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ICP: Neue Daten zur Hungersnot in Gaza und vernichtende Kritik an Israels "humanitären" Plan

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„Wir stehen vor der größten ethnischen Säuberungsaktion seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs, um eine prächtige Urlaubsdestination zu schaffen, sobald alle Millionen Tonnen Schutt aus dem Gazastreifen geräumt sind und die Palästinenser*innen gestorben oder geflohen sind. (…) Auf Gaza wurde mittlerweile dreimal so viel Sprengstoff abgeworfen wie bei der Hiroshima-Bombe und seit Monaten kommt nichts mehr nach Gaza. Nichts: kein Wasser, keine Lebensmittel, kein Strom, kein Treibstoff, keine medizinische Versorgung. Das haben die Minister von [Benjamin] Netanjahu angekündigt, und das haben sie auch durchgeführt. Wir alle wissen, was dort vor sich geht, und wir alle haben die von Netanyahus Ministern erklärten Ziele gehört, die klare Erklärungen von genozidalen Absichten sind. Selten habe ich einen Staatschef gehört, der so klar einen Plan skizziert, der der rechtlichen Definition von Völkermord entspricht. Europa hat die Fähigkeit und die Mittel, nicht nur gegen das, was vor sich geht, zu protestieren, sondern auch das Verhalten [Israels] zu beeinflussen. Aber es tut dies nicht. Wir liefern die Hälfte der Bomben, die auf Gaza fallen. Wenn wir wirklich glauben, dass zu viele Menschen sterben, dann wäre die natürliche Reaktion, weniger Waffen zu liefern und den Hebel des Assoziierungsabkommens zu nutzen, um die Einhaltung des humanitären Völkerrechts zu fordern, anstatt nur zu beklagen, dass dies nicht geschieht.“

Josep Borrell, ehemaliger Leiter der EU-Außenpolitik und Präsident des EU-Parlaments, in seiner Rede anlässlich der Verleihung des Charles V European Award, 9. Mai 2025

 

 

„Hungertod bedeutet Nahrungsentzug bis zum Tod und kommt selbst bei Hungersnöten sehr selten vor, denn die unmittelbare Todesursache ist meist eine Infektionskrankheit. Es dauert etwa zwei Monate, bis ein ehemals gesunder erwachsener Mensch allein durch Nahrungsentzug stirbt, während dieser Zeit stellen Körper und Geist langsam ihre Funktionen ein. (...) Infektionskrankheiten sind die häufigste unmittelbare Todesursache bei Hungersnöten. Zwangsmigration, Überbevölkerung und der Zusammenbruch der Wasser- und Abwassersysteme schaffen Bedingungen, die den Ausbruch von normalerweise vermeidbaren Krankheiten wie Cholera, Malaria und Masern begünstigen. Die Anfälligkeit wird durch Unterernährung, extreme Temperaturen, unzureichende Pflege von Kindern und andere Belastungen noch erhöht. (…)

Über alle rechtlichen Kategorien hinweg weist das Verbrechen des Aushungerns drei notwendige Elemente auf: (i) ein Hinweis auf den Vorsatz; (ii) die Zerstörung der Mittel für die Erzeugung, Verarbeitung und Verteilung von Nahrungsmitteln und Wasser sowie anderer lebensnotwendiger Gegenstände; die Vertreibung von Menschen von lebensnotwendigen Ressourcen oder die Behinderung des humanitären Zugangs zu gefährdeten Bevölkerungsgruppen; und (iii) ein Ergebnis, das Leiden und eine erhöhte Sterblichkeitsrate beinhaltet, die mit dem Entzug von Nahrungsmitteln und/oder anderen lebensnotwendigen Gegenständen und Aktivitäten (einschließlich Gesundheit und Unterkunft) einhergeht. (…)

Genau wie bei der Tötung als Akt des Völkermords muss das Aushungern von Menschen nicht zum tatsächlichen Tod einer ganzen Bevölkerung durch Verhungern führen. Damit das Aushungern als Völkermord gilt, muss dem Täter die Absicht nachgewiesen werden, einen erheblichen Teil der Bevölkerung vernichten zu wollen.“

“The Purposes of Starvation: Historical and Contemporary Uses”, von Bridget Conley und Alex de Waal, Journal of International Criminal Justice, 3. Februar 2020

 

 

„Das Einzige, was im Moment in den Gazastreifen gelangt, sind Bomben.“

UNICEF-Sprecher James Elder, 9. Mai 2025

 

 

 

„Im Norden Gazas war Anfang März jedes dritte Kind unter zwei Jahren von akuter Unterernährung betroffen.

Jetzt ist Mai.“

Statement von Medico International, 12. Mai 2025

 

 

 

„Es ist absolut inakzeptabel. Und doch scheinen wir es zu akzeptieren. Gestern sah man Menschen, die für das wenige Essen, das es noch gab, Schlange standen, und es waren Kinder, die schrien und mit diesen kleinen Töpfen schier übereinander kletterten, um zu versuchen, etwas zu essen zu bekommen. Ich habe das Gefühl, dass die internationale Weltordnung gewissermaßen aufgegeben hat.“

Alastair Campbell, Schriftsteller und ehemaliger Sprecher von Tony Blair, in einem Interview mit Sky News, 9. Mai 2025




Am 12. Mai 2025 veröffentlichte die Integrated Food Security Phase Classification („Integrierte Klassifizierung der Ernährungssicherheitsphasen“, kurz IPC) neue Daten zur Hungersnot in Gaza.

Die fünfstufige IPC-Skala ist ein Instrument zur Einstufung der Ernährungssicherheit, des Ausmaßes von Unterernährung und Hunger, sowie zur Ableitung notwendiger Hilfsmaßnahmen und zur Verbesserung der Entscheidungsfindung bzw. Triage von Hilfskräften. Es handelt sich dabei um eine standardisierte Skala, die Informationen über Ernährungssicherheit, Ernährung und sonstige Lebensgrundlagen in eine Aussage über die Art und Schwere einer Krise und die beste strategische Antwort auf diese integriert.


Die fünf Stufen lauten:

Stufe 1:          Generell ernährungssicher (Mehr als 80 Prozent der Haushalte können ihren Grundbedarf an sicheren und nahrhaften Nahrungsmitteln ohne atypische Bewältigungsstrategien decken. Weniger als 5 Prozent der Bevölkerung sind unterernährt und die Menschen verfügen über ein stabiles Einkommen sowie über eine gleichbleibende Menge und Qualität an Nahrungsmitteln (mehr als 2.100 kcal pro Tag)).

Stufe 2:          Grenzwertig unsichere Ernährung (Für mindestens 20 Prozent der Haushalte ist der Lebensmittelkonsum zwar reduziert, aber geradeso ausreichend, ohne dass sie sich auf irreversible Bewältigungsstrategien einlassen müssen. Diese Haushalte können ihre Grundbedürfnisse nicht vollständig befriedigen.)

Stufe 3:          Akute Nahrungsmittel- und Lebensunterhaltskrise (Mindestens 20 Prozent der Haushalte weisen erhebliche Nahrungsmittellücken auf ODER sind nur knapp in der Lage, den Mindestnahrungsbedarf mit irreversiblen Bewältigungsstrategien wie der Auflösung von Vermögenswerten zu decken. Das Ausmaß der akuten Unterernährung ist hoch und liegt mit 10–15 Prozent der Bevölkerung über dem Normalwert).

Stufe 4:          Humanitärer Notfall (Mindestens 20 Prozent der Haushalte sind mit extremen Nahrungsmittellücken konfrontiert, was zu einem sehr hohen Maß an akuter Unterernährung und überhöhter Sterblichkeit führt; ODER die Haushalte sind mit einem extremen Verlust an Existenzmitteln konfrontiert, der wahrscheinlich zu Nahrungsmittellücken führen wird.)

Stufe 5:          Hungersnot/Humanitäre Katastrophe (Mindestens 20 Prozent der Haushalte sind mit einem völligen Mangel an Nahrungsmitteln und/oder anderen Grundbedürfnissen konfrontiert, und Hunger, Tod und Elend sind offensichtlich; die Prävalenz der akuten Unterernährung liegt bei über 30 Prozent, und die Sterblichkeitsrate übersteigt zwei Todesfälle pro 10.000 Personen (0,2 ‰) pro Tag.)

 



Laut IPC-Skala wird vom 11. Mai bis Ende September 2025 das gesamte Gebiet als Humanitärer Notfall (IPC-Phase 4) eingestuft, wobei die gesamte Bevölkerung mit einer Nahrungsmittelkrise oder noch schlimmerer akuter Ernährungsunsicherheit (IPC-Phase 3 oder höher) konfrontiert ist. Davon befinden sich 470.000 Menschen (22 % der Bevölkerung) bereits in einer Hungersnot (IPC-Phase 5), über eine Million Menschen (54 %) in einem Humanitären Notfall (IPC-Phase 4) und die verbleibende halbe Million (24 %) in einer Krise (IPC-Phase 3).

Es wird erwartet, dass zwischen April 2025 und März 2026 fast 71 000 Fälle von akuter Unterernährung bei Kindern im Alter von 6 bis 59 Monaten auftreten, darunter 14 100 schwere Fälle. Fast 17 000 schwangere und stillende Frauen werden wegen akuter Unterernährung behandelt werden müssen.


„Der Bericht zeigt, dass sich die Lage im Gazastreifen in den letzten Monaten dramatisch verschlechtert hat“, so Beth Bechdol, stellvertretende Direktorin der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) gegenüber Reuters. „Seit dem 2. März hat die umfassende Blockade ... die Lieferung von lebenswichtigen humanitären und sogar kommerziellen Gütern absolut verhindert. Wir können mit Sicherheit davon ausgehen, dass die Zahlen, die wir in diesem Bericht sehen, nur weiter eskalieren werden“, so Bechdol. Der Bericht zeige, dass „eine sehr große Zahl von Menschen jetzt vom Hungertod bedroht ist.“

 

UNICEF: Israels Plan, die Hilfslieferungen zu übernehmen, wird Familien im Gazastreifen vor die Wahl zwischen Vertreibung und Tod stellen


Die IPC geht bereits davon aus, dass die israelische Regierung ihre Ankündigung, die Lieferung von Hilfsmitteln zukünftig selbst in die Hand nehmen zu wollen, umsetzen wird und kritisiert diesen scharf:

„Die Verfügbarkeit von lebenswichtigen Gütern wird weiterhin äußerst begrenzt sein. Es wird erwartet, dass eine kleine Anzahl von Logistikzentren in den südlichen Gouvernements eingerichtet wird und in den nächsten zwei Monaten auf die zentralen und nördlichen Gouvernements ausgeweitet wird, nachdem ein Pilotprojekt in Rafah durchgeführt wurde. Angesichts der voraussichtlich begrenzten Anzahl von Logistikzentren, der angekündigten Liefermengen und der mitgeteilten Modalitäten wird davon ausgegangen, dass große Teile der Bevölkerung keinen Zugang zu lebenswichtigen Gütern haben werden. Es wird nicht erwartet, dass die kommerziellen Lieferungen, die eine wichtige Quelle für die Versorgung mit Gütern waren, wieder aufgenommen werden.

Der Zugang zu überlebenswichtigen Gütern wie Lebensmitteln, Wasser und Medikamenten wird sich drastisch verringern. Dies wird mit der begrenzten geografischen Abdeckung des angekündigten Plans und der erheblichen Verringerung der Verteilungsstellen von den 400, die zuvor von den humanitären Akteuren im gesamten Gazastreifen genutzt wurden, einhergehen.“


Der israelische Plan für die Verteilung von Hilfsgütern, der den humanitären Organisationen der Vereinten Nationen vorgelegt wurde, sieht vor, dass täglich nur 60 Lastwagen mit Hilfsgütern in den Gazastreifen gelangen - ein Zehntel dessen, was während des Waffenstillstands zwischen Israel und der Hamas vom 19. Januar bis zum 18. März geliefert wurde. Die Vereinten Nationen schätzen, dass Gaza mindestens zwischen 500 und 600 Lastwagen mit Hilfsgütern pro Tag benötigen würden, nicht zu vergessen, dass Nahrungsmittel auch nur ein Teil dessen ist, was Hilfe ausmacht. „Niemand hat eine Vorstellung davon, wie der Treibstoff verteilt, wie die Bevölkerung mit sauberem Wasser versorgt, wie Krankenhäuser und Kliniken versorgt oder wie die Unterernährung bekämpft werden soll“, schreibt die ehemalige CNN-Korrespondentin und jetzige Leiterin einer Hilfsorganisation, Arwa Damon. „Ebenso unklar ist, wie die Bildung gewährleistet werden soll, wer für den Schutz und die psychische Betreuung sorgt, wer die Abwassersysteme und die dazugehörigen Pumpen wartet und so weiter und so fort.“


Die Vereinten Nationen und die meisten Hilfsorganisationen, die seit Beginn des Krieges die Hilfsmaßnahmen im Gazastreifen leiten, lehnen Israels Pläne ab, da die von Israel bekannt gegebenen Einzelheiten gegen humanitäre Grundsätze verstoßen.


Der Sprecher des UN-Kinderhilfswerks (UNICEF), James Elder, sagte am 9. Mai 2025 vor Journalist*innen in Genf, der israelische Vorschlag, eine Handvoll Hilfszentren ausschließlich im Süden des Streifens einzurichten, würde eine „unmögliche Wahl zwischen Vertreibung und Tod“ bedeuten. „60 Lastwagen sind nicht annähernd genug, um die Bedürfnisse von 1,1 Millionen Kindern und 2,1 Millionen Menschen zu decken. Es gibt eine einfache Alternative: die Blockade aufheben, humanitäre Hilfe hereinlassen und Leben retten.“


Israels Plan, die Kontrolle über die Hilfslieferungen im Gazastreifen zu übernehmen, birgt die Gefahr, dass das Leiden von Familien, die durch 18 Monate Krieg bereits erschöpft sind, noch vergrößert wird, indem ihr Leben in Gefahr gebracht und weitere Vertreibungen provoziert werden. Der Plan verstoße gegen die grundlegenden humanitären Prinzipien „und scheine darauf ausgerichtet zu sein, die Kontrolle über lebenswichtige Güter als Druckmittel zu verstärken“, so Elder. „Es ist gefährlich, Zivilist*innen aufzufordern, sich in militarisierte Zonen zu begeben, um Nahrungsmittelrationen zu holen... Humanitäre Hilfe sollte niemals als Druckmittel eingesetzt werden.“ Noch mehr Familienmitglieder würden getrennt werden, „während sie hin- und herlaufen, um zu versuchen, Hilfe zu bekommen“, und das in einem Gebiet, das angesichts der anhaltenden Bombardierungen „keine Sicherheit bietet“.


Wie Medico International berichtet, sieht der angekündigte „humanitäre" Plan die Auslagerung der Hilfe an eine private US-amerikanische Sicherheitsfirma vor. Um Hilfsgüter zu erhalten, soll ein Screening durch Israel erfolgen. Angesichts regelmäßiger völkerrechtswidriger Verschleppungen in Militärbasen und Gefängnisse haben Palästinenser*innen Furcht davor, das Screening zu durchlaufen.


Darüber hinaus werden die schwächsten Menschen im Gazastreifen – ältere Menschen, Kinder mit Behinderungen, Kranke und Verwundete, die nicht in die ausgewiesenen Verteilungszonen reisen können – vor „schrecklichen Herausforderungen“ stehen, um Zugang zu den Hilfsgütern zu erhalten, wie auch UNICEF Sprecher James Elder betonte.

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Informationen entnommen aus:

The Gaza Strip is still confronted with a critical risk of Famine amid ongoing conflict, aid blockade

IPC, 12. Mai 2025

UNICEF - Press Briefing: Situation in Gaza

9. Mai 2025

Gaza population faces critical risk of famine, global hunger monitor says

Reuters, 12. Mai 2025

UN agencies warn Israel plans for aid distribution endanger lives in Gaza

Von Jamey Keaten und Sarah El Deeb, The Independent, 9. Mai 2025

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