„Die ersten sieben Tage des Jahres 2025 in Gaza? 74 Kinder wurden getötet. 74 Kinder. Von diesen Kindern wurden viele bei nächtlichen Angriffen getötet. Nachts in Gaza, wo auch die winterlichen Temperaturen nun für Kinder eine große Gefahr darstellen. Unterkühlung ist eine weitere große Bedrohung für kleine Kinder. In den letzten zwei Wochen sind acht Neugeborene und Kleinkinder in Gaza erfroren. Wenn es in dieser Welt so etwas wie Anstand geben würde, würde das jede Schlagzeile beherrschen und jeden führenden Politiker der Welt zum Handeln bewegen.“
James Elder, UNICEF-Sprecher, 8.01.2025
„Ich hob Aisha hoch, und sie war wie ein Eisblock, kalt, steif und blau, und ihre Augen waren offen. Ich hielt sie in völligem Schock. Sie hat nicht mehr geatmet.“
Adanan Al-Qassas, dessen 23 Tage altes Baby im Zelt erfroren ist (aufgezeichnet von B’Tselem)
In kurzer Zeit sind mindestens acht Neugeborene in Gaza aufgrund der kalten Temperaturen gestorben. 15 Monate unerbittlicher Bombardierung durch die israelische Armee, Verweigerung humanitärer Hilfe, Zwangsvertreibung von ZivilistInnen und die fast vollständige Zerstörung der Gesundheitseinrichtungen in Gaza bedeuten heute zutiefst lebensbedrohliche Umstände für Babys und Kleinkinder.
Die normale Körpertemperatur liegt bei 37 °C; unter Unterkühlung versteht man einen gefährlichen Abfall der Körpertemperatur unter 35°C. Dabei handelt sich um einen medizinischen Notfall, der sofort in einem Krankenhaus behandelt werden müsste.
Laut John Kahler, Kinderarzt und Mitbegründer der Gesundheitsorganisation MedGlobal mit Sitz in den USA, sind Säuglinge bei kaltem Wetter besonders anfällig für gesundheitliche Komplikationen. Sie haben weniger Fett zur Isolierung und eine große Körperoberfläche im Verhältnis zu ihrem Gewicht, was den Wärmeverlust erhöht. Sie haben noch nicht die Fähigkeit entwickelt, durch Zittern Wärme zu erzeugen. Der Kontakt mit kalten Oberflächen, ein längerer Aufenthalt in kalter Umgebung und Feuchtigkeit durch nasse Kleidung erhöhen die Anfälligkeit von Neugeborenen für Unterkühlung, die zu Stoffwechselversagen, Organschäden und Tod führen kann.
Kinder sind generell weniger in der Lage, ihre Körpertemperatur zu regulieren als Erwachsene, so dass der Wärmeverlust schneller eintritt. Eine längere Exposition gegenüber kalten Temperaturen schwächt das Immunsystem von Kindern erheblich. Da die Kinder in Gaza ohnehin dem hohen Risiko von Unterernährung und Krankheiten wie Durchfall und Lungenentzündung ausgesetzt sind, können die sehr kalten Temperaturen – gemeinsam mit fehlender medizinischer Versorgung – eine tödliche Kombination darstellen.
Seit Monaten haben zahlreiche Hilfsorganisationen immer wieder davor gewarnt, dass Teile des Gazastreifens im Winter überschwemmt werden könnten und dass erhebliche Mengen an Unterkünften, Ausrüstungen für die Flutbekämpfung, Decken und warme Kleidung benötigt werden, um eine Katastrophe für die öffentliche Gesundheit abzuwenden. Doch die anhaltenden israelischen Restriktionen für Hilfskonvois und die Plünderung von Hilfslieferungen (vor den Augen der israelischen Armee, die dies nicht verhindert) haben dazu geführt, dass Hunderttausende von Hilfsbedürftigen vor dem Temperatursturz im letzten Monat nicht mehr mit lebenswichtigen Gütern versorgt werden konnten, berichten Hilfsorganisationen und ÄrztInnen. Anhaltende israelische Bombardierungen, Bewegungseinschränkungen und schlicht auch zu wenig Platz für zu viele Menschen zwingen viele der Vertriebenen, an der Küste zu bleiben – wo es jedoch fast täglich zu Überflutungen kommt.
Familien wurden durch wiederholte Vertreibung durch die israelische Armee in immer kleinere Gebiete gezwungen, oft an Orte, die eigentlich ungeeignet für menschliches Leben sind. Jetzt, wo es in Gaza Winter ist, sind die Kinder der Kälte und Nässe ausgesetzt und leben in Zelten, weit weg von der Wärme ihrer Häuser. Es fehlt massiv an Winterkleidung, Kinder besitzen oft nicht einmal mehr ein paar (Winter-)Schuhe, sondern laufen – auch bei kalten Temperaturen – barfuß. Wie Ärzte ohne Grenzen berichtet, strömen immer mehr Kinder mit Infektionen der oberen Atemwege, die durch die Kälte ausgelöst werden, in das Feldkrankenhaus von Ärzte ohne Grenzen; das Nasser-Krankenhaus erhält jeden Tag fünf bis zehn Fälle von Kindern mit Symptomen von Unterkühlung, berichtet der dortige Kinderarzt Faraa.
Auch die UNO berichtet, dass Kinder sterben, weil sie nicht vor den kalten Wintertemperaturen geschützt werden können, während die israelischen Behörden die Einfuhr von Hilfsgütern wie Zelten, Kleidung und Bettdecken in den Gazastreifen verweigern. Es werden kaum Materialien für neue Zeltunterkünfte, Lebensmittel und medizinische Hilfsgüter in den Gazastreifen gelassen. Nach Angaben des Norwegischen Flüchtlingsrats, der die Koordinierung der Hilfsorganisationen leitet, konnten humanitäre Organisationen in diesem Herbst nur 23 Prozent des Bedarfs an Unterkünften in Gaza decken. Mehr als 900.000 Menschen benötigen Hilfe bei der Unterbringung, so die Organisation in einer Pressemitteilung vom letzten Monat. Nach Angaben von Oxfam International leben eine halbe Million vertriebene Menschen in überschwemmungsgefährdeten Gebieten.
84 Prozent der Gesundheitseinrichtungen in Gaza wurden von der israelischen Armee beschädigt oder zerstört. Da es an Strom, Wasser und Treibstoff für die Generatoren für den Betrieb der verbleibenden Einrichtungen mangelt, hat die Bevölkerung kaum noch Zugang zu medizinischer Versorgung, Medikamenten, geschweige denn zu lebensrettenden Behandlungen.
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Informationen entnommen aus:
Statement by UNICEF Regional Director for the Middle East and North Africa Edouard Beigbeder on continued deaths of children in Gaza (26.12.2024)
Gaza didn’t get enough winter shelters. Now babies are dying in the cold.
At least seven infants have died from the cold in recent weeks, the Gaza Health Ministry says, as displaced families struggle to find refuge from the elements.
Von Claire Parker, Hajar Harb and Heba Farouk Mahfouz; The Washington Post, 6.01.2025
Gaza: Heavy rains flood camps raising risk of disease for 235,000 children
Save the Children, 29.11.2024
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