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Hunger und Unterernährung nehmen im Gazastreifen zu, die israelische Blockade lässt Müttern keine Möglichkeiten

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  • vor 6 Tagen
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Der kleine Junge weint und ist verständlicherweise aufgebracht. Durchfall plagt ihn schon die Hälfte seines kurzen Lebens. Er ist dehydriert und sehr schwach. An seiner winzigen linken Hand ist ein gelber Schlauch befestigt, der flüssige Nahrung zu seinem zerbrechlichen kleinen Körper transportiert.


Von Mohammed Jahjouh und Sarah El Deeb, Associated Press, 3. Mai 2025


(Originalbeitrag in englischer Sprache und dazugehörendem Bild- und Videomaterial)

 

KHAN YOUNIS – Mit 9 Monaten wiegt Khaled kaum 5 Kilo - die Hälfte dessen, was ein gesundes Baby in seinem Alter wiegen sollte. Wedad Abdelaal kann nur zusehen, wie die Ärzte in der Hauptkinderklinik von Gaza versuchen, ihren Sohn zu retten. Nach wiederholten Notfallbesuchen beschlossen die Ärzte am vergangenen Wochenende, Khaled einzuweisen. Fast eine Woche lang wurde er über eine Sonde ernährt und erhielt dann Nahrungsergänzungsmittel und Flaschenmilch, die alle drei Stunden oder öfter gegeben wurde. Seine Mutter, nervös und hilflos, sagt, das sei nicht genug.

„Ich wünschte, sie würden sie uns jede Stunde geben. Er wartet ungeduldig darauf ... aber auch ihnen fehlt es an Vorräten", so Abdelaal. „Diese Blockade bringt uns um.“

Je länger sie im Krankenhaus bleiben können, desto besser wird es Khaled gehen. Aber Abdelaal sorgt sich um ihre anderen Kinder, die in ihrem Zelt zurückgeblieben sind, mit leeren Töpfen und nichts zu essen, während die israelische Blockade des Gazastreifens in den dritten Monat geht, die längste seit Beginn des Krieges.

Der von israelischen Bombardierungen eingeschlossene, abgeriegelte und verwüstete Gazastreifen ist vom Hungertod bedroht. Tausende von Kindern sind bereits wegen Unterernährung behandelt worden. Erschöpft, vertrieben und seit über anderthalb Jahren Krieg nur mit dem Allernötigsten versorgt, müssen Eltern wie Abdelaal dabei zusehen, wie ihre Kinder verhungern und können nichts tun.

Sie haben keine Möglichkeiten mehr.

 

Die akute Unterernährung bei Kindern schnellt in die Höhe

Die Krankenhausversorgung hängt am seidenen Faden, denn bei Angriffen mit vielen Opfern haben tödliche Notfälle Vorrang. Die Lebensmittelvorräte in den Lagern der Vereinten Nationen sind aufgebraucht. Die Märkte leeren sich. Was noch verfügbar ist, wird zu exorbitanten Preisen verkauft, die für die meisten Menschen im Gazastreifen unerschwinglich sind, wo nach Angaben der Vereinten Nationen mehr als 80 % auf Hilfe angewiesen sind.

Gemeinschaftsküchen, die Mahlzeiten für Tausende ausgeben, müssen schließen. Landwirtschaftliche Flächen sind größtenteils unbebaubar. Bäckereien haben geschlossen. Die Wasserversorgung ist zum Stillstand gekommen, vor allem wegen des Treibstoffmangels. In verzweifelten Szenen drängen sich Tausende, darunter viele Kinder, vor den Gemeinschaftsküchen und streiten um Lebensmittel. Lagerhäuser mit wenigen Vorräten wurden geplündert.

Die am längsten andauernde Blockade des Gazastreifens hat einen wachsenden internationalen Aufschrei ausgelöst, der Israel jedoch nicht dazu bewegen konnte, die Grenzen zu öffnen. Organisationen beschuldigen Israel, den Hunger als Kriegswaffe einzusetzen. Bewohner*innen und humanitäre Organisationen warnen, dass die akute Unterernährung bei Kindern rasant zunimmt.

„Wir brechen die Körper und den Geist der Kinder in Gaza“, sagte Michael Ryan, Exekutivdirektor für Notfälle bei der Weltgesundheitsorganisation, vor Reporter*innen in Genf. "Wenn wir nichts dagegen tun, machen wir uns alle mitschuldig an dem, was vor unseren Augen geschieht... Die Kinder sollten nicht den Preis dafür zahlen müssen."

Israel verhängte die Blockade am 2. März und beendete einen zweimonatigen Waffenstillstand, indem es am 18. März die Militäroperationen wieder aufnahm und erklärte, beide Schritte seien notwendig, um die Hamas zur Freilassung der Geiseln zu zwingen. Vor der Beendigung des Waffenstillstands ging Israel davon aus, dass sich noch 59 Geiseln im Gazastreifen befanden, von denen 24 noch am Leben waren und sich in Gefangenschaft befanden.

Israel hat sich nicht zu den Vorwürfen geäußert, dass sie den Hunger als Kriegstaktik einsetzt. Israelische Politiker haben jedoch bereits erklärt, dass der Gazastreifen nach einem Anstieg der Hilfslieferungen während des Waffenstillstands über genügend Hilfsgüter verfügt, und die Hamas beschuldigt, Hilfsgüter für ihre Zwecke umzuleiten. Die Mitarbeiter*innen der humanitären Hilfe bestreiten, dass humanitäre Hilfe in nennenswertem Umfang abgezweigt wurde, und sagen, dass die UNO die Verteilung streng überwacht.

 

Eine Mutter will ihrem Sohn helfen - kann es aber nicht

Khaled leidet an Unterernährung, seit er zwei Monate alt ist. Seine Mutter hatte versucht, es mit ambulanten Besuchen und Nahrungsergänzungsmitteln, die in Ernährungszentren verteilt werden, in den Griff zu bekommen. Aber seit sieben Monaten sieht Abdelaal, 31, zu, wie er langsam verkümmert. Auch sie ist unterernährt und hat in den letzten Monaten kaum noch Eiweiß zu sich genommen.

Nach einer erschöpfenden Schwangerschaft und zwei Tagen Wehen kam Khaled auf die Welt - mit 2 Kilo ein leichtes Baby, aber ansonsten gesund. Abdelaal begann ihn zu stillen. Aber wegen ihres Kalziummangels verliert sie ihre Zähne - und produziert zu wenig Milch.

„Stillen braucht Nahrung, und ich bin nicht in der Lage, ihm genug zu geben“, sagt sie.

Khaled hat vier weitere Geschwister im Alter zwischen vier und neun Jahren. Die Familie wurde aus Rafah vertrieben und lebt jetzt in einem Zelt weiter nördlich in Mawasi Khan Younis. Da die Lebensmittel während der Blockade knapp wurden, ist die Familie auf die Gemeinschaftsküchen angewiesen, die Reis, Nudeln und gekochte Bohnen anbieten. Im Zelt zu kochen ist ein Kampf: Es gibt kein Gas, und die Suche nach Holz oder Plastik zum Verbrennen ist mühsam und riskant.

Ahmed, 7, und Maria, 4, zeigen bereits Anzeichen von Unterernährung. Ahmed, 7, wiegt 8 Kilo; seine Knochen stechen durch seine Haut. In den Ernährungszentren, die nur Kinder unter 6 Jahren versorgen, erhält er keine Ergänzungsnahrung. Maria, 4, hat ebenfalls an Gewicht verloren, aber es gibt keine Waage, um sie zu wiegen. „Meine Kinder sind so zerbrechlich geworden“, sagt Abdelaal. „Sie sind wie kleine Küken.“

 

Ernährungszentren in Gaza schließen

Seit dem 2. März haben UN-Organisationen einen Anstieg der akuten Unterernährung bei Kindern festgestellt. Sie stellen ein schwaches Immunsystem, häufige Krankheiten, Gewichts- und Muskelverlust, hervorstehende Knochen oder Bäuche und brüchiges Haar fest. Seit Anfang des Jahres wurden laut UNICEF mehr als 9 000 Kinder wegen akuter Unterernährung aufgenommen oder behandelt.

Der Anstieg war im März dramatisch: 3.600 Fälle oder 80 Prozent mehr als die 2 000 Kinder, die im Februar behandelt wurden. Seitdem haben sich die Bedingungen nur noch weiter verschlechtert. Die Vorräte zur Vorbeugung von Unterernährung, wie Nahrungsergänzungsmittel und Kekse, sind laut UNICEF aufgebraucht. Therapeutische Nahrungsmittel zur Behandlung akuter Unterernährung gehen zur Neige.

Eltern und Pflegeeltern teilen sich Behandlungen gegen Unterernährung, um den Mangel auszugleichen, was die Behandlung erschwert. Nahezu die Hälfte der 200 Ernährungszentren im Gazastreifen ist aufgrund von Vertreibung und Bombardierung geschlossen.

In der Zwischenzeit warten die Hilfsgüter an den Grenzen und werden von Israel an der Einreise nach Gaza gehindert.

Es ist absolut klar, dass wir mehr Fälle von Auszehrung [Auszehrung oder Inanition führt zum völligen Kräfteverfall, Anm.] haben werden, die die gefährlichste Form der Unterernährung ist. Es ist auch klar, dass mehr Kinder an diesen vermeidbaren Ursachen sterben werden", sagt UNICEF-Sprecher Jonathan Crickx.

Suad Obaid, eine Ernährungsberaterin in Gaza, sagt, dass Eltern vermehrt die Ernährungszentren aufsuchen, weil sie nichts zu essen für ihre Kinder haben. „Niemand kann sich fast zwei Jahre lang allein auf Konserven und Notnahrung stützen.“

Im Nasser-Krankenhaus wurden letzte Woche vier kritische Fälle wegen akuter Unterernährung behandelt, darunter auch Khaled. Es werden nur kritische Fälle aufgenommen - und auch nur für kurze Zeit, damit mehr Kinder behandelt werden können. „Wenn wir alle Kinder mit akuter Unterernährung aufnehmen, brauchen wir Hunderte von Betten“, räumt Dr. Yasser Abu Ghaly ein: „Vielen können wir sowieso nicht mehr helfen ... Wir haben nichts mehr."

 

Das System zur Behandlung von Krankheiten ist zusammengebrochen

Vor dem Krieg wurden Hunderte von Familien im Gazastreifen wegen angeborener Defekte, genetischer oder Autoimmunerkrankungen registriert und behandelt - ein System, das vor allem deshalb zusammengebrochen ist, weil Lebensmittel, Formeln oder Tabletten, die bei der Behandlung der Krankheiten halfen, schnell ausgingen. Dr. Ahmed al-Farrah, Leiter der Abteilung für Pädiatrie und Geburtshilfe im Nasser-Krankenhaus, sagt, dass Hunderte von Kindern mit genetischen Störungen auch kognitive Störungen erleiden könnten, wenn nicht sogar Schlimmeres. „Sie sind zum Tode verurteilt“, sagt er.

Die Mukoviszidose von Osama al-Raqab hat sich seit Beginn des Krieges verschlimmert. Der Mangel an Fleisch, Fisch und Enzymtabletten, die ihm bei der Verdauung der Nahrung helfen würden, führte zu wiederholten Krankenhausaufenthalten und langen Anfällen von Brustinfektionen und akutem Durchfall, berichtet seine Mutter Mona. Seine Knochen stechen durch seine Haut. Osama, 5, wiegt 9 Kilo und kann sich kaum bewegen oder sprechen. Konservendosen bieten ihm keine Nahrung.

„Angesichts der Hungersnot in Gaza essen wir nur Linsen aus der Dose“, sagt seine Mutter. „Wenn die Grenzen geschlossen bleiben, werden wir auch das noch verlieren.“

Das Baby von Rahma al-Qadi wurde vor sieben Monaten mit dem Down-Syndrom geboren. Seitdem hat Sama kaum mehr als ein halbes Pfund (300 Gramm) zugenommen und wurde mehrmals mit Fieber ins Krankenhaus eingeliefert. Ihre Mutter, die ebenfalls unterernährt ist und immer noch an einer Infektion ihrer Geburtswunde leidet, versucht weiterhin, sie zu stillen. Auch das ist nicht genug.

Sama ist unruhig, schläft nicht und verlangt ständig nach mehr Nahrung. Die Ärzte bitten ihre Mutter, besser zu essen, um mehr Milch zu produzieren. Als die Mutter die dürren Beine von Sama hochhebt, sagt sie: „Ich kann nicht glauben, dass dies das Bein eines sieben Monate alten Kindes ist.“

 

„Wir warten auf den Tod“

Die Kinder von Abdelaal holen Wasser und warten in der Schlange vor der Suppenküche, weil sie es nicht mehr kann - um dorthin zu gelangen, müssen sie einen kleinen Hügel erklimmen. Wenn sie kann, wartet sie unten auf sie, weil sie befürchtet, dass sie hinfallen oder das Essen fallen lassen könnten.

Wenn sie Essen mitbringen, teilt die Familie es auf mehrere Mahlzeiten und Tage auf. Wenn sie nichts bekommen, teilen sie sich Bohnen aus einer Dose. Abdelaal verzichtet oft auf ihren Anteil. „Meine Kinder“, sagt sie, „haben es mehr verdient.“

Ihr Ehemann Ammar ist herzkrank und kann sich nicht bewegen, so dass auch er nicht helfen kann. „Wegen des Mangels an gesunder Nahrung haben wir selbst als Erwachsene keine Kraft, uns zu bewegen oder uns anzustrengen“, sagt Ammar. „Wir sitzen in unseren Zelten und warten auf den Tod.“

Die Kinder flehen um gebratene Tomaten oder gekochte Kartoffeln. Aber die Produkte sind nicht verfügbar oder zu teuer. Ein Kilo davon würde sie 18,5 Euro kosten, ein Stück Keks 1,7 Euro und Sardinen in Dosen fast 8,8 Euro - ein Vermögen.

„In zwei Jahren wird mein Kind nicht laufen können, weil es zu wenig zu essen hat“, sagt Abdelaal. Trotz ihrer Hilflosigkeit lächelte sie und holte Khaled am Freitag für ein paar Stunden aus dem Krankenhaus, um seine Familie zu besuchen. Sie versammelten sich um eine Dose mit kalten Bohnen. Sie wünscht sich, Khaleds Ärzte könnten ihr die Behandlung mit ins Zelt geben, damit sie bei ihrer Familie sein kann.

„Ich war vor der Geburt und bin nach der Geburt erschöpft, weil ich nichts zu essen habe“, sagt sie.

„Wir werden nicht überleben.“

 

Sarah El Deeb ist Teil des globalen Investigativteams der AP.




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