ethnische Säuberung“ ist nicht unbedingt der zutreffende Ausdruck für die Aktionen der israelischen Armee. Die Bevölkerung von Gaza hat nicht nur keine Nahrung, kein Wasser, keine medizinische Versorgung und keine sanitären Einrichtungen, sondern wird auch ständig angegriffen: Menschen, die aus einem Gebiet vertrieben werden, landen in einem anderen, wo sie erneut angegriffen oder vertrieben werden. Seit dem Einmarsch der israelischen Armee in Rafah im Mai 2024 und der erneuten Vertreibung von etwa einer Million PalästinenserInnen in den südlichen Gazastreifen, wo Hunderttausende noch immer in riesigen Zeltstädten ohne jegliche vernünftige Infrastruktur leben, ist es unmöglich, die israelische Vorgehensweise als etwas anderes als Völkermord zu bezeichnen. Die wiederholten Vertreibungen, die unaufhörlichen Angriffe auf die als Sicherheitszonen ausgewiesenen Gebiete und die systematische Zerstörung von Wohnungen, Infrastruktur, Krankenhäusern, Universitäten, Schulen, Gebetsstätten, Museen und anderen Stätten des kollektiven Gedächtnisses und der Identität – all dies deutet auf die bereits in den ersten Tagen der Kampagne geäußerte Absicht hin, die physische und kulturelle Existenz der PalästinenserInnen im Gazastreifen vollständig zu vernichten und das Gebiet unbewohnbar zu machen. Seit der Wiederaufnahme der israelischen Militäraktivitäten sind Berichte aufgetaucht, wonach Israel möglicherweise plant, den gesamten Gazastreifen zu übernehmen und ihn einer Militärregierung zu unterstellen, möglicherweise mit Unterstützung der Trump-Administration, in der Hoffnung, die Bevölkerung zum Verlassen des Gebiets zu zwingen.
An einem Nachmittag Anfang Dezember 2024 saß ich mit einem jahrzehntelangen Freund in einem beliebten Café gegenüber dem Habima-Theater in Tel Aviv. Ich schaute mich in dem belebten Café um und fragte: „Wie sieht eine Gesellschaft aus, die einen Völkermord begeht?“ „So“, waren wir uns einig. Einige der jüngeren Männer und Frauen, die an ihrem Espresso nippen, sind vielleicht gerade von einem Einsatz im Gazastreifen oder Libanon zurückgekehrt. Einige haben vielleicht am 7. Oktober oder bei den anschließenden Kämpfen Freunde oder Angehörige verloren. Sie alle hatten die Luftschutzsirenen mitten am Tag oder im Schlaf gehört. Oberflächlich betrachtet sah jedoch alles entsetzlich normal aus, obwohl Gaza nur fünfundvierzig Meilen südlich lag.
Ich war nach Israel gekommen, um meine neuen Zwillingsenkel zu besuchen, die elf Monate zuvor geboren worden waren. Aber ich wollte auch Freunde und Bekannte treffen, um zu sehen, wie sich die Stimmung seit meinem letzten Besuch im Juni verändert hatte. Damals hatte mich die fast völlige Unfähigkeit der jüdischen Israelis – nicht zuletzt der liberalen oder linken Menschen, die ich seit langem kenne – bestürzt, die Gräueltaten der israelischen Armee in Gaza auch nur anzuerkennen. Jetzt nahm ich eine gewisse Veränderung wahr. Mehr Menschen schienen sich der außerordentlichen Verwüstung bewusst zu sein, die dort angerichtet wurde, weniger durch die Fernsehnachrichten als durch Zeitungsartikel und Videos in den sozialen Medien, die von Reservisten der Armee gepostet wurden. Die Israelis, mit denen ich sprach, hatten wenig Lust auf Rache oder mehr Gewalt. Aber sie zeigten auch nicht viel Empathie. Stattdessen herrschte eine Art Resignation, Gleichgültigkeit und Verzweiflung.
Regelmäßige Demonstrationen forderten immer noch ein Geiselabkommen, und einige stellten sich auch gegen die Regierung oder befürworteten einen Waffenstillstand. Aber ihre Zahl war geschrumpft, und die Hoffnung auf Veränderung war weitgehend verschwunden. Im Mittelpunkt der Proteste stand ohnehin nie der Tod von PalästinenserInnen. Im Dezember befürwortete weniger als die Hälfte der israelischen Juden eine Beendigung des Krieges, während sich nach dem Waffenstillstand eine Mehrheit für eine Beendigung des Krieges im Austausch gegen die vollständige Freilassung der Geiseln aussprach. Während dieser ganzen Zeit haben sich mehr Menschen gegen Netanjahu ausgesprochen, als dass sie einen territorialen Kompromiss mit den PalästinenserInnen unterstützen würden; mehr Menschen beklagen die militärischen Verluste Israels, als dass sie der Vernichtung von Gaza Aufmerksamkeit schenken. Während dieses zweiten Besuchs rügten mich einige Freunde sanft, weil ich zu unverblümt und öffentlich über den Völkermord gesprochen hatte, und insbesondere, weil ich in einem englischsprachigen Artikel enthüllt hatte, dass ein alter Freund von mir den israelischen Medien gesagt hatte, dass für das Schicksal der Kinder in Gaza „kein Platz in [seinem] Herzen“ sei. Die arabischen Gemeinden in Israel waren ängstlich und schweigsam, sie waren unkontrollierter Bandengewalt und polizeilicher Einschüchterung ausgesetzt. Aber in Tel Aviv wimmelte es von Restaurants und Cafés, die neue Stadtbahn war sauber und effizient, und die Strandpromenade war voller Spaziergänger und Jogger. Es waren auch deutlich mehr Bettler auf den Straßen zu sehen.
Es gibt Stimmen der Opposition in Israel, jetzt mehr als unmittelbar nach dem 7. Oktober, aber die meisten von ihnen fühlen sich unter Druck gesetzt und sind zahlenmäßig weit unterlegen. Auf Initiative des Historikers Amos Goldberg traf ich mich mit einer Gruppe jüdischer und palästinensischer AkademikerInnen der Hebrew University, die mir mitteilten, dass sie versuchen, ihre KollegInnen nicht nur gegen den Krieg und die Regierung zu mobilisieren, sondern auch gegen eine Universitätsverwaltung, die versucht, die Opposition zu unterdrücken, und die eines ihrer wenigen palästinensischen Fakultätsmitglieder, Professorin Nadera Shalhoub-Kevorkian, offen diskriminiert hat. Es war eine kleine Gruppe. Man versicherte mir, dass sie eine größere Zahl vertrat, aber ein paar von ihnen deuteten an, dass nicht alle Oppositionellen an der Universität die gleichen Ziele verfolgten. Einigen ging es um die Unterdrückung der palästinensischen Stimmen und die israelische Gewalt im Gazastreifen und im Westjordanland, anderen um die akademische Unabhängigkeit und die Redefreiheit für Juden.
Bei einem Besuch in der berühmten Kunstgalerie von Said Abu Shakra in Umm al-Fahm, einer palästinensischen Stadt innerhalb Israels, war ich sehr bewegt von einem Treffen mit jungen jüdischen und palästinensischen KünstlerInnen, die dort gemeinsam arbeiten. Abu Shakra vertrat leidenschaftlich die Ansicht, dass wir auch in dieser schwierigen Zeit Kunst und Geschwisterlichkeit pflegen müssen. Aber er räumte ein, dass sich die Zeiten geändert haben. Die jungen KünstlerInnen waren vorsichtig, wenn sie mit mir sprachen, und fühlten sich offensichtlich vulnerabel. Im Haus des Schauspielers und Theaterregisseurs Sinai Peter in Haifa traf ich mich mit mehreren jüdischen und palästinensischen FreundInnen, die über Demonstrationen und andere Formen des Widerstands sprachen. Ein palästinensischer Chirurg berichtete, er habe darum gebeten, bei einer Protestveranstaltung über das anhaltende Gemetzel in Gaza sprechen zu dürfen. Nachdem er zunächst auf den Widerstand der Organisatoren gestoßen war, wurde ihm schließlich gestattet, eine Rede zu halten, nicht zuletzt, weil er als sanftmütiger und vernünftiger Mann bekannt ist. Er bemerkte, dass einige Leute die kleine Kundgebung verließen, als er begann, über das palästinensische Leid zu sprechen.
Von den Menschen, die ich traf, hörte ich auch haarsträubende Geschichten. Ein Armeepilot verglich seinen Job mit dem eines LKW-Fahrers, der ein besonders teures Gerät transportiert. Er hebt ab und feuert eine Rakete ab, die weit von dem ihm vorgegebenen Ziel entfernt ist; vielleicht wird er am nächsten Tag in den Nachrichten erfahren, was er getroffen hat. Ich hörte von einer Drohnenpilotin, die das Land abrupt verließ, als ihr klar wurde, wie viele Menschen sie getötet hatte. Ich hörte von einer linksgerichteten Mutter, die ihrem Sohn, der gerade aus dem Gazastreifen kam und schockiert war von dem, was er gesehen hatte, sagte, sie wolle nichts davon hören. Mir wurde von einem jungen Offizier erzählt, der bei der Durchsuchung eines leerstehenden Gebäudes in Gaza auf einen palästinensischen Teenager stieß, der geblieben war, um seiner Großmutter zu helfen. Die Soldaten fanden sie im Keller versteckt und erschossen sie auf der Stelle, obwohl der Offizier es anders angeordnet hatte. Er habe nichts dagegen tun können, sagte der Offizier. Eine andere Person sagte mir: „Wenn die IDF im Gazastreifen tausend Hunde töten würde, würde das in der Öffentlichkeit einen größeren Aufruhr auslösen als das massenhafte Abschlachten von Menschen.“
Mehrere Personen, mit denen ich sprach, verglichen ihr Gefühl der Normalität in der Nähe der Gräueltaten mit dem Film The Zone of Interest (2023) über den Nazi-Kommandanten von Auschwitz, Rudolf Höss, der mit seiner Familie in einem gepflegten Haus außerhalb des Lagers lebte. Mir wurde erzählt, dass einige Reservisten aus dem Gazastreifen zurückkehrten und an einer schweren Posttraumatischen Belastungsstörung litten, jedoch keine Hilfe erhalten hatten. Einige von ihnen sind – sowohl nach meinen Quellen als auch nach Berichten in den israelischen Medien – durch Selbstmord gestorben. Auf meiner Reise traf ich Lee Mordechai, einen mutigen jungen Professor an der Hebräischen Universität, der eine umfangreiche Liste der von der israelischen Armee begangenen Verbrechen zusammengestellt hat, die er regelmäßig aktualisiert und ins Internet stellt. Wie die jüngsten Berichte von Amnesty International, Human Rights Watch und Ärzte ohne Grenzen ist auch diese Liste eine erschreckende, aber notwendige Lektüre.
Mein Sohn und seine junge Familie waren gerade umgezogen, als ich ankam. Im vergangenen Jahr hatten sie jedes Mal, wenn die Sirenen losgingen, mit ihren Babys zwei Stockwerke hinunter in den Schutzraum im Keller laufen müssen. Die neue Wohnung verfügt über einen Schutzraum, was in der Regel eine höhere Miete oder eine weiter vom Zentrum Tel Avivs entfernte Lage bedeutet. Die Cousine meiner Schwiegertochter und ihre Töchter helfen bei der Betreuung der Zwillinge. Die jüngste Tochter zeigte mir fröhliche Videoclips von ihrem Vater, der damals noch in Gaza als Geisel festgehalten wurde. Er wurde schließlich im Februar, stark abgemagert, freigelassen und kämpft nun bereits für die Freilassung der übrigen Geiseln.
In der Nähe des neuen Hauses meines Sohnes gibt es einen schönen Park. Bei meinem Besuch schlug er vor, einen kleinen Hügel namens Tel Napoleon zu besteigen, um die Aussicht zu genießen. Als wir den Hang hinaufgingen, waren der unebene Boden und die Mauerfragmente verräterische Zeichen für zerstörte Häuser. Auf der Spitze des Hügels sahen wir einen Sabra-Zaun, hohe einheimische Kakteen, die traditionell zur Abgrenzung von Grundstücken verwendet werden – dort muss ein palästinensisches Dorf gewesen sein. Als ich den Hügel am nächsten Tag im Internet nachschlug, stellte ich fest, dass Wikipedia zwar archäologische Ausgrabungen in der Nähe des Dorfes Jarisha erwähnte, aber nichts darüber sagte, was zu dessen Verschwinden geführt hatte. Für Fotos des Dorfes und Einzelheiten über seine Zerstörung Ende März 1948 muss man sich an die Website von Zochrot wenden, einer israelischen NRO, die Informationen über die Nakba verbreitet. Viele der Vertriebenen, insbesondere aus Dörfern und Städten im nordwestlichen Negev und an der Südküste, landeten im Gazastreifen.
4.
In seinem beeindruckenden Buch Moral Abdictation: How the World Failed to Stop the Destruction of Gaza (Moralische Abdankung: Wie die Welt versagte, die Zerstörung des Gazastreifens aufzuhalten) erklärt Didier Fassin, warum er den französischen Originaltitel Une étrange défaite von L'Étrange Défaite, Marc Blochs Bericht über den Zusammenbruch Frankreichs im Jahr 1940, übernommen hat. Blochs Buch, das er vier Jahre vor seiner Hinrichtung durch die Gestapo wegen seiner Aktivitäten in der Résistance schrieb, befasste sich mit einer militärischen Niederlage, Fassins Buch mit einer moralischen Niederlage. „Die Zustimmung zur Auslöschung des Gazastreifens hat eine enorme Kluft in der globalen moralischen Ordnung geschaffen“, beginnt er. „Mehr als die Aufgabe eines Teils der Menschheit ... wird die Geschichte die Unterstützung für seine Zerstörung aufzeichnen.“
Wie ist es möglich, fragt Fassin, dass, von wenigen Ausnahmen abgesehen, „für die politischen FührerInnen und intellektuellen Persönlichkeiten der wichtigsten westlichen Länder ... das Leben der palästinensischen ZivilistInnenen mehrere hundert Mal weniger wert ist als das Leben der israelischen ZivilistInnen“? Wie ist es zu erklären, dass „Demonstrationen und Versammlungen, die einen gerechten Frieden fordern, verboten sind“? Wie kommt es, dass „die meisten westlichen Mainstream-Medien ohne unabhängige Bestätigung quasi automatisch die Version der Ereignisse aus dem Lager der Besatzer wiedergeben, während sie die von den Besetzten erzählte Version unablässig anzweifeln“? Warum wenden „so viele von denen, die sich hätten zu Wort melden können, um nicht zu sagen, sich dagegen wehren können, ihre Augen von der Vernichtung eines Territoriums, seiner Geschichte, seiner Denkmäler, seiner Krankenhäuser, seiner Schulen, seiner Wohnungen, seiner Infrastruktur, seiner Straßen und seiner BewohnerInnen ab – und in vielen Fällen ermutigen sie sogar zu deren Fortsetzung“?
„Das Paradoxe“, so fährt er fort, „ist, dass diese moralische Abdankung der Staaten im Namen der Moral gerechtfertigt wurde“. Die europäischen Länder verkündeten, dass sie „eine historische Verantwortung gegenüber den Juden hätten und deren Sicherheit garantieren müssten. Der Anschlag vom 7. Oktober war ein monströser Akt, der die Existenz Israels bedroht habe. So wurde die Gegenmaßnahme der israelischen Armee nicht nur unvermeidlich, sondern auch legitim... Die Zerstörung des Gazastreifens und eines Teils seiner Bevölkerung war im Grunde ein kleineres Übel, um ein größeres zu beseitigen, nämlich die Zerstörung des jüdischen Staates, auf die die Hamas aus war. Unter diesen Umständen von den Verbrechen zu sprechen, die von den Israelis begangen wurden, zeugt von der verdächtigsten Form des Rassismus: Antisemitismus. Dies gilt insbesondere, wenn von Völkermord gesprochen wird, um das Massaker an der palästinensischen Bevölkerung zu bezeichnen, denn es ist nicht hinnehmbar, dass die Nachkommen eines Volkes, das Opfer des größten Völkermords war, beschuldigt werden, einen solchen zu begehen.“
Das ist natürlich die heutige Sichtweise der meisten Israelis. Indem die Regierungen der USA und Westeuropas dieses Argument kritiklos akzeptiert und der Auslöschung des Gazastreifens zugestimmt haben, haben sie auch eine falsche Erinnerung an den Holocaust und ein verzerrtes Verständnis seiner Lehren für die Gegenwart akzeptiert und eingesetzt.
Die langfristige Folge dieser Tragödie könnte jedoch sein, dass der Völkermord in Gaza Israel endgültig von seinem Status als einzigartiger Staat befreit, der seine Wurzeln in einem einzigartigen Holocaust hat. Das wird den Zehntausenden von palästinensischen Opfern oder den Opfern des Hamas-Massakers, den toten und sterbenden Geiseln oder ihren zerrütteten Familien kaum helfen. Aber die Sonderrechte, die Israel, das Land der Opfer, lange Zeit genossen und missbraucht hat, läuft vielleicht aus. Die Söhne und Töchter der nächsten Generation werden die Freiheit haben, ihr eigenes Leben und ihre Zukunft jenseits der Erinnerung an den Holocaust zu überdenken; sie werden auch für die Sünden ihrer Eltern bezahlen und die Last des in ihrem Namen begangenen Völkermords tragen müssen. Sie werden mit dem rechnen müssen, was der große, oft vergessene israelische Dichter Avot Yeshurun nach der Nakba schrieb, deren Wiederholung oder Fortsetzung wir gerade erleben: “The Holocaust of the Jews of Europe and the Holocaust of the Arabs of Eretz Israel are one Holocaust of the Jewish people. The two of them stare each other directly in the face. It is of this that I speak.”

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