Israel hungert Gaza zu Tode, und die Welt schaut tatenlos zu
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- 5. Mai
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Nur sofortige und konzertierte Maßnahmen werden das palästinensische Volk vor Israels sich intensivierender Kampagne der genozidalen Ausrottung schützen.
Von Dr. Mads Gilbert, Dr. James Smith und Dr. Ghassan Abu-Sittah; MEE, 1. Mai 2025
(Originalbeitrag in englischer Sprache)
Israel lässt die gesamte Bevölkerung des Gazastreifens hungern - für eine wachsende Anzahl von Palästinenser*innen bis hin zum Tod.
Es gibt keinen einzigen Ort auf der Welt, an dem der Hunger nicht vermeidbar wäre: nicht nach großen Umweltkatastrophen, inmitten von Dürre und Missernten oder während bewaffneter Konflikte und Völkermord. Der Hunger ist entweder ein Akt vorsätzlicher Gewalt oder gleichgültiger Vernachlässigung, beide werden durch unsere kollektive Untätigkeit ermöglicht.
Nirgendwo wird dies deutlicher als im Gazastreifen, wo die israelische Besatzung, die Blockade und die nunmehr totale Belagerung darauf abzielen, die palästinensische Bevölkerung vollständig zu kontrollieren und ihr bewusst die grundlegendsten Mittel zur Lebenserhaltung vorzuenthalten.
Hungersnot ist eine Strategie, die so alt ist wie die Kriegsführung selbst. Sie wird als Massenvernichtungswaffe eingesetzt, um größtmöglichen Schaden anzurichten, und zwar immer mit kalkulierter Nichtbeachtung derjenigen, die darunter leiden und sterben.
Diese besondere Form der Gewalt ist so entsetzlich, dass sie in den Genfer Konventionen und im Römischen Statut des Internationalen Strafgerichtshofs als eigenständiges Kriegsverbrechen eingestuft wird. Darüber hinaus verurteilt die UN-Resolution 2417 sowohl das „Aushungern von Zivilist*innen als Methode der Kriegsführung“ als auch die Praxis, „Zivilist*innen der für ihr Überleben unerlässlichen Gegenstände zu berauben“.
Trotz der zahlreichen gesetzlichen Schutzmaßnahmen ist es nun mehr als ein Jahr her, dass der UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung, Michael Fakhri, feststellte, dass Expert*innen für Hungersnöte noch nie eine Zivilbevölkerung gesehen haben, die so schnell und so vollständig dem Hunger ausgesetzt war wie in Gaza.
Schon in den ersten Monaten des Jahres 2024 warnten B'Tselem, Vertreter*innen von Medical Aid for Palestinians, der Leiter der EU-Außenpolitik und viele andere in ähnlicher Weise, dass Israel die palästinensische Bevölkerung in Gaza absichtlich und systematisch aushungert.
Anhaltende Gefahr einer Hungersnot
Diese Warnungen stützten sich auf den ersten Bericht der Integrierten Klassifizierung der Ernährungssicherheitsphasen (IPC), einer 2004 ins Leben gerufenen Initiative zur Verbesserung faktengestützter Prognosen und gezielter Maßnahmen in Situationen der Ernährungsunsicherheit.
Der IPC-Bericht vom Dezember 2023 warnte vor einer zunehmenden Gefahr einer Hungersnot, da die gesamte Bevölkerung des Gazastreifens von einem kritischen Niveau der Ernährungsunsicherheit betroffen sei. Mehr als zwei Millionen Menschen befanden sich in einer „krisenhaften oder noch schlimmeren“ Situation der Ernährungsunsicherheit - der höchste Anteil in einem einzelnen Gebiet, den die IPC in den fast zwei Jahrzehnten ihrer Tätigkeit jemals festgestellt hat.
Als sich die Lage im Gazastreifen weiter verschlechterte, kam es zu vereinzelten humanitären Hilfeleistung. Im Februar 2024 begann die jordanische Regierung mit dem Abwurf von Nahrungsmitteln in den belagerten Norden des Gazastreifens, woraufhin die World Central Kitchen – eine NGO, die sich an den Abwürfen beteiligte – erklärte, es würde „die Grenzen der humanitären Hilfe neu definieren“.
Während des gesamten letzten Jahres beschrieben Expert*innen die Lage im Gazastreifen als äußerst ernst und warnten wiederholt vor dem hohen Risiko einer Hungersnot bzw. dem unmittelbar bevorstehenden Ausbruch einer solchen.
Im Oktober hatte die US-Regierung das israelische Regime aufgefordert, die humanitäre Hilfe für den Gazastreifen zu verstärken. Trotz dieses offensichtlichen diplomatischen Drucks warnte das Famine Early Warning System Network (eine mit der IPC vergleichbare, aber von der US-Regierung finanzierte Organisation) im Dezember, dass sich im nördlichen Gazastreifen ein „Hungerszenario“ abzeichne. Anstatt Israel zu zwingen, seine quälende Politik der Entbehrungen und der militärischen Gewalt zu beenden, ließen US-Regierungsbeamte den Bericht zurückziehen.
Die Hungersnot der Menschen im Gazastreifen begann nicht im Oktober 2023 und auch nicht, als Israel das Waffenstillstandsabkommen am 18. März 2025 wiederholt verletzte und dann brach.
Im Gegenteil - seit der langwierigen israelischen Besatzung und Blockade des Gazastreifens sind Babys mit niedrigem Geburtsgewicht und Kinder, die in den ersten Lebensjahren verkümmern, an der Tagesordnung. Auch Anämie und andere Mikronährstoffdefizite sind weit verbreitet. Jeder dieser Ernährungsindikatoren wird durch die strenge Kontrolle Israels über die Verfügbarkeit und Vielfalt der nach Gaza zugelassenen Lebensmittel bestimmt.
Als Israel 2007 seine Blockade des Gazastreifens verschärfte, setzte es eine gezielte Politik der „systematischen Entbehrung“ um, angeblich um die Palästinenser*innen gegen die gewählte Regierung aufzubringen. Dov Weissglas, ein Berater von Ehud Olmert, dem damaligen israelischen Premierminister, erklärte 2006 ganz offen: „Es geht darum, die Palästinenser*innen auf Diät zu setzen, aber nicht darum, sie verhungern zu lassen.“
Nach einem dreijährigen Gerichtsverfahren sah sich das israelische Verteidigungsministerium 2012 gezwungen, ein Strategiepapier offenzulegen, in dem detailliert dargelegt wurde, wie der tägliche Kalorienbedarf berechnet wurde, um die Nahrungsmittellieferungen nach Gaza auf ein „humanitäres Minimum“ zu reduzieren. Heute hat das israelische Regime den Anschein aufgegeben, auch nur die niedrigsten humanitären Standards zu respektieren.
Das Einfordern von politische Verpflichtungen
Im vergangenen Monat wurden mehr als 3 600 Kinder im Gazastreifen mit akuter Unterernährung in Gesundheitseinrichtungen eingeliefert, was einen starken Anstieg gegenüber Februar bedeutet. Nach der Einlieferung erhalten viele Kinder nicht die erforderliche Behandlung, da fast die Hälfte der Behandlungseinrichtungen für Ernährungsprobleme im Gazastreifen nicht mehr funktionieren.
Seit dem 2. März blockiert das israelische Regime die Einreise aller humanitären Hilfsgüter in den Gazastreifen, einschließlich Lebensmitteln und Wasser. Am 16. April erklärte der israelische Verteidigungsminister Israel Katz dreist: „In der gegenwärtigen Realität wird niemand humanitäre Hilfe nach Gaza zulassen.“ Am 25. April erklärte das Welternährungsprogramm, dass es keine Lebensmittel mehr habe.
Das israelische Militär hat gleichzeitig die landwirtschaftlichen Produktionskapazitäten des Gazastreifens zerstört und die Lebensgrundlagen der Palästinenser*innen dezimiert. Der empfindliche Nahrungsmittelbestand des Gazastreifens, Bäckereien, Fischerboote, Lebensmittellager und Notküchen wurden allesamt angegriffen.
Mindestens 82 Prozent der Anbauflächen im Gazastreifen wurden beschädigt, 75 Prozent der Olivenbäume wurden zerstört, und 95 Prozent des Viehs sind verendet. Durch die erneuten Angriffe Israels wurde noch mehr Land besetzt und könnte annektiert werden. Gleichzeitig haben die von israelischen Raketen freigesetzten Chemikalien in Verbindung mit ungeklärten Abwässern aus zerstörten Abwassersystemen den Boden und die Grundwasserreserven kontaminiert.
Als Ärzte, die während der israelischen Besatzung, der Blockade, der wiederholten militärischen Angriffe und des jetzigen Völkermords in Gaza gearbeitet haben, machen wir jeden Staat, der Israel weiterhin aktiv und passiv unterstützt, mitverantwortlich. Das israelische Regime hat die „Logik der Auslöschung“, die seinen siedlungskolonialen Ambitionen innewohnt, entschlossen offengelegt. Nur sofortige und konzertierte Maßnahmen können das palästinensische Volk vor dieser neuesten Etappe von Israels genozidaler Ausrottungskampagne schützen.
Beweise für Strategien der verbrannten Erde, Warnungen vor Hungersnöten und Erklärungen über einen möglichen Völkermord sollten zum Handeln anregen. Trotz ihrer schwerwiegenden Auswirkungen wurden diese Begriffe wiederholt manipuliert und zu politischen Zwecken falsch interpretiert. Anstatt zu einer gemeinsamen Aktion aufzurufen, wurden Warnungen über die „Gefahr einer Hungersnot“ so verzerrt, dass sie den Eindruck erweckten, die Lage sei nicht so schlimm wie von Expert*innen behauptet. In ähnlicher Weise wurden Erklärungen über „plausiblen“ Völkermord manipuliert, um die unmittelbaren Verpflichtungen der internationalen Gemeinschaft durch langwierige Gerichtsverfahren und die scheinbar endlose Suche nach immer unwiderlegbareren Beweisen zu verschleiern.
Es ist noch nicht zu spät, die mit diesen Begriffen verbundenen politischen Verpflichtungen zurückzufordern. Die drohende Hungersnot erfordert kollektives Handeln. Die Hungersnot lässt sich nicht allein mit Nahrungsmittelhilfe aufhalten. Diejenigen, die andere aushungern, müssen für ihre Verbrechen zur Rechenschaft gezogen werden, und diejenigen, die ausgehungert werden, müssen Gerechtigkeit erfahren.
Es ist noch nicht zu spät, die Palästinenser*innen im Gazastreifen vor denjenigen zu schützen, die Israels verwerfliche Politik der Ausrottung durch Verhungern weiterhin unterstützen und bejubeln.
Mads Gilbert ist ein norwegischer Facharzt für Notfallmedizin, der seit 1982 häufig in palästinensische Flüchtlingslager im Libanon, im besetzten Westjordanland und im Gazastreifen reist.
Dr. James Smith ist Dozent für Humanitäre Politik und Praxis am UCL und Notfallmediziner in London. Er arbeitete von Dezember 2023 bis Januar 2024 und von April bis Juni 2024 in Gaza.
Dr. Ghassan Abu-Sittah ist ein britisch-palästinensischer außerordentlicher Professor für Chirurgie und ein plastischer und rekonstruktiver Chirurg. Er hat als Kriegschirurg im Jemen, im Irak, in Syrien, im Südlibanon und während der fünf Kriege im Gazastreifen, einschließlich des jüngsten Angriffs, gearbeitet. Über seine Arbeit wurde in zahlreichen Zeitungen und Medien berichtet, darunter La Monde, The Independent, Telegraph, BBC und CNN.

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