„Ich habe gesehen, wie die Bomben fielen. Ich habe die Mütter gesehen“: Wie trauern wir um die Kinder von Gaza?
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- 8. Sept.
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Palästina ist keine Metapher. Und doch – ich habe jede Erfahrung meiner eigenen Mutterschaft in den letzten Monaten auf Palästina übertragen.
Von Hala Alyan, The Guardian, 3. September 2025
(Originalbeitrag in englischer Sprache)
Als ich das letzte Mal ein Kind in mir trug, hörte ich genau dreimal seinen Herzschlag, bevor er aufhörte zu schlagen. Es war meine fünfte Schwangerschaft. Nach dem letzten Termin, bei dem die Ärztin beim Betrachten des Ultraschalls die Stirn runzelte, ging ich die First Avenue entlang. Es war Winter. Es war das Jahr nach Beginn der Pandemie. Ich war außer mir vor Trauer. Ich schrie Fremde an und weinte in einer Bar. Ich hatte ein Jahr damit verbracht, schwanger zu werden, und dann wieder nicht mehr schwanger zu sein. Ich wachte mitten in der Nacht auf und erinnerte mich: Herzschlag, Herzschlag. Manchmal kam mir meine Trauer absurd vor. Ich konnte nicht sagen, was das Maß einer Mutter war, welche Ziele erreicht werden mussten. Hatte ich sie erreicht? Sicherlich musste man sich eine solche Trauer – eine solche Liebe – tiefer verdienen?
Drei Jahre später wurde ich erneut unter Narkose gesetzt, um weitere Eizellen entnehmen zu lassen. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich ein fast 18 Monate altes Baby. Die Operation fand am 6. Oktober statt. Als ich aufwachte, stand der Fertilitätsarzt fröhlich an meinem Bett; ich hatte nun eine neue Ladung Eizellen auf Eis. Ich fuhr mit einem Taxi nach Hause. An diesem Nachmittag saß ich benommen auf der Couch und schaute Sitcoms. Am nächsten Tag sah ich die Nachrichten: Eine Eilmeldung folgte der nächsten, auf Englisch, auf Arabisch, und wiederholte dieselben Details in unterschiedlicher Reihenfolge: Überraschungsangriff, Morgengrauen, Raketen, Metallzaun niedergewalzt, Geiseln genommen, Überfälle, Kämpfer, Dutzende Tote, nein, Hunderte Tote, 16-jährige Belagerung. Dann sah ich, wie eine Stadt dunkel wurde. Ich sah, wie die Wasserversorgung unterbrochen wurde. Ich sah, wie die ersten Bomben fielen.
Ich sah die Mütter.
Ende 2023 hielten palästinensische Kinder eine Pressekonferenz in Englisch ab und forderten die Welt auf, sie nicht länger zu töten. Gegen Ende sagt ein Kind: „Wir laden Sie ein, uns zu beschützen.“ Ich war eine relativ neue Mutter, unbeholfen und unsicher, erschüttert von der steigenden Zahl der Todesopfer. Die Einladung war ebenso großzügig wie erschütternd. Ich sehe das Prinzip der Fürsorge auch als einen der Retter der Menschheit, sagte Audre Lorde einmal, egal ob es bei Frauen oder bei Männern auftritt. Ich denke, in diesem Sinne sind wir alle Mütter - dass wir uns gegenseitig helfen, dass wir uns in Bezug auf Überleben und Erziehung engagieren. Die Einladung war ein Zugang, eine Aufforderung an unser mütterliches Selbst.
Der Maßstab für jede Gesellschaft ist, wie sie mit ihren Schwächsten umgeht. Man kann wohl sagen, dass ein Kind auf einem kleinen Landstück ohne Strom, Wasser, Hilfe und Zugang zu Grenzübergängen so schutzlos ist, wie es nur sein kann. Aber anstatt durch Macht – oder zumindest durch internationales Recht – geschützt zu werden, wurden die Kinder von Gaza getötet, lebendig verbrannt und ausgehungert. Sie stellen die höchste Zahl an pädiatrischen Amputierten. Sie leben am „gefährlichsten Ort für Kinder“ auf diesem Planeten. Wir haben Röntgenbilder ihrer durch Schüsse verletzten Gehirne gesehen. Wir haben gehört, wie sie in Notrufen um ihr Leben gefleht haben. Wir haben gesehen, wie sie sich durch brennende Klassenzimmer gekämpft haben, nachdem eine Schule, die als Notunterkunft diente, bombardiert worden war.
Selbst Tausende von Kilometern entfernt: Palästinensische Kinder sind das Ziel. Eine Frau in Texas wurde angeklagt, weil sie versucht hatte, ein dreijähriges palästinensisch-amerikanisches Mädchen zu ertränken. Ein texanischer Vermieter stach 26 Mal auf Wadee Alfayoumi, einen sechsjährigen palästinensisch-amerikanischen Jungen, ein. In Brooklyn schüttete eine Frau heißen Kaffee auf einen Mann und sein 18 Monate altes Kind, weil der Mann eine Keffiyeh trug.
Das Projekt der Entmenschlichung zielt darauf ab, Menschen als nicht schutzwürdig darzustellen, damit die Zuschauer, wenn diese leiden, dazu gebracht werden, ihnen mit Gleichgültigkeit zu begegnen: Sie müssen es verdient haben. Sie müssen sich dafür entschieden haben. Oder einfach: Sie dürfen nicht fühlen, was ich fühle. Solche Taten werden nur durch jahrzehntelange Propaganda und Rhetorik über palästinensische Kinder, durch Medienberichte, die sie älter erscheinen lassen, durch eine Politik, die sie kriminalisiert und sie als angehende Terroristen darstellt, die von Natur aus mitschuldig sind, ermöglicht. In den Diskurs gegen palästinensische Kinder ist eingebettet, dass sie für diejenigen, die sie lieben, entbehrlich sind.
In einer Pressekonferenz im Jahr 1969 sagte Golda Meir die denkwürdigen Worte: „Wir werden den Arabern vielleicht irgendwann verzeihen können, dass sie unsere Söhne getötet haben, aber es wird uns schwerer fallen, ihnen zu verzeihen, dass sie uns gezwungen haben, ihre Söhne zu töten.“
Diese Rhetorik beinhaltet zwei geschickte Manöver: die rassistische Darstellung der Palästinenser*innen als unmenschlich und die Entlastung derjenigen, die tatsächlich morden, von ihrer Verantwortung, sodass sie selbst bei ihren Morden zu Opfern werden. Das ist es, was es amerikanischen Kommentator*innen ermöglicht, fast zwei Jahre nach Beginn des Völkermords und während in Gaza eine erzwungene Hungersnot herrscht, „den Bildern aus Gaza“ von hungernden Kindern „nicht allzu viel Bedeutung beizumessen“.
Im Jahr 2014 veröffentlichte die israelische Abgeordnete Ayelet Shaked ein Zitat des Journalisten Uri Elitzur. Darin hieß es: „Sie sollten verschwinden, ebenso wie die Häuser, in denen sie die Schlangen großgezogen haben. Sonst werden dort noch mehr kleine Schlangen großgezogen.“
Wer sollte „verschwinden“? Die Mütter, die Häuser, die Kinder.
Jahre später antwortete Meirav Ben-Ari auf die Aussage eines palästinensischen Knesset-Mitglieds: „Ein Kind ist ein Kind ist ein Kind“, mit den Worten: „Die Kinder von Gaza haben sich das selbst zuzuschreiben.“
Hier liegt die größte Fiktion von allen: die Fiktion von Kindern dort drüben und Kindern hier bei uns. Die Fiktion, dass es einen Unterschied gibt. Die Fiktion, dass es sich um die Kinder von jemand anderem handelt, obwohl, wie James Baldwin einmal schrieb, alle Kinder immer die unsrigen sind.
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Am Ende wird meine Tochter fast ein Jahr lang in einem anderen Körper getragen. Sie wird von einem anderen Körper geboren. An dem Tag, an dem sie geboren wird, habe ich das Gefühl, dass die Zeit stehen bleibt. Die Sonne scheint durch die Fenster, während ich die Hand der Leihmutter halte, ihr Knie, diese Frau, die Leben um des Lebens Willen geschenkt hat. Als der Arzt mir sagt, ich solle hinsehen, schaue ich hin. Da: meine Tochter. Da: Leben. Ein Jahrzehnt der Vorbereitung. Ihr skeptischer Blick. Der süße Protest ihres ersten Schreis. Die Sprache versagt mir auf die herrlichste Weise. Ich halte sie stundenlang in dem vom Morgenlicht erhellten Zimmer, ihren Mund neben meiner Wange. Sie weiß bereits, wie man atmet, denke ich immer wieder. Das Wunder ist überall.
Am 7. Oktober wird sie 18 Monate alt. Ich hatte mir viele Dinge für meine ersten Jahre als junge Mutter vorgestellt: Wutanfälle, die Angst, die mit der Liebe einhergeht, Helikopter-Elternschaft. Was ich mir nicht vorgestellt hatte, war, mit den schrecklichen Dingen vertraut zu werden, die einem Kinderkörper angetan werden können. Zu sehen, wie ein Mädchen wie Fleisch an einem Gebäude hängt. Zu sehen, wie ein Kind lebendig verbrennt. Ein enthauptetes Kleinkind zu sehen. Es versteht sich von selbst, dass Zeugin zu sein nicht dasselbe ist wie es selbst zu erleben. Es spielt keine Rolle, dass ein Teil des Nervensystems den Unterschied nicht versteht. Es spielt keine Rolle, dass ich jedes Mal, wenn ich vom Weinen meiner Tochter aufwache, durch die Wohnung renne, als stünde die Stadt in Flammen. Es spielt keine Rolle, dass ich, als ich kurz nach dem 7. Oktober eines Nachts aufwachte – allein mit meiner Tochter in der Wohnung – und die Schreie eines zufälligen Streits zwischen zwei Männern hörte, die über die Hamas und Israel schrien, als mein erster Gedanke, einfach und unvorbereitet, war: Sie sind gekommen, um uns zu holen.
Palästina ist keine Metapher. Und doch - jede Erfahrung, die ich in den letzten Monaten als Mutter gemacht habe, hat sich mit Palästina vermischt. Meine Tochter in der Notaufnahme. Das helle, aufgeschürfte Knie meiner Tochter im Garten. Die Antibiotika meiner Tochter im Kühlschrank. Das sonnige Klassenzimmer meiner Tochter. Der Lieblings-YouTuber meiner Tochter, der singt: Gut gemacht, Freunde!
In Gaza sagt eine Frau: Ich habe zehn Jahre lang versucht, sie zu bekommen. Sie hält ihr totes Baby in den Armen. In Gaza werden nach zehn Jahren der Versuche und drei Runden IVF-Behandlungen Zwillinge geboren. Sie werden bei einem Luftangriff auf ihr Haus getötet. Sie sind fünf Monate alt. In Gaza isst ein Kleinkind Sand, ein Junge wird beim Holen von Mehl erschossen, ein Baby stirbt mit einem Gewicht, das geringer ist als bei seiner Geburt. In Gaza lässt eine Kinderärztin ihre zehn Kinder zu Hause, um die verletzten Kinder anderer im Krankenhaus zu behandeln. Stunden später werden die Leichen von neun ihrer Kinder eingeliefert, verkohlt und bis zur Unkenntlichkeit entstellt, verloren in nur einem Augenblick. In Gaza trifft eine israelische Granate das Al-Basma-Zentrum, die größte Fertilitätsklinik in Gaza. Viertausend Embryonen werden vernichtet, die einzige Hoffnung für Hunderte von Palästinenser*innen, die sich danach sehnten, Eltern zu werden, Mutter zu werden. Denken Sie nicht nur an die Untersuchungen, die Spritzen, die Blutabnahmen, sondern auch an die triumphierenden Telefonanrufe, die Zahlen, die sich teilenden und teilenden und teilenden Zellen, all das Leben, das auf sich selbst beruht.
Welchen Anspruch habe ich auf ihre Trauer? Fragen Sie die Albträume. Fragen Sie den Spiegel, den ich aus den Angeln schlage, nachdem ich die Nachrichten gelesen habe.
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Sie dürfen nicht fühlen, was ich fühle. Einer der grundlegendsten Aspekte der Elternschaft ist es, die Gedankenwelt eines Kindes zu erweitern. Ich verbringe die meiste Zeit damit, meinem Kind zu erklären, dass auch andere Lebewesen Gefühle haben: der Hund, das Kind auf dem Spielplatz, sogar ich. Gefällt dir das? Nein? Glaubst du, dass es ihnen gefällt? Dieses sokratische Karussell ist schon mit einem Kind nervtötend genug. Mit atomar bewaffneten Erwachsenen ist es unerträglich.
Wesen – wie Kleinkinder – kommen mit allem durch, was man ihnen erlaubt. Vor allem stark militarisierte Wesen. Vor allem Wesen, die große Angst haben.
Eines Tages postet die Lieblings-YouTuberin meiner Tochter etwas über Gaza. Ms Rachel: eine Spezialistin für kindliche Entwicklung, eine Musikerin, eine Frau, deren Stimmlage und Tonfall ich im Schlaf nachahmen kann. Ms Rachel singt mit einem kleinen amputierten Kind aus Gaza über schläfrige Hasen. Ms Rachel zählt Zahlen und Namen auf. Ms Rachel postet ein Video, in dem sie weint und sagt: „Bitte, bitte, das muss aufhören.“ „Kinder haben mir diese Karriere ermöglicht, und ich bin bereit, sie für sie zu riskieren“, schreibt sie. Ms Rachel, Maskottchen für quengelige Babys und verzweifelte Eltern überall, sagt, dass Kinder nicht hungern sollten. Kinder sollten nicht ermordet werden. Kinder sollten ihre Gliedmaßen behalten. Wie zu erwarten war, wird sie beschuldigt, auf der Gehaltsliste der Hamas zu stehen, eine Stellvertreterin der Terroristen zu sein. Sie hat das Unverzeihliche getan: sie hat ein Kind als Kind bezeichnet.
Die Welt, die wir zulassen, ist die Welt, die wir bekommen. Die Welt, die wir für die Kinder anderer Menschen unsicher machen, ist letztendlich dieselbe, in der unsere eigenen Kinder leben. Die tiefgreifendste Propaganda ist, dass das, was anderen Kindern widerfährt, anders, weit entfernt und verdient ist. Es ist die bequeme, kurzlebige Fiktion der Privilegierten.
Ich gebe es zu: Ich möchte meine Tochter inmitten dieses Grauens nicht einmal erwähnen. Ich möchte sie nicht in solchen Geschichten haben. Ich möchte ihre Augen sogar in der Prosa schützen. Aber ich muss daran denken: Meine Tochter ist nicht mehr meine Tochter als die Tochter eines anderen.
Das Muttersein hat mich nicht hart gemacht oder zu einem Raubtier gemacht. Es hat mich gebrochen. Es lässt mich Kinder sehen, wo keine sind: Politiker*innen, Soldat*innen, Armeen. Manchmal, wenn ich die spottenden Soldaten und die auf den Bomben gemalte Herzen sehe, denke ich mit Wut und bitterem Mitleid: Wer hat euch beigebracht, wie man lebt? Wo ist eure Mutter?
Eine palästinensische Mutter ist nichts Besonderes. Sie liebt, fürchtet und wünscht sich dasselbe wie jede andere Mutter auch. Was sie außergewöhnlich macht, ist nicht ihre magische Ausdauer, sondern die Unerbittlichkeit der Schrecken, die ihr zugefügt werden. Sie sorgt sich über das Erträgliche hinaus, denn das ist die wesentliche Aufgabe einer Mutter: sich über das Vernünftige hinaus zu kümmern, sich zu verausgaben, bis man nicht mehr wiederzuerkennen ist.
Überall, wohin ich schaue, sehe ich Kinder.
Überall, wohin ich schaue, sehe ich Mütter. Professor*innen, die ihre Student*innen in Zeltlagern beschützen. Aktivist*innen, die Flottillen mit Babynahrung und Medikamenten besteigen.
„Ich sehe meine Kinder und jedes Kind in den Kindern von Gaza“, sagt Ms Rachel, jene Frau, die meiner Tochter Kinderlieder beibringt.
Später schreibt sie: „Ohne Ausnahme.“
Hala Alyan ist eine palästinensisch-amerikanische Schriftstellerin, Dichterin und klinische Psychologin. Ihre – sehr lesenswerten – Memoiren „I’ll Tell You When I’m Home“ wurden vor kurzem veröffentlicht.




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