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In Gazas zerstörten Krankenhäusern droht behandelbaren PatientInnen ein „langsamer, stiller Tod“

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  • 11. Apr.
  • 11 Min. Lesezeit

Sie verbluten an leichten Schrapnellwunden. Sie sterben an Krankheiten, für deren Behandlung die ÄrztInnen keine Zeit haben. Sie erblinden, während sie auf eine medizinische Evakuierung ins Ausland warten. Sie sind die zahlreichen Opfer von Israels Krieg gegen das Gesundheitssystem in Gaza.


Von Mahmoud Mushtaha, +972Mag, 3. April 2025


(Originalbeitrag in englischer Sprache)

 

In den letzten Tagen sind Einzelheiten über ein besonders grausames israelisches Massaker an palästinensischen medizinischen Teams im südlichen Gazastreifen bekannt geworden. Am 23. März wurde ein Team von Mitarbeitern des Roten Halbmonds und des Zivilschutzes zu einem Rettungseinsatz geschickt, um Kollegen zu retten, die zuvor im Gouvernement Rafah angegriffen worden waren. Irgendwann brach der Kontakt zu dem Team ab, und man ging davon aus, dass sie tot waren.

Doch erst Tage später, als sich gemeinsame Teams des UN-Büros für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten (OCHA), des Roten Halbmonds und des Zivilschutzes Zugang zum Fundort verschafften und ihn exhumierten, kam das ganze Grauen zum Vorschein: mit Kabelbindern gefesselte Hände und Füße, Zeichen einer Hinrichtung aus nächster Nähe und bis zur Unkenntlichkeit verstümmelte Leichen. Es handelte sich nicht um Opfer des Kreuzfeuers. Die israelischen Streitkräfte hatten sie kaltblütig hingerichtet und anschließend mit einem Bulldozer die zerquetschten Fahrzeuge über den Leichen vergraben.

„Wir graben sie in ihren Uniformen aus, sie tragen noch ihre Handschuhe“, so Jonathan Whittall von UNOCHA in einer Erklärung, nachdem das Massengrab in Tel Al-Sultan entdeckt worden war. „Einem von ihnen wurde die Kleidung entfernt, ein anderer wurde enthauptet“, erklärte Mahmoud Basal, ein Sprecher des Zivilschutzes.

Nach Angaben des Gaza Media Office hat die israelische Armee seit dem 7. Oktober 1 402 medizinische MitarbeiterInnen getötet und damit eine der tödlichsten Kampagnen gegen medizinisches Personal in der neueren Geschichte gestartet. Die Angriffe auf medizinisches Personal sind Teil eines umfassenderen Angriffs auf die Infrastruktur des Gesundheitswesens in Gaza: 34 Krankenhäuser wurden zerstört und außer Betrieb gesetzt, ebenso wie 240 Gesundheitszentren und -einrichtungen und 142 Krankenwagen, die ebenfalls angegriffen wurden. Der Gesamtschaden am Gesundheitssektor wird auf über 3 Milliarden Dollar geschätzt; die medizinische Versorgung ist völlig unfähig, die dringenden Bedürfnisse der unter Belagerung und Bombardierung gefangenen Bevölkerung zu stillen.

Im Laufe des Krieges haben die israelischen Streitkräfte auch zahlreiche medizinische Einrichtungen überfallen und in militärische Außenposten umgewandelt, wie eine kürzlich von Human Rights Watch durchgeführte Untersuchung zeigt. Große Krankenhäuser wie Al-Shifa und Nasser wurden nicht nur gestürmt, sondern auch besetzt, was PatientInnen und Personal gefährdete und zum Tod von PatientInnen führte, die gewaltsam weggebracht oder ohne Behandlung zurückgelassen wurden.

Diese Maßnahmen in Verbindung mit der allgemeinen Blockade und dem Entzug lebenswichtiger Hilfsgüter spiegeln eine gezielte Strategie zur Zerschlagung des Gesundheitssystems im Gazastreifen wider – eine Taktik, die auf Verbrechen gegen die Menschlichkeit, einschließlich Ausrottung und Völkermord, hinausläuft.

Während des jüngsten Waffenstillstands standen die medizinischen Einrichtungen im Gazastreifen am Rande des Abgrunds, da sie durch die anhaltenden israelischen Angriffe seit 15 Monaten schwer zerstört waren. Mit der Wiederaufnahme der israelischen Militärkampagne und der vollständigen Blockade des Gazastreifens haben die palästinensischen Krankenhäuser im Gazastreifen nun erklärt, dass das zerstörte Gesundheitssystem nun in einen Zustand des „klinischen Todes“ eingetreten ist.

Dr. Mohammed Zaqout, Generaldirektor der Feldlazarette im Gesundheitsministerium, warnte, dass Israels anhaltender Krieg die ohnehin schon „unerträgliche humanitäre Krise“ noch verschlimmert. Er betonte, dass die fortgesetzte Schließung der Grenzübergänge durch die israelischen Streitkräfte die Einfuhr von dringend benötigten Medikamenten, medizinischer Ausrüstung und Treibstoff verhindert.

Die Szenen in den Krankenhäusern des Gazastreifens erinnern nicht mehr an medizinische Einrichtungen.

Die PatientInnen liegen auf dem blutverschmierten Boden verstreut, ihre Wunden bleiben unbehandelt. Einige schnappen nach Luft, weil ihnen der Sauerstoff ausgeht; andere liegen schweigend da und warten auf Hilfe, die nie kommen wird. Es ist ein Gesundheitssystem, das nicht nur belagert, sondern bewusst zerstört wird.

„Unsere Krankenhäuser sind überlastet, und uns geht alles aus“, sagte Zaqout. „Wir sprechen nicht nur von einem Mangel, sondern von einem völligen Fehlen“.

 

Wir benutzen unsere bloßen Hände und Taschenlampen – es ist mittelalterlich.

Was einst als lebenswichtiges Netz von Krankenhäusern, Kliniken und Überweisungsstellen im Gazastreifen diente, ist zu einer zerstörten Landschaft aus Feldlagern, überfüllten Unterkünften und behelfsmäßigen Krankenstationen verkommen. Diese sind oft ohne Strom, sauberes Wasser oder medizinische Grundversorgung. Die verbliebenen ÄrztInnen, die unter Belagerung stehen und genauso wie ihre PatientInnen ins Visier genommen werden, arbeiten weit über ihre menschliche Kapazität hinaus und haben kaum mehr als Verbandszeug und Entschlossenheit zur Verfügung.

Dennoch tun die medizinischen Teams weiterhin alles, was in ihrer Macht steht, um ihren PatientInnen zu helfen. „Wir haben nicht den Luxus, uns auszuruhen“, sagte Dr. Ahmed Khalil (ein Pseudonym), ein Arzt, der die letzten 540 Tage damit verbracht hat, zwischen zerbombten Krankenhäusern zu pendeln, gegenüber +972. „Wir behandeln die PatientInnen auf dem Boden, ohne Strom und ohne Anästhesie. Wir benutzen unsere bloßen Hände und Taschenlampen – es ist mittelalterlich.“

Im März 2024 umstellten und belagerten die israelischen Streitkräfte das Al-Shifa-Krankenhaus in Gaza-Stadt – die größte medizinische Einrichtung der Enklave – zum zweiten Mal und schnitten den Zugang zu Lebensmitteln, Treibstoff und medizinischen Gütern ab. Tagelang war Khalil dort gefangen und musste mit ansehen, wie sich das Krankenhaus von einem belebten Pflegezentrum in ein militärisches Ziel verwandelte. „Wir waren von Panzern umgeben, Drohnen schwirrten über uns, wir hatten keinen Strom und keine Lebensmittel. Wir arbeiteten mit dem Licht von Handys“, erinnert er sich.

„Als die Sauerstoffgeräte auszufallen begannen und die Herzmonitore aufhörten zu arbeiten, da wusste ich, dass wir uns nicht mehr in einem Krankenhaus befanden“, sagt Amna, eine 32-jährige Krankenschwester, die seit rund zehn Jahren in Al-Shifa arbeitet, gegenüber +972. „Wir befanden uns in einem sich anbahnenden Massengrab.“

Amna hatte schon frühere Kriege und Belagerungen miterlebt, aber was in jenem Monat geschah, war anders als alles andere, berichtet sie. „Es waren zu viele von ihnen“, erinnert sie sich. „Wir mussten unmögliche Entscheidungen treffen – wen wir zuerst behandeln, wen wir versuchen konnten zu retten, und wen wir gehen lassen mussten. Viele starben nicht, weil ihre Verletzungen zu schwer waren, sondern weil es keine Maschinen, keinen Platz und keine Hände mehr gab, die helfen konnten.“

Als die israelischen Streitkräfte in Al-Shifa einmarschierten, musste Dr. Khalil – zusammen mit PatientInnen, Personal und vertriebenen ZivilistInnen – unter Beschuss fliehen. Sein Weg nach Süden führte durch zerstörte Stadtteile und überfüllte Unterkünfte, bis er das Nasser-Krankenhaus in Khan Younis erreichte, eines der letzten noch halbwegs funktionierenden medizinischen Zentren in Gaza. Aber selbst dort waren die Bedingungen alptraumhaft.

„Die Leute verbluteten auf den Fluren“, sagt er. „Es gab kein Morphium. Keine Antibiotika. Manchmal nicht einmal Verbandsmaterial.“ Die medizinischen Teams waren nicht in der Lage, viele Verletzte zu retten, die auf die Aufnahme in die Intensivstationen warteten. „Ich habe gesehen, wie PatientInnen – Kinder und ältere Menschen – starben, während sie in der Schlange auf Hilfe warteten, die nie kam.“

Eine Erinnerung verfolgt Dr. Khalil noch immer: ein junger Mann um die 20 mit Schrapnellwunden im Unterleib, der von Verwandten auf einem Stück Sperrholz hereingetragen wurde. „Wir hatten keine Bildgebung, keinen Operationssaal, keine Schmerzmittel. Er starb innerhalb einer Stunde – nicht, weil wir nicht wussten, wie wir ihn retten sollten, sondern weil wir nichts hatten, womit wir ihn retten konnten.“

Die Bedingungen, die Dr. Khalil und seine KollegInnen ertragen mussten, wären unter anderen Umständen unvorstellbar gewesen. „Wir haben nach 48 Stunden ohne Schlaf operiert“, sagte er. „Wir haben nicht gegessen – es gibt nichts zu essen. Manchmal arbeiten wir ganze Schichten ohne einen Tropfen sauberes Wasser. Wir arbeiten, während unsere eigenen Familien vertrieben oder begraben sind. Manchmal behandeln wir PatientInnen, obwohl wir wissen, dass es keine Chance gibt, aber wir versuchen es trotzdem. Weil wir es müssen.“

In der Nähe fallen Bomben, während Operationen durchgeführt werden; das Surren von Drohnen und die Schreie der Verwundeten hallen durch die dunklen Gänge. „Wir behandeln nicht nur Traumata – wir leben sie“, fügt Dr. Khalil hinzu. „Wir sind Verwundete, die Verwundete behandeln. Aber wir weigern uns, unsere Leute alleine sterben zu lassen.“

 

„Niemand hatte Zeit für jemanden, der nicht blutete“

Nach Angaben des Gesundheitsministeriums in Gaza sind seit dem 7. Oktober mehr als 50.000 PalästinenserInnen getötet worden. Diese Zahlen geben jedoch nicht das ganze Ausmaß wieder: Viele weitere Todesfälle hätten verhindert werden können, wenn das Gesundheitssystem des Gazastreifens nicht Stück für Stück demontiert worden wäre.

Am 2. März 2025 starb Haithm Hasan Hajaj, ein 41-jähriger Bauingenieur und dreifacher Familienvater, im nördlichen Gazastreifen, nachdem er monatelang an einer behandelbaren Krankheit gelitten hatte – einer von vielen stillen Todesfällen in einem zerstörten Gesundheitssystem, in dem medizinische Bedürfnisse zu unmöglichen Aufgaben werden.

Seine Frau Mona kann es immer noch nicht akzeptieren. „Er wurde nicht durch einen Luftangriff getötet. Er starb langsam und leise, weil ihm niemand helfen konnte“, sagt die 37-Jährige gegenüber +972 und hält dabei die Tränen zurück. „Wir suchten neun Monate lang nach Hilfe. Wir bettelten um eine Diagnose, um Medikamente, um irgendetwas. Aber es gab nichts.“

Hajajs Symptome begannen im Juli 2024: plötzliche Magenschmerzen, Müdigkeit und unerklärliche Anämie. „Zuerst dachten wir, es sei der Stress des Krieges und der Hunger“, erzählt Mona. „Aber innerhalb weniger Wochen konnte er kaum noch stehen. Wir fuhren von Ort zu Ort, aber jedes Krankenhaus war überlastet. Sie sagten uns: „Wir behandeln nur Kriegsverletzungen.“ Keiner hatte Zeit für jemanden, der nicht blutete.“

Da sie im Norden unter Belagerung gefangen waren, hatten sie keinen Zugang zu Spezialisten oder funktionierenden Labors. „Eines Tages gingen wir zum Baptistenkrankenhaus“, so Mona. „Wir warteten von 6 Uhr morgens bis 22 Uhr abends – 16 Stunden in einer Schlange. Aber sie wiesen uns ab. Das Labor hatte kein Material. Sie konnten nicht einmal einen Bluttest machen.“

Im Laufe der Monate verschlechterte sich Hajajs Zustand immer mehr. Seine Haut brach in schmerzhaften Ausschlägen aus. Er nahm 30 Kilogramm ab. „Im Januar war er nur noch Haut und Knochen. Meine Kinder hatten Furcht davor, ihn zu berühren – nicht, weil sie Angst vor ihm hatten, sondern weil sie sehen konnten, dass er Schmerzen hatte.“

Im siebten Monat seines Verfalls erfuhr man schließlich, dass er an Zöliakie litt, einer Krankheit, die durch Gluten ausgelöst wird. Die Lösung hätte einfach sein müssen: Weizen aus seiner Ernährung zu streichen. Aber in Gaza gab es keine Alternative. „Alles, was wir hatten, war Weizen, und selbst der war knapp“, sagte Mona. „Wir wussten es nicht einmal. Monatelang hat er das gegessen, was ihn langsam umbrachte, nur um zu überleben.“

Zwei Monate später starb Hajaj – nicht an der Zöliakie selbst, sondern an dem Mangel an allem, was Gaza nicht mehr bieten konnte: Diagnoseinstrumente, Behandlung, Ernährungssicherheit und Würde. Ihre Kinder im Alter von neun, elf und dreizehn Jahren stellen jetzt Fragen, auf die Mona keine Antwort weiß. „Sie fragen ständig, wann Baba zurückkommt“, sagt sie. „Der Kleine sagte mir: „Wir können jetzt unser Brot mit ihm teilen. Vielleicht wird es ihm dann besser gehen.“ Wie erklärt man einem Kind, dass sein Vater gestorben ist, weil wir nicht einmal Brot finden konnten, das ihm nicht wehtut?“

Vor dem Krieg stand Hajaj kurz vor dem Abschluss seiner Doktorarbeit. „Es hätte nur noch ein paar Monate gedauert“, sagt Mona. „Er hatte Träume. Er wollte lehren. Er wollte etwas für dieses Land aufbauen. Wir hatten ein Jahr vor dem Krieg ein Haus in Tel Al-Hawa gekauft. Letzten November erfuhren wir, dass es bei einem Luftangriff zerstört worden war. Aber Haithm hat sich nicht beschwert. Er sagte nur: „Wir werden wieder bauen – für die Kinder.““ Sie hält inne und schluchzt. „Aber jetzt ist er nicht mehr da. Und ich weiß nicht, wie ich das Haus ohne ihn wieder aufbauen soll. Wie kann ich ohne ihn leben?“

Ihr 13-jähriger Sohn Hasan versucht, den Platz seines Vaters einzunehmen. „Hasan möchte der Mann im Haus sein und seinem jüngsten Bruder und seiner Schwester helfen“, erzählt Mona. „Gestern kam er weinend und schluchzend von der Straße zurück und sagte: „Ich wünschte, ich würde mit Baba sterben. Ich will so nicht leben.“ Er war losgezogen, um Essen für uns zu finden, aber er konnte es nicht. Er ist noch ein Kind. Er hat Angst, allein auf die Straße zu gehen, wenn die Bomben fallen. Er braucht seinen Vater – wir alle brauchen ihn. Ich weiß nicht, wie ich ihnen das Gefühl der Sicherheit zurückgeben kann.“

 

„Hier geht es nicht nur um Medizin. Es geht um Würde.“

Dem 64-jährigen Nabil Zafer (zur Offenlegung: der Onkel des Autors) hat der Krieg nicht das Leben genommen – aber sein Augenlicht, seine Unabhängigkeit und seine Rolle als Versorger einer Familie, die bereits ums Überleben kämpft.

Bevor der Krieg begann, wurde Zafer regelmäßig wegen eines schweren Glaukoms behandelt. Zweimal wöchentlich kam er ins Krankenhaus, um sich Augeninjektionen geben zu lassen, um den Druck zu regulieren und den Rest seiner Sehkraft zu erhalten. Außerdem sollte er im Februar 2024 für eine Operation nach Ägypten reisen, bei der Drainageventile in seine Augen eingesetzt werden sollten – ein relativ einfacher Eingriff, der seine Sehkraft hätte retten können.

Doch Ende 2023, inmitten der zunehmenden Angriffe Israels, wurde der Zugang zu Augeninjektionen innerhalb des Gazastreifens fast unmöglich. Und da es kein funktionierendes Krankentransportsystem gab, konnte Zafer nicht ausreisen – einer von mehr als 10 000 Gaza-BewohnerInnen, deren Anträge auf medizinische Evakuierung im ersten Kriegsjahr nie genehmigt wurden. „Die Ärzte sagten uns: „Wenn er nicht bald operiert wird, wird er sein Augenlicht verlieren“ – und dann war es zu spät“, sagt seine Frau Hanan gegenüber +972.

„Zuerst fing er an, nur noch Schatten zu sehen“, so die 58-Jährige weiter. „Dann verschwammen die Dinge völlig. Tag für Tag sahen wir, wie seine Sehkraft schwächer wurde. Im November letzten Jahres war er dann völlig blind.“

Der Verlust seines Augenlichts hat jeden Aspekt von Zafers Leben verändert und seine Familie zutiefst beeinträchtigt. Er war der einzige Versorger für einen Haushalt, der bereits von Entbehrungen geprägt war: zwei Söhne, Hani und Sarah, die beide mit Behinderungen leben, eine verwitwete Tochter und Hanan selbst.

„Er hat immer alles gemacht“, sagt sie. „Er reparierte Dinge im Haus, ging Essen holen und half den Söhnen. Jetzt kann er nicht einmal mehr ihre Gesichter sehen.“

Zafers Tage sind nun von Schweigen und Angst geprägt. „Er fragt mich immer: „Was ist, wenn wir wieder fliehen müssen? Wer wird mir helfen? Wer wird mich führen?““ berichtet Hanan. „Er sagt mir immer wieder: „Lasst mich zurück – aber lasst Hani und Sarah nicht allein. Sorge dafür, dass sie in Sicherheit sind. Das ist alles, was ich will.‘“

Manchmal setzt er sich ans Fenster und bittet sie, die Straße zu beschreiben – die Menschen, den Himmel, die Bäume. „Er will sich daran erinnern, wie die Welt aussieht“, sagt sie, und ihre Stimme zittert. „Aber noch mehr als das vermisst er unsere Kinder. Er fragt immer wieder: „Wann wird die Grenze geöffnet? Vielleicht kann ich noch gehen?““ fährt Hanan fort. „Aber tief im Inneren wissen wir beide, dass auf der anderen Seite nichts wartet. Hier geht es nicht nur um Medizin. Es geht um Würde – und die wird uns Tag für Tag genommen.“

 

Alles, was ich mir wünsche, ist, Gaza zu verlassen, bevor es zu spät ist.

Seit sechs Monaten liegt der 19-jährige Ata Ahmed (ein Pseudonym) flach auf dem Rücken in einem Zelt und ist von der Hüfte abwärts gelähmt. Sein Leben änderte sich am 12. September 2024 schlagartig, als ein israelischer Luftangriff ein benachbartes Haus im Viertel Shuja‘iyya in Gaza-Stadt traf. Das Schrapnell der Explosion durchschlug seine Wirbelsäule und hinterließ bleibende Schäden und eine lange Liste von Komplikationen. Seitdem wurde er mehrfach operiert, aber die Ärzte sagen, sie hätten nun alles getan, was sie konnten.

„Jeden Tag spüre ich, wie sich mein Zustand verschlechtert“, sagt Ata gegenüber +972. „Ich habe schon vor Monaten eine Überweisung für eine Behandlung im Ausland beantragt; ich kann nicht mehr lange warten. Alles, was ich mir wünsche, ist, Gaza zu verlassen und eine angemessene Behandlung zu bekommen, bevor es zu spät ist. Der Waffenstillstand hat mir Hoffnung gegeben, aber jetzt habe ich das Gefühl, dass alles versperrt ist.“

Ata ist nur einer von fast 35 000 verwundeten und chronisch kranken PalästinenserInnen im Gazastreifen, die derzeit auf den Listen für eine medizinische Evakuierung stehen. Da die Krankenhäuser durch wiederholte Bombardierungen, gravierende Engpässe und den völligen Zusammenbruch der medizinischen Infrastruktur lahmgelegt sind, wird Tausenden der Zugang zu lebensrettender Versorgung verwehrt. Nach Angaben des Gaza-Gesundheitsministeriums sind mindestens 40 Prozent derjenigen, die seit Kriegsbeginn eine Behandlung im Ausland beantragt haben, während der Wartezeit gestorben – Opfer der geschlossenen Grenzen, eines zusammengebrochenen Krankenhaus- und eines nicht mehr funktionierenden Gesundheitssystems.

Im Nasser Medical Complex in Khan Younis, einer der letzten teilweise funktionierenden Einrichtungen im südlichen Gazastreifen, lehnt sich die 81-jährige Umm Saeed Ghabaeen in einem Plastikstuhl zurück und ist sichtlich erschöpft, als eine weitere Dialysesitzung beginnt. Seit drei Jahren kämpft sie mit Nierenversagen und ist auf eine regelmäßige Dialyse angewiesen, um zu überleben. Doch seit Beginn des Krieges hat sich ihr Zustand drastisch verschlechtert. Zwangsvertreibung, Medikamentenmangel und sogar der Mangel an sauberem Wasser haben ihr Leben ständig in Gefahr gebracht.

„Seit wir aus unserer Heimat geflohen sind, hat sich alles verändert“, sagt sie. „Die Sitzungen sind kürzer. Es gibt weniger Maschinen. Die Pflege ist schwächer. Und ich fühle mich jeden Tag müder.“

Da im Süden nur noch wenige Dialyseeinheiten in Betrieb sind, waren die Krankenhäuser gezwungen, die Anzahl der wöchentlichen Sitzungen zu reduzieren und deren Dauer zu verkürzen – ein gefährlicher Kompromiss, insbesondere für ältere PatientInnen. Die ÄrztInnen warnen, dass diese Änderungen zu einer Welle eigentlich vermeidbarer Todesfälle führen könnten.

„Wir werden an den Abgrund gedrängt“, so Ghabaeen. „An manchen Tagen frage ich mich, ob ich bis zur nächsten Sitzung überlebe.“

 

Mahmoud Mushtaha ist ein Journalist und Menschenrechtsaktivist aus Gaza. Derzeit absolviert er einen MA-Studiengang in Globalen Medien und Kommunikation an der University of Leicester, UK. Kürzlich veröffentlichte er sein erstes Buch auf Spanisch, „Sobrevivir al genocidio en Gaza“.




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