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Israel muss gezwungen werden, den Völkermord zu beenden

  • office16022
  • 16. Aug.
  • 6 Min. Lesezeit

Ich stehe heute hier voller Trauer, Wut und Angst, während ich – wie wir alle – mitansehen muss, wie das messianische Regime Israels versucht, das palästinensische Volk in seiner eigenen Heimat – Palästina – zu vernichten.


Rede von Dr. Ruti Katz, Kundgebung „Stoppt den Genozid in Gaza!“, 5. August 2025

 


Als in Israel geborene Jüdin habe ich jahrelang versucht, den Holocaust zu verstehen. Wie konnte dieses schreckliche Verbrechen gegen die Menschlichkeit, gegen mein Volk, gegen meine eigene Familie geschehen? Ich habe Bücher und Dokumente gelesen, Dokumentarfilme und Filme angesehen – um herauszufinden, wie all das passieren konnte. Ich konnte die Abläufe nachvollziehen, aber ich konnte das Warum nicht verstehen. Wie konnten sie das tun? Und ich meine damit nicht die Mechanismen, sondern die Fähigkeit der Menschen, einen solchen Völkermord zu begehen.


Ich habe von den einzelnen Schritten erfahren, die dem Völkermord vorausgingen: die Ausgrenzung der jüdischen Bevölkerung aus der Gesellschaft, die Leugnung ihrer Menschlichkeit, ihre Konzentration in geschlossenen Gebieten unter unmenschlichen Bedingungen, und dann kam die Vernichtung. Ich habe die Vorgänge nachvollzogen und konnte dennoch nicht verstehen: Warum? Wie konnten sie das tun?


Jetzt, wo ich mit Entsetzen beobachte, was seit fast zwei Jahren in Gaza geschieht, bin ich noch fassungsloser: Wie ist es möglich, dass eine Nation, die selbst Opfer eines Völkermords war, selbst zur Täterin wird?


Meine Versuche, eine Erklärung zu finden, führen zu keinen nennenswerten Ergebnissen, weil das alles schier unfassbar ist. Trotzdem habe ich versucht zu verstehen, wie das israelische Volk, von dem 1982 400 000 Menschen – 12 Prozent der jüdischen Bevölkerung in Israel – gegen das Massaker an Palästinenser*innen in Sabra und Shatila im Libanon demonstrierten, so hasserfüllt, so rachsüchtig, so gnadenlos und so monströs werden konnte.

Deshalb möchte ich nun über uns Israelis sprechen.


Zwei vorherrschende Weltanschauungen in der heutigen israelischen Gesellschaft ermöglichen die Fortsetzung ihrer Gräueltaten: eine tief verwurzelte Angst vor einer existenziellen Bedrohung unter einem großen Teil der jüdischen Bevölkerung und der Glaube an eine jüdische Überlegenheit, der die Entmenschlichung anderer vorantreiben kann, in manchen Teilen der Gesellschaft.


Viele israelische Jüdinnen und Juden empfinden echte Angst vor der Vernichtung. Diese Angst rührt von Jahrhunderten der Verfolgung her, die im Holocaust gipfelten. Diese Geschichte hat das kollektive Unterbewusstsein der Israelis geprägt. Man kann durchaus sagen, dass Israel eine posttraumatische Nation ist. Leider führen der anhaltende Kriegszustand Israels, der Missbrauch der Erinnerung an den Holocaust und die intensive Indoktrination durch Bildung und Medien dazu, dass das Trauma fortbesteht, anstatt zu heilen.


Dieses Trauma und diese Angst haben unter den Israelis zu einem weit verbreiteten Gefühl geführt, dass sie einer ständigen Bedrohung ausgesetzt sind und sich um jeden Preis verteidigen müssen. Der brutale Angriff der Hamas am 7. Oktober verursachte ein neues Trauma von enormem Ausmaß, das dieses Gefühl noch weiter vertiefte. Die meisten westlichen Nationen, schockiert vom Angriff der Hamas, schlossen sich schnell der Haltung an, dass „Israel das Recht hat, sich zu verteidigen“. Dieser Satz wurde zu ihrem Mantra: „Israel hat das Recht, sich zu verteidigen.“ Ihre bedingungslose Unterstützung für Israel unter dem Vorwand, dass es sich verteidigt, half Premierminister Netanjahu dabei, Israel weiterhin als Opfer darzustellen und seine Bewohner*innen traumatisiert zu halten; dies ermöglichte es ihm und ihnen, den Völkermord in Gaza durchzuführen und zu rechtfertigen.


Ich muss gestehen, dass es mir leider schwerfällt zu glauben, dass jemand, der dieses Mantra „Israel hat das Recht, sich zu verteidigen“ ausgesprochen hat, auch wirklich daran glaubt, dass Israel aus Selbstverteidigung handelt. Hinter der bedingungslosen Unterstützung für Israel stehen wirtschaftliche und globale Interessen. Sie spielen eine zentrale Rolle in dieser anhaltenden Katastrophe. Und ich befürchte, dass auch Rassismus hier eine bedeutende Rolle spielt.


Der derzeitige israelische Premierminister Netanjahu nutzt nicht nur die Angst und das Trauma seines Volkes aus und hält sie aufrecht, sondern schafft auch ständig neue. Angst ist ein wirksames Mittel, wenn man die Gedanken und Seelen der Menschen kontrollieren will. Netanjahu ist ein Experte darin, Angst, Hass und Spaltung zu schüren und zu erzeugen, was ihm ermöglicht, alles zu erreichen, was er will oder was seine rassistische, faschistische, bösartige Regierung von ihm verlangt.


Ich möchte an dieser Stelle ganz klar festhalten, dass diese Erklärung den Israelis, die an der Vernichtung Gazas beteiligt sind, ihr zustimmen oder sie einfach ignorieren, nicht von ihrer vollen Verantwortung für ihre Handlungen entbindet. Ich versuche lediglich zu ergründen, wie es dazu gekommen ist.


Ein weiteres herausragendes Merkmal einiger Teile der jüdischen Bevölkerung ist der Glaube an die jüdische Überlegenheit, insbesondere unter nationalistischen, religiösen und messianischen Jüdinnen und Juden, die in Netanjahus Regierung stark vertreten sind. Für sie hat dieses Gefühl der Überlegenheit seine Wurzeln in der Bibel: Sie sehen sich als das auserwählte Volk, dem Gott dieses ganze Land versprochen hat. Sie stellen sich dieses Land frei von Nichtjuden vor – insbesondere von Palästinenser*innen. Und wenn die Palästinenser*innen nicht freiwillig gehen, sind ihrer Ansicht nach allen Mittel gerechtfertigt, um sie verschwinden zu lassen.


Ich möchte einen sehr wichtigen Punkt hervorheben: Das ist nicht das Judentum. Das ist eine Interpretation, eine Interpretation, an der sie festhalten, um ihren kranken Wunsch zu rechtfertigen, das gesamte Land zu besitzen und es von Palästinenser*innen zu befreien. Das ist nicht das Judentum. Das ist ein grausamer Missbrauch davon.


Nun ein paar Worte zur israelischen Gesellschaft: Diese Gesellschaft ist nicht monolithisch. Es gibt eine ganze Reihe von Menschen, Organisationen und Bewegungen, darunter viele gemeinsame palästinensisch-jüdische Gruppen, die sich für uneingeschränkte Menschenrechte, Gleichheit, gegenseitigen Respekt, Gerechtigkeit und Freiheit für alle einsetzen, unabhängig davon, in welcher Konstellation - ein Staat, zwei Staaten, Konföderation, was auch immer funktionieren mag. Wir sind eine kleine, aber widerstandsfähige Minderheit. Die israelische Gesellschaft erlebt derzeit einen tiefgreifenden moralischen Verfall. Aber wir hoffen und glauben, dass Veränderung möglich ist - und wir arbeiten darauf hin.


Um diese Veränderung zu erreichen, ist jedoch auch eine internationale Intervention von außen erforderlich. Kein Staat hätte schweigen dürfen, als Israel den Völkermord und die ethnische Säuberung in Gaza und im Westjordanland begangen hat und weiterhin begeht. Bloße Verurteilungen reichen nicht aus, ebenso wenig wie die Verurteilung Israels, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen zu haben. Selbst die Anerkennung eines palästinensischen Staates, die für viele Staats- und Regierungschefs ein großer Schritt, ja sogar ein Sprung nach vorne zu sein scheint, bleibt eine symbolische Geste, wenn sie nicht durch konkrete Maßnahmen unterstützt wird. Jede verbale Verurteilung muss von Taten, von sinnvollen Maßnahmen begleitet werden, und es gibt eine Vielzahl von Maßnahmen, die Staaten ergreifen können, um Israel zum Einlenken zu bewegen.


Wir können und dürfen nicht warten, bis die Israelis, die sich am Völkermord beteiligen, ihn unterstützen oder ignorieren, aus ihrem Wahnzustand erwachen und beschließen, ihre Waffen niederzulegen und einen Dialog zu beginnen. Es ist bereits viel zu spät. Wir brauchen Hilfe, um sie jetzt und sofort zum Aufhören zu bewegen. Das ist das Dringendste: den Völkermord in Gaza und die ethnische Säuberung im Westjordanland zu stoppen.


Ich kann hier nicht stehen, ohne auf die israelischen Geiseln hinzuweisen, die sich noch immer in Gaza befinden und die meiner bescheidenen Meinung nach schon längst hätten freigelassen werden können. Ihre fortdauernde Gefangenschaft ist einfach unvorstellbar. Was für Monster leiten die israelische Regierung, die ihre eigenen Bürger im Stich lässt, die von einer Gruppe festgehalten werden, die die eigenen Minister selbst als „menschliche Tiere, die ausgerottet werden müssen“ bezeichnet haben? Sie lassen die Geiseln im Stich, während sie zusehen, wie ihre Mütter und Väter, Brüder und Schwestern, Ehefrauen und Kinder verzweifelt darum betteln, dass ihre Angehörigen nach Hause gebracht werden. Für diese Regierung sind diese Familien ein Ärgernis. Eine Unannehmlichkeit, die es zu erledigen gilt. Welche Art von Führung betrachtet die Rückführung der Leichen von Geiseln als Erfolg? Welche Art von Menschen kann das als Sieg akzeptieren?


Es handelt sich um dieselbe Art von Menschen, für die das Töten palästinensischer Kinder und die Zerstörung des Gazastreifens als Selbstverteidigung, aber hauptsächlich als Mittel zum Aufbau einer Zukunft angesehen wird, die ihnen besser passt. Wie ich bereits erwähnt habe, werden der Völkermord und die ethnische Säuberung im Westjordanland nicht ohne Intervention von außen enden. Tatsächlich hätte nichts davon ohne die Unterstützung des Westens oder dessen Wegschauen geschehen können. Seit Jahrzehnten verstößt mein Land gegen ein internationales Gesetz nach dem anderen, begeht ein Kriegsverbrechen nach dem anderen, ohne dass es jemals Konsequenzen gegeben hätte.


Es ist jetzt an der Zeit für einen Kurswechsel. Israel muss gezwungen werden, den Völkermord zu beenden, die seit Jahrzehnten begangenen Kriegsverbrechen einzustellen und zur Rechenschaft gezogen zu werden. Dann werden die Israelis hoffentlich einen Prozess der Rehumanisierung durchlaufen, ihre eigene Menschlichkeit wiedererlangen und die Palästinenser*innen als Gleichberechtigte ansehen. Die Palästinenser*innen müssen nicht nur von Israel, sondern auch von seinem Unterstützer*innen, den westlichen Staaten, als gleichwertig angesehen werden. Der Westen muss erkennen, dass seine eigenen Werte wie Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit für alle gelten müssen, und er muss jetzt sofort damit anfangen, nach seinen eigenen Werten zu handeln!


Bevor ich zum Schluss komme, möchte ich mich an die deutschsprachigen Länder, Deutschland und Österreich, wenden, die sich aufgrund unserer gemeinsamen Geschichte möglicherweise für die Sicherheit und das Wohlergehen Israels verantwortlich fühlen: Bitte lassen Sie nicht zu, dass die Verbrechen, die Ihre Länder in der Vergangenheit an meinem Volk begangen haben, die Verbrechen rechtfertigen, die Israel derzeit an den Palästinenser*innen begeht. Die Lehren aus unserer Geschichte sollten anders ausfallen. Anstatt Israel in seinem Kampf gegen Palästina zu unterstützen, sollten Sie lieber beiden Nationen dabei helfen, den Weg zu einem gerechten Frieden zu finden, damit wir gemeinsam eine vernünftige Zukunft aufbauen können, in der wir miteinander oder nebeneinander leben können.

 

Dr. Ruti Katz, Musikerin und Pädagogin, ist eine in Wien lebende israelische Friedensaktivistin. Sie ist Mitglied von Standing Together Vienna, einer jüdisch-arabischen Allianz für Frieden im Nahen Osten.


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