Haaretz: Es ist ein „Killing Field": Israelische Soldaten schießen gezielt auf unbewaffnete Bewohner*innen von Gaza, die auf humanitäre Hilfe warten
- office16022
- vor 2 Tagen
- 12 Min. Lesezeit
Israelische Offiziere und -Soldaten erklärten gegenüber Haaretz, sie hätten den Befehl erhalten, auf unbewaffnete Menschenmengen in der Nähe von Lebensmittelverteilungsstellen in Gaza zu schießen, auch wenn keine Bedrohung vorlag. Hunderte von Palästinenser*innen wurden getötet, was die Militärstaatsanwaltschaft dazu veranlasste, eine Untersuchung möglicher Kriegsverbrechen zu fordern. Netanjahu und Katz weisen die Vorwürfe zurück und bezeichnen sie als "Ritualmordlegende".
Von Nir Hasson, Yaniv Kubovich und Bar Peleg, Haaretz, 27. Juni 2025
(Originalbeitrag in englischer Sprache)
Israelische Soldaten in Gaza erklärten gegenüber Haaretz, dass die Armee im vergangenen Monat absichtlich auf Palästinenser*innen in der Nähe von Hilfslieferungen geschossen hat.
Aus Gesprächen mit Offizieren und Soldaten geht hervor, dass Kommandeure den Truppen befahlen, auf Menschenmengen zu schießen, um sie zu vertreiben oder zu zerstreuen, obwohl klar war, dass von ihnen keine Gefahr ausging.
Ein Soldat beschrieb die Situation als einen völligen Zusammenbruch jeglicher ethischen Grundsätze der israelischen Streitkräfte im Gazastreifen.
Nach Angaben des von der Hamas geführten Gesundheitsministeriums in Gaza wurden seit dem 27. Mai 549 Menschen in der Nähe von Hilfszentren und in Gebieten, in denen die Bewohner*innen auf UN-Lebensmitteltransporter warteten, getötet. Mehr als 4.000 Menschen wurden verwundet, aber die genaue Zahl der durch israelischen Beschuss Getöteten oder Verletzten bleibt unklar.
Die Haaretz konnte in Erfahrung bringen, dass der Militärgeneralanwalt den Fact-Finding Assessment Mechanism des israelischen Armee-Generalstabs – ein Gremium, das mit der Überprüfung von Vorfällen mit möglichen Verstößen gegen das Kriegsrecht beauftragt ist – angewiesen hat, mutmaßliche Kriegsverbrechen an diesen Orten zu untersuchen.
In einer Erklärung, die nach der Veröffentlichung dieses Enthüllungsberichts veröffentlicht wurde, wiesen Premierminister Benjamin Netanjahu und Verteidigungsminister Israel Katz die Behauptungen zurück, die sie als „Ritualmordlegende“ bezeichneten.
Die Hilfszentren der Gaza Humanitarian Foundation (GHF) haben Ende Mai ihre Arbeit im Gazastreifen aufgenommen. Die Umstände der Gründung der Stiftung und ihre Finanzierung sind undurchsichtig: Es ist bekannt, dass sie von Israel in Zusammenarbeit mit amerikanischen Evangelikalen und privaten Sicherheitsfirmen gegründet wurde. Ihr derzeitiger Geschäftsführer ist ein evangelikaler Führer, der dem US-Präsidenten Donald Trump und dem israelischen Premierminister Benjamin Netanjahu nahe steht.
Die GHF betreibt vier Standorte für die Verteilung von Nahrungsmitteln – drei im südlichen Gazastreifen und einen im Zentrum –, die von der israelischen Armee als „schnelle Verteilungszentren“ (Mahpazim) bezeichnet werden. Sie sind mit amerikanischen und palästinensischen Mitarbeitern besetzt und werden von der israelischen Armee aus einer Entfernung von mehreren hundert Metern bewacht.
Täglich kommen Tausende, manchmal sogar Zehntausende von Menschen aus dem Gazastreifen, um an diesen Orten Lebensmittel abzuholen.
Entgegen den anfänglichen Versprechungen der Stiftung verläuft die Verteilung chaotisch, mit Menschenmassen, die sich auf die Stapel von Kisten stürzen. Seit der Eröffnung der Schnellverteilungszentren hat Haaretz 19 Schießereien in deren Nähe gezählt. Die Identität der Schützen ist nicht immer klar, aber die israelische Armee erlaubt keine bewaffneten Personen in diesen humanitären Zonen ohne ihr Wissen.
Die Verteilungszentren sind in der Regel jeden Morgen nur eine Stunde lang geöffnet. Nach Angaben von Offizieren und Soldaten, die in diesen Gebieten Dienst taten, schießen die IDF auf Personen, die vor der Öffnungszeit ankommen, um sie daran zu hindern, sich zu nähern, oder nach Schließung der Zentren, um sie zu vertreiben. Da einige der Schießereien nachts – vor der Öffnung – stattfanden, ist es möglich, dass einige Zivilist*innen die Grenzen des ausgewiesenen Bereichs nicht sehen konnten.
„Es ist eine Todeszone“, sagte ein Soldat. „Wo ich stationiert war, wurden jeden Tag zwischen einem und fünf Menschen getötet. Sie werden wie eine feindliche Macht behandelt – keine Maßnahmen zur Kontrolle der Menschenmenge, kein Tränengas – nur scharfes Feuer mit allem, was man sich vorstellen kann: schwere Maschinengewehre, Granatwerfer, Mörser. Sobald das Zentrum geöffnet wird, hören die Schüsse auf, und sie wissen, dass sie sich nähern können. Unsere Art der Kommunikation ist das Gewehrfeuer.“
Der Soldat fügte hinzu: „Wir eröffnen frühmorgens das Feuer, wenn jemand versucht, sich aus einigen hundert Metern Entfernung zu nähern, und manchmal stürmen wir einfach aus nächster Nähe auf sie zu. Aber es besteht keine Gefahr für die Truppen." Ihm zufolge „ist kein einziger Fall von Gegenfeuer bekannt. Es gibt keinen Feind, keine Waffen." Er berichtet auch, dass die Aktivitäten in seinem Einsatzgebiet als Operation „Gesalzener Fisch“ bezeichnet werden - der Name der israelischen Version des Kinderspiels „Rotes Licht, grünes Licht“. [Ein Kinderspiel, bei dem ein Spieler mit geschlossenen Augen vor einer Linie steht und die anderen Spieler sich heimlich der Linie nähern müssen, ohne entdeckt/gehört zu werden, bis der Spieler an der Linie „rotes Licht“ sagt und die Augen öffnet, Anm.]
Israelische Offiziere erklärten gegenüber Haaretz, dass die Armee der Öffentlichkeit in Israel und im Ausland nicht erlaubt, Filmmaterial über das Geschehen rund um die Nahrungsmittelverteilungsstellen zu sehen. Ihnen zufolge ist die Armee zufrieden, dass die Operationen der GHF einen völligen Zusammenbruch der internationalen Legitimation für die Fortsetzung des Krieges verhindert haben. Sie glauben, dass es der israelischen Armee gelungen ist, den Gazastreifen ins Vergessen geraten zu lassen, insbesondere seit Beginn des Krieges mit dem Iran.
„Der Gazastreifen interessiert niemanden mehr“, sagte ein Reservist, der diese Woche einen weiteren Einsatz im nördlichen Gazastreifen absolvierte. „Es ist ein Ort mit eigenen Regeln geworden. Der Verlust von Menschenleben bedeutet nichts mehr. Es handelt sich nicht einmal um einen ‚unglücklichen Zwischenfall‘, wie es früher einmal geheißen hat.“
Ein Offizier, der in der Sicherheitsabteilung eines Verteilungszentrums dient, beschrieb das Vorgehen der israelischen Armee als zutiefst problematisch: „Mit der Zivilbevölkerung zu arbeiten, wenn die einzige Möglichkeit der Interaktion darin besteht, das Feuer zu eröffnen - das ist gelinde gesagt höchst problematisch“, sagte er gegenüber Haaretz. „Es ist weder ethisch noch moralisch vertretbar, dass Menschen unter Panzerbeschuss, Scharfschützen und Mörsergranaten eine [humanitäre Zone] erreichen müssen oder nicht erreichen können.“
Der Offizier erklärte, dass die Sicherheit auf den Standorten in mehreren Stufen organisiert ist. Innerhalb der Verteilungszentren und des „Korridors“, der zu ihnen führt, arbeiten amerikanische Söldner, und die israelische Armee darf in diesem Bereich nicht tätig werden. Eine weitere Ebene besteht aus palästinensischen Aufsehern, von denen einige bewaffnet sind und die der Abu Shabab-Miliz angehören.
Zum Überwachungsbereich der israelischen Armee gehören Panzer, Scharfschützen und Mörser, die nach Angaben des Offiziers dazu dienen, die Anwesenden zu schützen und die Verteilung der Hilfsgüter zu gewährleisten.
„Nachts eröffnen wir das Feuer, um der Bevölkerung zu signalisieren, dass dies eine Kampfzone ist und sie sich nicht nähern darf“, so der Offizier. „Einmal“, berichtet er, „hörten die Mörser auf zu schießen, und wir sahen, wie sich die Menschen näherten. Also nahmen wir das Feuer wieder auf, um ihnen klar zu machen, dass sie sich nicht nähern dürfen. Am Ende landete eine der Granaten auf einer Gruppe von Menschen.“
In anderen Fällen, so sagte er, „feuerten wir mit Maschinengewehren aus Panzern und warfen Granaten. Es gab einen Vorfall, bei dem eine Gruppe von Zivilist*innen getroffen wurde, als sie im Nebel ankamen. Es war keine Absicht, aber so etwas kommt vor.“
Er wies darauf hin, dass es bei diesen Vorfällen auch Tote und Verletzte unter den Soldaten gab. „Eine Kampfbrigade hat nicht die Mittel, um mit einer Zivilbevölkerung in einem Kriegsgebiet umzugehen. Mörser abzufeuern, um hungrige Menschen fernzuhalten, ist weder professionell noch menschlich. Ich weiß, dass es unter ihnen Hamas-Anhänger gibt, aber es gibt auch Menschen, die einfach nur Hilfe erhalten wollen. Als Land haben wir die Verantwortung, dafür zu sorgen, dass dies sicher geschieht", so der Offizier.
Der Offizier wies auf ein weiteres Problem mit den Verteilungszentren hin - ihre mangelnde Kohärenz. Die Bewohner*innen wissen nicht, wann die Zentren geöffnet werden, was den Druck auf die Zentren erhöht und zu einer Gefährdung der Zivilbevölkerung beiträgt. „Ich weiß nicht, wer die Entscheidungen trifft, aber wir geben der Bevölkerung Anweisungen und halten uns dann entweder nicht daran oder ändern sie", berichtete er. „Anfang dieses Monats gab es Fälle, in denen wir benachrichtigt wurden, dass das Zentrum am Nachmittag öffnen würde, und die Leute kamen am frühen Morgen, um die ersten in der Schlange für die Lebensmittel zu sein. Weil sie zu früh kamen, wurde die Verteilung an diesem Tag einfach abgesagt."
Bauunternehmer als Sheriffs
Nach Aussagen von Kommandeuren und Soldaten sollte die israelische Armee einen Sicherheitsabstand zu palästinensischen Wohngebieten und Lebensmittelverteilungsstellen einhalten. Die Aktionen der Truppen vor Ort stimmen jedoch nicht mit den Einsatzplänen überein.
„Heute erhält jedes private Unternehmen, das im Gazastreifen mit technischer Ausrüstung arbeitet, 5.000 Schekel [etwa 1.500 Dollar] für jedes Haus, das es abreißt", berichtete ein erfahrener Soldat. „Sie machen ein Vermögen. Aus ihrer Sicht ist jeder Moment, in dem sie keine Häuser abreißen, ein Verlust an Geld, und die israelische Armee muss ihre Arbeit sichern. Die Auftragnehmer, die wie eine Art Sheriff agieren, reißen Gebäude ab, wo immer sie wollen, und zwar entlang der gesamten Front.“
Der Soldat fügte hinzu, dass die Abrisskampagne der Auftragnehmer sie zusammen mit ihren relativ geringen Sicherheitsvorkehrungen in die Nähe von Verteilungspunkten oder entlang der Routen von Hilfslieferungen bringt.
„Weil [die Bauunternehmer] sich selbst schützen wollen, kommt es zu Schießereien, bei denen Menschen getötet werden", berichtete er. „Das sind eigentlich Gebiete, in denen sich Palästinenser*innen aufhalten dürfen - wir sind diejenigen, die näher herangerückt sind und beschlossen haben, dass sie eine Gefahr für uns darstellen. Damit ein Bauunternehmer weitere 5.000 Schekel verdienen und ein Haus abreißen kann, wird es als akzeptabel angesehen, Menschen zu töten, die nur auf der Suche nach Nahrung sind."
Ein ranghoher Offizier, dessen Name immer wieder in Zeugenaussagen über die Schießereien in der Nähe von Hilfseinrichtungen auftaucht, ist Brigadegeneral Yehuda Vach, Kommandeur der Division 252. Haaretz berichtete bereits, wie Vach den Netzarim-Korridor in eine tödliche Route verwandelte, Soldaten vor Ort gefährdete und verdächtigt wurde, die Zerstörung eines Krankenhauses in Gaza ohne Genehmigung angeordnet zu haben.
Nun berichtete ein Offizier der Division, Vach habe beschlossen, Ansammlungen von Palästinenser*innen, die auf UN-Hilfsfahrzeuge warten, durch Eröffnen des Feuers aufzulösen. „Das ist Vachs Politik“, so der Offizier, „aber viele der Kommandeure und Soldaten haben sie ohne zu fragen übernommen. [Die Palästinenser] haben dort nichts zu suchen, also muss man dafür sorgen, dass sie verschwinden, auch wenn sie nur wegen der Lebensmittel dort sind."
Vachs Division ist nicht die einzige, die in diesem Gebiet operiert. Sie ist für den nördlichen Gazastreifen zuständig, und somit gilt Vachs Vorgehen eigentlich für jene, die UN-Hilfslieferwagen plündern, und nicht für GHF-Standorte.
Ein Panzersoldat der Reserve, der kürzlich in der Division 252 im nördlichen Gazastreifen diente, bestätigte die Berichte und erläuterte das „Abschreckungsverfahren“ der israelischen Armee, um Zivilist*innen zu vertreiben, die sich unter Missachtung militärischer Befehle versammeln.
„Die Teenager, die auf die Lastwagen warten, verstecken sich hinter Erdhügeln und stürzen sich auf die LKWs, wenn sie vorbeifahren oder an den Verteilungspunkten anhalten“, sagte er. „Wir sehen sie normalerweise aus Hunderten von Metern Entfernung; es ist keine Situation, in der sie eine Bedrohung für uns darstellen.“
Bei einem Vorfall wurde der Soldat angewiesen, eine Granate auf eine Menschenmenge abzufeuern, die sich in Küstennähe versammelt hatte. „Eigentlich sollte es sich dabei um ein Warnfeuer handeln - entweder um die Leute zurückzudrängen oder sie vom Näherkommen abzuhalten“, sagte er. „Aber in letzter Zeit ist das Abfeuern von Granaten einfach zur Standardpraxis geworden. Jedes Mal, wenn wir schießen, gibt es Verletzte und Tote, und wenn jemand fragt, warum eine Granate notwendig ist, gibt es nie eine gute Antwort. Manchmal reicht es schon, die Frage zu stellen, um die Kommandeure zu verärgern.“
In diesem Fall begannen einige Menschen zu fliehen, nachdem die Granate abgefeuert worden war, und nach Angaben des Soldaten eröffneten andere Streitkräfte daraufhin das Feuer auf sie. „Wenn es ein Warnschuss sein soll und wir sehen, dass sie weglaufen, warum schießen wir dann auf sie?“ fragte er. „Manchmal wird uns gesagt, dass sie sich noch verstecken und wir in ihre Richtung schießen müssen, weil sie noch nicht weg sind. Aber es ist offensichtlich, dass sie nicht gehen können, weil wir in dem Moment, in dem sie aufstehen und weglaufen, das Feuer eröffnen.“
Der Soldat sagte, dies sei zur Routine geworden. „Man weiß, dass es nicht richtig ist. Man spürt, dass es nicht richtig ist - dass die Kommandanten hier das Gesetz in ihre eigenen Hände nehmen. Aber Gaza ist ein Paralleluniversum. Man macht einfach schnell weiter. Die Wahrheit ist, dass die meisten Leute nicht einmal darüber nachdenken.“
Anfang dieser Woche eröffneten Soldaten der Division 252 das Feuer auf eine Kreuzung, an der Zivilist*innen auf Hilfslieferungen warteten. Ein Kommandeur vor Ort gab den Befehl, direkt in die Mitte der Kreuzung zu feuern, was zum Tod von acht Zivilist*innen, darunter auch Teenager, führte. Der Vorfall wurde dem Chef des Südkommandos, Generalmajor Yaniv Asor, zur Kenntnis gebracht, doch bisher hat er, abgesehen von einer vorläufigen Überprüfung, keine Maßnahmen ergriffen und von Vach keine Erklärung für die hohe Zahl der Todesopfer in seinem Sektor verlangt.
„Ich war bei ähnlichen Situationen dabei. Nach dem, was wir gehört haben, wurden dort mehr als zehn Menschen getötet", sagte ein anderer hochrangiger Reserveoffizier, der die Truppen in dem Gebiet befehligte. „Als wir fragten, warum sie das Feuer eröffneten, sagte man uns, es sei ein Befehl von oben gewesen und die Zivilist*innen hätten eine Bedrohung für die Truppen dargestellt. Ich kann mit Sicherheit sagen, dass die Menschen nicht in der Nähe der Truppen waren und sie niemanden gefährdet haben. Es war sinnlos - sie wurden einfach getötet, umsonst. Diese Sache, die man das Töten von unschuldigen Menschen nennt, ist zur Normalität geworden. Uns wurde ständig gesagt, dass es im Gazastreifen keine Unschuldigen gibt, und offenbar ist diese Botschaft bei den Truppen angekommen.“
Ein hochrangiger Offizier, der mit den Kämpfen in Gaza vertraut ist, glaubt, dass dies eine weitere Verschlechterung der moralischen Standards der israelischen Armee bedeutet. „Die Macht, die hochrangige Feldkommandeure gegenüber der Führung des Generalstabs ausüben, bedroht die Befehlskette“, sagte er.
Er sagte: „Meine größte Befürchtung ist, dass die Schießereien und die Schäden an der Zivilbevölkerung im Gazastreifen nicht das Ergebnis operativer Notwendigkeiten oder eines schlechten Urteilsvermögens sind, sondern vielmehr das Ergebnis einer Ideologie, die von Feldkommandeuren vertreten wird und die sie als Einsatzplan an die Truppen weitergeben."
Beschuss von Zivilist*innen
In den letzten Wochen ist die Zahl der Todesopfer in der Nähe von Lebensmittelverteilungsgebieten stark angestiegen - 57 am 11. Juni, 59 am 17. Juni und rund 50 am 24. Juni, wie das Gesundheitsministerium in Gaza mitteilte. Als Reaktion darauf fand im Southern Command eine Diskussion statt, bei der sich herausstellte, dass die Truppen begonnen hatten, Menschenmengen mit Artilleriegranaten zu beschießen.
„Sie sprechen über den Einsatz von Artillerie auf einer Kreuzung voller Zivilist*nnen, als ob das normal wäre", so eine militärische Quelle, die an dem Treffen teilnahm. „Ein ganzes Gespräch darüber, ob es richtig oder falsch ist, Artillerie einzusetzen, ohne überhaupt zu fragen, warum diese Waffe überhaupt gebraucht wird. Was alle beunruhigt, ist die Frage, ob es unserer Legitimität schadet, weiterhin in Gaza zu operieren. Der moralische Aspekt ist praktisch nicht vorhanden. Niemand fragt sich, warum jeden Tag Dutzende von Zivilist*innen auf der Suche nach Lebensmitteln getötet werden."
Ein anderer ranghoher Offizier, der mit den Kämpfen im Gazastreifen vertraut ist, sagte, die Normalisierung der Tötung von Zivilist*innen habe dazu geführt, dass in der Nähe der Hilfsverteilungszentren auf sie geschossen wurde.
„Die Tatsache, dass auf die Zivilbevölkerung geschossen wird – sei es mit Artillerie, Panzern, Scharfschützen oder Drohnen – widerspricht allem, wofür die Armee eigentlich stehen sollte“, sagte er und kritisierte die Entscheidungen, die vor Ort getroffen werden. „Wie konnte es soweit kommen, dass Menschen, die Lebensmittel sammeln, getötet werden, nur weil sie aus der Warteschlange ausscheren oder weil es einem Kommandeur nicht gefällt, dass sie da sind? Wie konnte es soweit kommen, dass wir einen Punkt erreicht haben, an dem ein Teenager bereit ist, sein Leben zu riskieren, nur um einen Sack Reis von einem Lastwagen zu holen? Und er es ist, auf den wir Artillerie abfeuern?"
Neben dem Beschuss durch die israelische Armee wurden einige der Todesopfer in der Nähe der Hilfsgüterverteilungszentren durch Schüsse von Milizen verursacht, die von der israelischen Armee unterstützt und bewaffnet werden. Einem Offizier zufolge unterstützt die Armee weiterhin die Abu Shabab-Gruppe und andere Gruppierungen.
„Es gibt viele Gruppen, die sich gegen die Hamas stellen - Abu Shabab ist noch einen Schritt weiter gegangen“, berichtete er. „Sie kontrollieren Gebiete, in die die Hamas nicht vordringt, und die israelische Armee unterstützt sie dabei.“
Ein anderer Offizier bemerkte: „Ich bin dort stationiert, und selbst ich weiß nicht mehr, wer auf wen schießt.“
In einer Sitzung hinter verschlossenen Türen in dieser Woche mit hochrangigen Beamten der Generalstaatsanwaltschaft, die angesichts des täglichen Todes von Dutzenden von Zivilist*innen in der Nähe von Verteilerzentren stattfand, wiesen die Justizbeamten an, dass die Vorfälle durch den Tatsachenfeststellungsmechanismus des Armee-Generalstabs untersucht werden sollten. Dieses Gremium, das nach dem Zwischenfall auf der Mavi Marmara-Flottille eingerichtet wurde, hat die Aufgabe, Fälle zu untersuchen, in denen der Verdacht besteht, dass gegen die Kriegsgesetze verstoßen wurde, um internationale Forderungen abzuwehren, gegen israelische Soldaten wegen angeblicher Kriegsverbrechen zu ermitteln.
Während des Treffens sagten hochrangige Justizbeamte, dass die weltweite Kritik an der Tötung von Zivilist*innen zunehme. Hochrangige Offiziere behaupteten jedoch, dass es sich um Einzelfälle handele und dass die Schüsse auf Verdächtige gerichtet gewesen seien, die eine Bedrohung für die Truppen darstellten.
Eine Quelle, die an dem Treffen teilnahm, sagte gegenüber Haaretz, dass Vertreter der Generalstaatsanwaltschaft des Militärs die Behauptungen der israelischen Armee zurückwiesen. Ihnen zufolge halten die Argumente den Tatsachen vor Ort nicht stand. „Die Behauptung, es handele sich um Einzelfälle, passt nicht zu den Vorfällen, bei denen Granaten aus der Luft abgeworfen und Mörser und Artillerie auf Zivilist*innen abgefeuert wurden“, so ein Justizbeamter. „Hier geht es nicht um ein paar Tote, sondern um Dutzende von Opfern jeden Tag“.
Obwohl der Militärgeneralstaatsanwalt den Mechanismus zur Bewertung der Faktenlage angewiesen hat, die jüngsten Schießereien zu untersuchen, stellen diese nur einen kleinen Teil der Fälle dar, in denen Hunderte unbeteiligter Zivilist*innen getötet wurden.
Hochrangige Angehörige der israelischen Armee brachten ihre Frustration darüber zum Ausdruck, dass diese Vorfälle nicht gründlich untersucht und der Tod von Zivilist*innen im Gazastreifen ignoriert werden. Militärischen Quellen zufolge führt der Chef des Südkommandos, Generalmajor Yaniv Asor, in der Regel nur vorläufige Untersuchungen durch und verlässt sich dabei hauptsächlich auf die Berichte der Feldkommandeure. Er hat keine disziplinarischen Maßnahmen gegen Offiziere ergriffen, deren Soldaten Zivilist*innen geschädigt haben, obwohl sie eindeutig gegen die Befehle der israelischen Armee und die Kriegsgesetze verstoßen haben.
Ein Armee-Sprecher antwortete: „Die Hamas ist eine brutale Terrororganisation, die die Bevölkerung des Gazastreifens aushungert und gefährdet, um ihre Herrschaft im Gazastreifen aufrechtzuerhalten. Die Hamas tut alles, was in ihrer Macht steht, um die erfolgreiche Verteilung von Lebensmitteln im Gazastreifen zu verhindern und die humanitäre Hilfe zu unterbrechen. Die israelische Armee erlaubt der amerikanischen zivilgesellschaftlichen Organisation (GHF), unabhängig zu operieren und Hilfsgüter an die Bewohner*innen des Gazastreifens zu verteilen. Die israelische Armee operiert in der Nähe der neuen Verteilungsgebiete, um die Verteilung zu ermöglichen, während sie gleichzeitig ihre operativen Aktivitäten im Gazastreifen fortsetzen."
„Im Rahmen ihres Einsatzverhaltens in der Nähe der Hauptzufahrtsstraßen zu den Verteilungszentren führen die Armee-Kräfte systematische Lernprozesse durch, um ihr Einsatzverhalten in diesem Gebiet zu verbessern und mögliche Reibungen zwischen der Bevölkerung und den Armee-Kräften so weit wie möglich zu minimieren. In jüngster Zeit haben die Streitkräfte das Gebiet neu geordnet, indem sie neue Zäune und Schilder aufstellten, zusätzliche Wege eröffneten und vieles mehr. Nach Vorfällen, bei denen es Berichte über Schäden an Zivilist*innen gab, die an den Verteilungszentren ankamen, wurden eingehende Untersuchungen durchgeführt, und den Kräften vor Ort wurden auf der Grundlage der gewonnenen Erkenntnisse Anweisungen erteilt. Diese Vorfälle wurden dem Debriefing-Mechanismus des Generalstabs zur Prüfung vorgelegt.“
Die israelische Armee hat nach der Veröffentlichung des Artikels eine weitere Stellungnahme abgegeben, in der sie „die in dem Artikel erhobene Anschuldigung entschieden zurückweist - die israelische Armee hat die Streitkräfte nicht angewiesen, absichtlich auf Zivilist*innen zu schießen, auch nicht auf solche, die sich den Verteilungszentren nähern. Um es klar zu sagen, die Armee-Direktiven verbieten absichtliche Angriffe auf Zivilist*innen.“
Die Armee fügte hinzu, dass „jede Anschuldigung einer Abweichung vom Gesetz oder den Armee-Direktiven gründlich geprüft und gegebenenfalls weitere Maßnahmen ergriffen werden. Die in dem Artikel erhobenen Vorwürfe des absichtlichen Beschusses von Zivilist*innen können auf dem Feld nicht bestätigt werden.“

Comentarios