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„Ich habe die schrecklichsten Gräueltaten gesehen." Vier Ärzte berichten bei den Vereinten Nationen in New York über ihre Hilfseinsätze in Gaza

Das Gesundheitssystem in Gaza ist im Wesentlichen zusammengebrochen, berichten vier Ärzte, die in den letzten Monaten mit Hilfsorganisationen in Gaza im Einsatz waren, am vergangenen Montag bei einer Veranstaltung der Vereinten Nationen in New York und sprachen von "entsetzlichen Gräueltaten" im Zuge der israelischen Offensive. Sie drängen auf dringende Maßnahmen zur Beendigung des Krieges.

 

Dr. Zaher Sahloul, Dr. Thaer Ahmad, Dr. Nick Maynard und Dr. Amber Alayyan aus den Vereinigten Staaten, aus Großbritannien und Frankreich haben mit Teams in Gaza zusammengearbeitet, um das dortige Gesundheitssystem zu unterstützen.


Der in Oxford lebende Chirurg Professor Dr. Nick Maynard berichtete, dass er in den letzten 15 Jahren oft in Gaza gewesen ist, aber nicht im Entferntesten auf das vorbereitet gewesen sei, was er bei seinem letzten Aufenthalt Ende Dezember dort erlebt habe.


"Ich habe die schrecklichsten Gräueltaten gesehen", sagte er bei der Veranstaltung im UN-Hauptquartier in New York. "Grausamkeiten, die ich nie erwartet hätte, in einer medizinischen Einrichtung zu sehen. Ich habe im Al-Aqsa-Krankenhaus Dinge gesehen, von denen ich nachts noch immer aufwache und an die ich denken muss: schreckliche Verletzungen, vor allem bei Frauen und Kindern. Die verheerendsten Verbrennungen bei kleinen Kindern. Ein Kind kann ich nicht vergessen. Es war so stark verbrannt, dass seine Gesichtsknochen sichtbar waren. Wir wussten, dass sie keine Chance hatte, das zu überleben, aber es gab kein Morphium, das wir ihr geben konnten", so Dr. Maynard. "Sie ist also nicht nur unweigerlich gestorben, sondern noch dazu unter Höllenqualen. Noch dazu kam, dass wir sie nirgendwo hinbringen konnten, es gab keinen Platz mehr, kein freies Bett. Sie ist einfach auf dem Boden der Notaufnahme zum Sterben zurückgelassen worden."


Dr. Zaher Sahloul, Spezialist für Intensivmedizin und für die humanitäre Gruppe MedGlobal in Gaza im Einsatz, erzählte von einem siebenjährigen Kind, Hiyam Abu Khdeir, das mit Verbrennungen dritten Grades an 40 Prozent ihres Körpers in das Gaza European Hospital kam. Bei einem israelischen Luftangriff auf das Haus ihrer Familie waren ihr Vater und ihr Bruder getötet, und ihre Mutter verletzt worden. Nach wochenlangen Verzögerungen wurde sie zur Behandlung nach Ägypten evakuiert, starb aber zwei Tage später, so Sahloul.


Die Ärzte warnten auch vor einer hohen Zahl von Todesopfern, falls Israel seinen Plan, in die Stadt Rafah im Süden des Gazastreifens einzumarschieren, weiterverfolgt.


"Wenn es zu einer großen Invasion in Rafah kommt, wird die Zahl der Todesopfer apokalyptisch sein", so Dr. Maynard. Er habe außerdem "keinen Zweifel" daran, dass das, was in Gaza geschehe, nach jeder Definition, die er gelesen habe, einem Völkermord gleichkomme.


Dr. Thaer Ahmad, ein palästinensisch-amerikanischer Arzt für Notfallmedizin, zeigte einige Gegenstände, so zum Beispiel eine Babywindel und ein Inhalationsgerät für Kinder, die die Menschen in Gaza nicht erhalten. Dr. Ahmad, der im Januar zwei Wochen lang im Nasser-Krankenhaus gearbeitet hatte, hielt auch ein winziges Fläschchen eines Beruhigungsmittels in die Höhe und erklärte, dass es für PatientInnen verwendet werden könnte, wenn Ärzte versuchen, Knochenbrüche zu versorgen oder Verbrennungen zu reinigen. "Das sind unglaublich schmerzhafte Behandlungen", so Dr. Ahmad, "und dies ist etwas, das helfen könnte, etwas so Kleines, aber es kommt nicht nach Gaza, weil die Einfuhr verboten ist.“


Dr. Amber Alayyan von Ärzte ohne Grenzen (MSF) berichtete darüber, dass sie Kinder und Erwachsene ohne Narkose intubieren und amputieren musste. Sie erzählte außerdem von der unmöglich gemachten Wundversorgung bei PatientInnen, es fehle an Medikamenten, hygienischen Einrichtungen und hygienischen Wohnbedingungen – kurz gesagt an allem. Vielfach würden sich die Wunden schwer entzünden und eine erneute Behandlung, die aufgrund des zusammengebrochenen Gesundheitssystem nicht gewährleistet werden kann, erfordern. Laut Dr. Alayyan sind schwangere und stillende Frauen sowie Kinder unter zwei Jahren die vulnerabelste Gruppe: "Wir reden hier von Frauen, die Datteln in Taschentücher quetschen und ihre Kinder mit irgendeiner zuckerhaltigen Substanz zu füttern versuchen, um sie zu ernähren", berichtete sie.


Dr. Sahloul fügte ergänzend hinzu: "Der Gazastreifen ist an einem Wendepunkt angelangt, an dem der Mangel an Lebensmitteln, Wasser, Treibstoff, Medikamenten und medizinischer Versorgung sowie der Zusammenbruch des Gesundheitssystems zu einem beschleunigten Tod von unschuldigen Menschen führt."

 

Informationen zusammengefasst und übersetzt aus:

 

Weitere Informationen/Artikel zur Arbeit von Professor Dr. Nick Maynard:

Gestern erschienenes Interview mit Dr. Nick Maynard über seine Erlebnisse in Gaza in englischer Sprache: British doctor describes ‘deeply tragic’ hospital cases in Gaza (Achtung: Beschreibung und Darstellung drastischer Szenen)

Gaza: Surgeon ready to help says moral duty trumps fear (November 2023)

‘The single worst thing I’ve seen’: Top Oxford surgeon recounts horrors of Gaza hospital (Jänner 2024)

 

Außerdem:


WHO dokumentiert über 400 israelische Angriffe auf Gesundheitseinrichtungen in Gaza seit dem 7. Oktober

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat auf X/Twitter eine Infografik veröffentlicht, die israelische Angriffe auf die Gesundheitsinfrastruktur in Gaza zwischen dem 7. Oktober 2023 und dem 12. März 2024 aufzeigt. Seit dem 7. Oktober hat die WHO 410 Angriffe auf die Gesundheitsversorgung im Gaza-Streifen dokumentiert. Die Angriffe hatten 685 Todesopfer, 902 Verletzte, Schäden an 99 Einrichtungen und 104 Krankenwagen zur Folge. Zwei Fünftel (38%) der Angriffe fanden in Gaza-Stadt statt, ein Viertel (23%) in Nord-Gaza und über ein Viertel (28%) in Khan Younis. Gesundheitseinrichtungen und -infrastruktur sind nach internationalem Völkerrecht geschützt. Die WHO ruft daher dringend zur Einhaltung des Völkerrechts und zum aktiven Schutz der Zivilbevölkerung und der Gesundheitsversorgung auf.




 

 

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