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„Ich habe in einer Nacht in Gaza mehr Kinder operiert als in den USA in einem Jahr“

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  • 16. Apr.
  • 8 Min. Lesezeit

Der amerikanische Chirurg Feroze Sidhwa war schon in vielen Kriegsgebieten der Welt im Einsatz. Aber nichts hat ihn auf die Bombardierung seines Krankenhauses in Gaza durch Israel vorbereitet.


Von Michal Feldon, +972Mag in Kooperation mit Local Call, 9. April 2025


(Originalbeitrag in englischer Sprache)

 


Am Abend vom 23. März war Feroze Sidwha, ein Chirurg für Traumatologie und Intensivmedizin, der erst vor kurzem als freiwilliger Sanitäter aus Kalifornien nach Gaza gekommen war, auf dem Weg zur chirurgischen Abteilung des Nasser-Krankenhauses, als ein israelischer Luftangriff auf das Krankenhaus einschlug. Die israelische Armee erklärte, der Angriff habe Ismail Barhoum gegolten, einem hochrangigen Mitglied des politischen Büros der Hamas, der wegen seiner Wunden behandelt wurde, die er sich nur wenige Tage zuvor bei einem Luftangriff zugezogen hatte.


Der getötete Jugendliche, Ibrahim, war Ferozes Patient. „Ibrahim sollte heute nach Hause gehen“, sagte Feroze, als wir am Tag nach der Bombardierung miteinander sprachen. „Er hatte einige Verletzungen an seinem distalen Dickdarm, die wir repariert haben, aber sie waren ziemlich zerstörerisch, so dass wir ihm eine Schutzkolostomie verpasst haben. Er erholte sich auf der Station und war in guter Verfassung. Ich hätte nie erwartet, dass ein Patient in seinem Krankenhausbett getötet wird.“


„Wenn ich nicht auf die Intensivstation gerufen worden wäre, wäre ich wahrscheinlich neben Ibrahim getötet worden“, fuhr er fort. Zu der Behauptung, der Luftangriff habe einem Hamas-Führer gegolten, fügte er hinzu: „Einer der wertvollsten Bestandteile des humanitären Völkerrechts ist, dass eine verwundete Person, die nicht am Kampf teilnimmt und von einem Arzt behandelt wird, eine geschützte Person ist.“


Ich bin Feroze zum ersten Mal im Oktober letzten Jahres begegnet, als er und fast 100 andere amerikanische MedizinerInnen einen offenen Brief an den Präsidenten und die Vizepräsidentin der Vereinigten Staaten schickten, in dem sie schilderten, was sie während ihrer Zeit als Freiwillige in Krankenhäusern in Gaza gesehen hatten, und ein Ende des Krieges und der US-Waffenlieferungen an Israel forderten. Drei Wochen später gehörte ich zu einer Gruppe von über 100 israelischen MedizinerInnen, die in Solidarität mit diesen amerikanischen Ärzten einen weiteren offenen Brief an Präsident Biden und Vizepräsidentin Harris unterzeichneten. Seitdem haben Feroze und ich unsere Zusammenarbeit fortgesetzt.


Nach seiner Rückkehr von seinem ersten Freiwilligeneinsatz im European Hospital in Gaza im März/April 2024 kam Feroze kaum zum Luftholen. Wann immer ich versuchte, ihn zu erreichen – für ein Zoom-Gespräch oder um einen Vortrag auf der jüngsten Konferenz des israelischen medizinischen Personals gegen den Krieg zu halten – war er in Washington mit irgendeinem politischen Komitee beschäftigt, was er irgendwie zwischen unzähligen Interviews, Webinaren und Artikeln unterbringen konnte. Im März kehrte er für einen zweiten Freiwilligeneinsatz nach Gaza zurück.


Diesmal war Feroze mit einem Team von MedGlobal in der chirurgischen Abteilung des Nasser Medical Komplex in der südlichen Stadt Khan Younis zu Gast. Mit 450-500 Patientenbetten ist Nasser derzeit das größte funktionierende Krankenhaus im südlichen Gazastreifen. Das israelische Militär hat den Komplex seit dem 7. Oktober mehrmals angegriffen; nach einer einmonatigen Belagerung, die im Februar 2024 in der Verhaftung von 70 Mitarbeitern gipfelte, wurde das Krankenhaus für nicht funktionsfähig erklärt, konnte aber seither einen Teil seiner Kapazitäten wiederherstellen.


Trotz der unglaublich schwierigen Bedingungen seit dem Bruch des Waffenstillstands durch Israel im letzten Monat beschreibt Feroze seinen ersten Einsatz vor einem Jahr als noch härter als seinen letzten, der am 2. April endete. „Beim letzten Mal kamen wir im Europakrankenhaus an, als die Schlacht um Khan Younis gerade im Gange war; es gab keinen Moment ohne Bombardierung“, erklärt er. „Erst am 1. April [2024] – dem Tag der Morde in der World Central Kitchen [als israelische Drohnen einen Hilfskonvoi angriffen und sieben MitarbeiterInnen töteten] – hörten die Drohnen auf zu kreisen, und selbst dann nur für zwölf Stunden. Ich schätze, sie wollten [an diesem Tag] nicht noch mehr schlechte Presse haben.“


Anders als das European Hospital vor einem Jahr dient das Nasser-Krankenhaus derzeit nicht als Lager für Vertriebene. „Man konnte nicht arbeiten – Frauen schnitten Gemüse und leerten Suppe in der Spüle der Intensivstation; es war völlig wahnwitzig“, sagt Feroze. „Hier gibt es auch viel mehr Personal, und viel mehr Leute, die Englisch sprechen. Während ich beim letzten Mal nie mit einem anderen Chirurgen operiert habe, ist dieses Mal bei jeder Operation ein palästinensischer Chirurg dabei. Allerdings wurde das Krankenhaus beim letzten Mal nicht bombardiert, also ist das wohl etwas anderes.“


Feroze ist kein Unbekannter in Konflikt- und Katastrophengebieten, denn er war bereits als Freiwilliger in der Ukraine, Haiti und Simbabwe tätig. Aber die Situation in Gaza sei unvergleichlich, betont er. „Ich war seit der russischen Invasion dreimal in der Ukraine, die vor Gaza das Land mit den meisten Angriffen auf Gesundheitseinrichtungen war“, sagt er. „Zu keinem Zeitpunkt habe ich damit gerechnet, von den Russen in die Luft gesprengt zu werden. Es ist total verrückt.“

 

Ein ausgewiesener Bereich für das Sterben von Kindern


Auf den ersten Blick ist es schwer zu verstehen, was diesen Chirurgen dazu veranlasst hat, sich als Freiwilliger in den vom Krieg verwüsteten Gazastreifen zu begeben und sich dann so vehement gegen die israelischen Bombardierungen einzusetzen. Feroze hat keine persönliche Verbindung zu Palästina; seine Familie stammt ursprünglich aus Persien und Indien, und er gibt sogar zu, dass seine Eltern aufgrund ihrer eigenen Verfolgungsgeschichte einige islamfeindliche Gefühle hegten. Er kennt nur drei Wörter auf Hebräisch und zwei auf Arabisch – das wichtigste ist „khalas“, das er gewöhnlich benutzt, um jemandem mitzuteilen, dass ein Familienmitglied verstorben ist.


Dennoch kehrte er letzten Monat zu einem zweiten Besuch in den Gazastreifen zurück und nutzte die Gelegenheit eines Waffenstillstands, von dem ihm klar war, dass er nicht von Dauer sein würde.


Die Bombardierung des Krankenhauses war jedoch nicht das dramatischste Ereignis, das Feroze bei seinem letzten Besuch erlebte. Wenige Tage zuvor, am 18. März, verübte Israel das, was als „Ramadan-Massaker“ bekannt geworden ist, indem es während des Suhoor-Mahls rund 100 Orte gleichzeitig aus der Luft angriff. Mehr als 400 PalästinenserInnen wurden getötet, darunter 174 Kinder.


„Als die Bombardierung um zwei Uhr morgens begann, wurde die Tür zu unserem Wohnbereich aus den Angeln gerissen und schlug gegen den dahinterstehenden Schrank – das hat mich geweckt“, erinnert sich Feroze. „Ich glaube, wir haben in diesen sechs Stunden insgesamt 130 PatientInnen behandelt. Ich habe sofort sechs Operationen durchgeführt und drei weitere im Laufe des Tages. Die Hälfte davon betraf kleine Kinder, was für mich völlig ungewohnt ist. In dieser Nacht habe ich mehr pädiatrische Traumata behandelt als in einem ganzen Jahr in den Vereinigten Staaten.“


Zum Vergleich erinnerte Feroze an die Folgen der Bombenanschläge beim Boston-Marathon im Jahr 2013, als er als Assistenzarzt am Boston Medical Center tätig war. „An diesem Tag sahen alle großen Traumazentren in der ganzen Stadt Boston – mit einer Gesamtkapazität von etwa 4 000 Betten und über 100 fähigen ChirurgInnen – zusammen die Anzahl der PatientInnen, die wir in einer Nacht am 18. März im Nasser-Krankenhaus sahen“, erklärt er. „Nur 10 der Verletzten waren Kinder, während hier in Gaza ein Drittel bis die Hälfte der PatientInnen Kinder waren.“

„Es war also ein großes Massensterben, aber es war nicht einmal das Schlimmste, was die Menschen hier je erlebt haben“, fuhr er fort. „Die Chirurgen [im Nasser-Krankenhaus] erinnern sich an Tage, an denen die chirurgische Abteilung 100 Operationen an einem Tag durchführte. Das ist eine höhere Auslastung in diesem einen Krankenhaus als in jedem anderen Krankenhaus der Welt, nicht einmal in New York nach dem 11. September 2001 – und das über Monate hinweg, tagein, tagaus. Die medizinischen Teams vor Ort sind sehr erfahren, und sie haben [am 18. März] phänomenale Arbeit geleistet“, so Feroze weiter. „Es herrschte zwar immer noch ein großes Chaos, aber sie hielten den vorderen Teil des Krankenhauses frei und kümmerten sich um die PatientInnen.“


Feroze erläuterte, wie das medizinische Personal, wie bei Masseneinfällen auf der ganzen Welt üblich, die ankommenden PatientInnen in Farbkategorien einteilte: grün für „gehende Verwundete“, d. h. keine Lebensgefahr; gelb für mögliche Lebensgefahr, aber scheinbar stabil, so dass sie auf eine Untersuchung warten können; rot für eine sofortige Untersuchung – in der Regel aufgrund von Atemwegs-, Atmungs- oder Kreislaufproblemen; und schwarz für nicht mehr zu retten.


„Wenn jemand als schwarz gekennzeichnet ist, wird er direkt in die Leichenhalle gebracht“, sagt er. „Entweder sind sie enthauptet, haben starre und erweiterte Pupillen und keinen Herzschlag, oder sie wurden in Stücke gerissen oder ausgeweidet. Es ist kulturell unmöglich, Kinder hier mit einer schwarzen Markierung zu versehen und dem Krankenwagenfahrer zu sagen, er solle sie direkt in die Leichenhalle bringen. Deshalb gibt es einen ausgewiesenen Bereich, in dem die Kinder zusammen mit anderen sterbenden Kindern sterben, und wo ihre Familien bei ihnen bleiben und beten können.“


Als die ersten Opfer in den frühen Morgenstunden des 18. März eintrafen, wies Feroze einen Vater an, sein Kind in diesen Bereich zu bringen. „Sie hatte Atemprobleme und einen sehr schwachen Puls mit schweren Schrapnellverletzungen im Gehirn. Es gab hier keinen Neurochirurgen, und wir mussten dem Vater sagen: „Tut mir leid, sie wird nicht überleben“. Ich hob sie hoch und legte sie in seine Arme, und dann zeigte ich einfach auf ihn, weil ich es nicht auf Arabisch erklären konnte. Ich habe keine Ahnung, ob er wusste, dass seine Tochter sterben würde, aber es schien, als hätte er es verstanden.“

 

Dies ist kein israelischer Angriff auf Gaza, sondern ein amerikanisch-israelischer Angriff


Feroze ist sich darüber im Klaren, dass er mit seiner Entscheidung, als Freiwilliger in Gaza zu arbeiten, sein Leben aufs Spiel setzt. „Dies ist mit Abstand der gewalttätigste Ort, an dem ich je gewesen bin“, sagt er. „Es ist wahrscheinlich der gewalttätigste Ort der Welt in den letzten 60 Jahren.“


Das ist das erste, was er zu jedem Arzt sagt, der ihn kontaktiert, um mit ihm über einen möglichen Freiwilligendienst in Gaza zu sprechen. „Sie müssen verstehen, dass sie an einen Ort gehen, an dem die Israelis dich töten wollen, und sie werden damit durchkommen – und deine eigene Regierung wird absolut nichts dagegen unternehmen.“ (Am Tag vor unserem Gespräch hatte eine Angestellte der US-Botschaft in Israel Feroze angerufen, um sich nach ihm zu erkundigen, nachdem sie seinen Tweet über den Bombenanschlag im Krankenhaus gesehen hatte. „Können Sie den Israelis bitte sagen, sie sollen aufhören, das Nasser-Krankenhaus zu bombardieren“, sagte er ihr. „Wissen Sie, das ist eigentlich nicht unsere Aufgabe“, antwortete sie).

„Vielleicht ist es ein innerer Verteidigungsmechanismus, aber es ist nicht das Leiden, das mir am meisten zu schaffen macht, sondern die Tatsache, dass ich weiß, dass ich eine große moralische Verantwortung trage“, so Feroze weiter. „Dies ist kein israelischer Angriff auf Gaza – es ist ein amerikanisch-israelischer Angriff. Als ich einem kleinen Mädchen den Kiefer einrenkte und drei oder vier Minuten Zeit hatte, bis ihre Intubation vorbereitet war, dachte ich nur: 'Haben meine Steuergelder das Schrapnell im Gehirn dieses Mädchens verursacht, oder waren es die meines Nachbarn?'“


In manchen Momenten kämpft Feroze darum, einen Sinn in seiner Freiwilligenarbeit in Gaza zu finden. „Um die Wahrheit zu sagen, ich tue hier nicht viel Sinnvolles, außer Zeugnis abzulegen“, sagt er. „Ich sage das nur ungern, aber ich glaube, das Nützlichste, was ich hier getan habe, war, dass einer meiner Patienten getötet wurde und ich dann die Aufmerksamkeit auf die Tatsache lenken konnte, dass ein 16-jähriger Junge nicht in einem Krankenhaus in die Luft gesprengt werden sollte.“


Dennoch beschreibt Feroze das Heilen der Wunden palästinensischer Kinder als „Aufladen meiner moralischen Batterien“, und er vermutet, dass seine bloße Anwesenheit im Krankenhaus als Abschreckung gegen einen größeren israelischen Angriff dient, wenn auch nur begrenzt. „Es ist möglich, dass meine Anwesenheit [die Kinder] ein wenig schützt; wenn ich nicht hier wäre, hätte Israel vielleicht eine 2000-Pfund-Bombe eingesetzt. Sie sind in der Lage, das ganze Krankenhaus zu zerstören, aber wenn sie ein paar internationale MitarbeiterInnen töten, so würde das wirklich schlecht aussehen.“


„Es gibt Teile von dir, die du verlieren kannst, und Teile, die du nicht verlieren darfst“, fährt er fort. „Und ich bin nicht religiös, aber ich glaube, man darf seine Seele, seine Psyche, sein Gewissen nicht verlieren. Letzten Endes muss man in der Lage sein, sich selbst im Spiegel anzuschauen. Wenn man das nicht kann, ist das Leben einfach nicht lebenswert.“


Dr. Michal Feldon ist ein leitender Kinderarzt am Shamir Medical Center.




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