„Israel verbrennt den Boden unter unseren Füßen": Hunderte Tote bei verstärkten Angriffen auf den Gazastreifen
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In einer Welle von Luftangriffen von Khan Younis bis Jabalia griffen die israelischen Streitkräfte Krankenhäuser und Wohnhäuser an, töteten über 250 Menschen und legten die Rettungsarbeiten lahm.
Von Ibtisam Mahdi, +972Mag, 16. Mai 2025
(Originalbeitrag in englischer Sprache)
In den vergangenen 36 Stunden hat die israelische Armee ihre Angriffe auf den Gazastreifen ausgeweitet und dabei nach Angaben der örtlichen Gesundheitsbehörden mindestens 250 Palästinenser*innen getötet und Hunderte verwundet. Die Welle von Luft- und Artillerieangriffen hat bei den Bewohner*innen Erinnerungen an die ersten und brutalsten Tage des Krieges hervorgerufen.
In der südlichen Stadt Khan Younis wurde der Innenhof des European Gaza Hospital am Abend des 13. Mai schwer bombardiert. Nach Angaben des Gesundheitsministeriums von Gaza wurden bei dem Angriff 28 Palästinenser*innen getötet und Dutzende verwundet. Unter ihnen befanden sich Patient*innen, medizinisches Personal sowie Zivilschutz- und Krankenwagenbesatzungen, die versuchten, die Verletzten zu retten, bevor sie erneut unter Beschuss gerieten. Das Krankenhaus ist seither völlig außer Betrieb.
Sumaya Al-Hajj, 42, besuchte ihre Mutter, die sich im Krankenhaus einer Beinoperation unterzogen hatte, als die Bombardierung begann. „Innerhalb weniger Sekunden regneten Dutzende von schweren Raketen und Granaten aus allen Richtungen auf uns nieder“, so Al-Hajj gegenüber +972. „Die erschreckenden Geräusche und Erschütterungen weckten Erinnerungen an die ersten Tage des Krieges, als die Bombardierung konstant und erbarmungslos war.“
Vor Angst erstarrt, stand Al-Hajj hilflos vor der Tür des Zimmers ihrer Mutter. „Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Sollte ich fliehen oder bleiben? Meine Mutter mitnehmen oder sie zurücllassen? Ich konnte nicht einmal aus dem Fenster sehen - überall flogen Granatsplitter, Rauch und schwarzer Staub", berichtet sie. „Ich weiß nicht mehr, wie lange der Schrecken anhielt, aber es gab überall Schreie, und die Verletzten und Toten lagen auf dem Boden. Keiner konnte ihnen helfen. Die Angst lähmte alle."
Nach mehr als vier Stunden gelang es Al-Hajj schließlich, mit ihrer Mutter aus dem Krankenhaus zu entkommen. „Zuerst konnten wir nicht weg. Sie nahmen jeden ins Visier, der sich bewegte, entweder mit Granaten oder mit Scharfschützenfeuer aus Quadcoptern. Sie schlugen mehrmals an derselben Stelle zu", erinnert sie sich. „Wir bewegten uns erst, als andere zu fliehen begannen. Wir haben unser Leben riskiert, aber wir konnten nicht bleiben. Wir hatten Angst, dass die Gebäude des Krankenhauses direkt beschossen werden oder dass wir von Granatsplittern getroffen werden.“
Trotz des schlechten Gesundheitszustands ihrer Mutter war Al-Hajj in der Lage, sie zu Fuß rauszubringen. „Mein Bruder und ich sind eine lange Strecke mit ihr gelaufen. Sie hatte Schmerzen, und es gab kein Transportmittel. Nach einem langen Fußmarsch fanden wir einen Karren, der von einem Esel gezogen wurde, und brachten unsere Mutter damit ins Nasser-Krankenhaus [in Khan Younis], um ihre Behandlung fortzusetzen."
Al-Hajj fügte hinzu, dass das, was sie erlebt hat, sie für immer verfolgen wird. „Alle flüchteten mit Angst in den Augen“, sagt sie. „Ich habe noch nie in einem Krieg solche Schrecken erlebt.“
As'ad Al-Amour, 35, war auf dem Heimweg, nachdem er an den Ständen vor dem Europakrankenhaus Gemüse gekauft hatte, als die Bombenangriffe begannen. „Die Leute fingen an zu schreien und rannten wie verrückt und versuchten zu fliehen. Keiner konnte begreifen, was geschah", sagt er gegenüber +972. „Es war, als würde die Erde aufbrechen und die Menschen verschlucken. Die Leichen lagen überall verstreut. Selbst nachdem die Bombardierung nachgelassen hatte, zielten Drohnen weiterhin auf jeden, der noch am Leben war oder versuchte, andere zu retten“, fügt er hinzu. „Wir haben die Schrecken des Jüngsten Gerichts miterlebt. Alles, was wir sahen, waren Feuer, Rauch und Tod."
Nachdem er die Bombardierung überlebt hatte, wollte Al-Amour nach Hause zu seiner Familie zurückkehren, konnte sich aber kaum bewegen. „Die Tasche [mit dem Gemüse] fiel mir aus den Händen, ich weiß nicht einmal, wo sie hin ist“, berichtet er. „Ich dachte an meine Familie und ihre Sicherheit, aber ich rannte in die entgegengesetzte Richtung von meinem Haus. Ich konnte nur ans Überleben denken."
Nach Angaben von Al-Amour ließ der Beschuss auch nach dem Angriff auf den Krankenhaushof nicht nach. „Wir können seit zwei Tagen nicht mehr schlafen. Tag und Nacht sind wir unter ständigem Beschuss, sei es durch Flugzeuge oder Artillerie", sagt er. „Ich dachte daran zu fliehen, aber wohin sollte ich gehen? Ich habe mit Freunden in verschiedenen Teilen von Khan Younis gesprochen, und sie alle machen die gleichen Erfahrungen. Es gibt keinen sicheren Ort. Es fühlt sich an, als ob der Krieg wieder von vorne begonnen hätte.“
„Wir sind am Verhungern. Wir sind erschöpft. Wir haben Angst."
In der Stadt Jabalia und dem angrenzenden Flüchtlingslager wurden Dutzende von Zivilist*innen – meist Frauen und Kinder – unter den Trümmern ihrer Häuser, die bei einer Reihe israelischer Luftangriffe zerstört wurden, getötet oder verletzt.
Jamal Hammad, ein Bewohner des Stadtviertels Zamo, hat seit über 24 Stunden nicht mehr geschlafen. Zusammen mit seiner Frau und seinen sechs Kindern verbrachte der 38-Jährige den vergangenen Tag in Angst und Schrecken, als die unablässigen israelischen Bombardierungen ihr Haus erschütterten.
In seiner Verzweiflung, zu verstehen, was da vor sich geht, ging Hammad in den frühen Morgenstunden des Freitags auf die Straße, um mit Nachbar*innen zu sprechen. In diesem Moment begann der Artilleriebeschuss. „Es war heftig und wahllos“, erinnert er sich in einem Interview mit +972. „Dutzende von Toten. Gemetzel. Einige Leichen waren kopflos. Frauen, Kinder und junge Leute lagen auf dem Boden und schrien um Hilfe.“
In einer gemeinsamen Erklärung mit dem Sicherheitsdienst Shin Bet erklärte das israelische Militär, dass es sich bei der Bombardierung des Europakrankenhauses – weniger als 24 Stunden nach einem Angriff auf das Nasser-Krankenhaus, bei dem der Journalist Hassan Aslih getötet wurde – um einen „präzisen Schlag“ gegen ein „Kommando- und Kontrollzentrum“ der Hamas gehandelt habe. Israelische Medien berichteten später, dass das Ziel der Hamas-Führer Mohammed Sinwar gewesen sei. Ein vom Militär veröffentlichtes Video, das angeblich die durch den Angriff freigelegte „unterirdische terroristische Infrastruktur“ zeigte, wies jedoch fälschlicherweise auf ein nahe gelegenes Schulgebäude und nicht auf das Krankenhaus selbst als Ort des Angriffs hin.
Als Hammad und andere nach einem Krankenwagen riefen, wurde ihnen gesagt, dass es für die Sanitäter zu gefährlich sei, das Gebiet zu betreten. Also begannen er und mehrere Nachbarn, die Verwundeten zu Fuß zu tragen und einen Kilometer zu den beiden einzigen verfügbaren Krankenwagen zu laufen.
Nach etwa einer Stunde gab Hammads Körper den Geist auf. „Ich sah eine alte Frau, die verletzt auf dem Boden lag und mich anflehte, ihr zu helfen“, sagte er. „Aber ich konnte sie nicht mehr tragen. Mein Körper zitterte - vor Angst und vor dem Schrecken dessen, was ich gesehen hatte."
Während dieser Zeit machte sich Hammad große Sorgen um seine 16-jährige Tochter Nagham, die an mehreren chronischen Krankheiten leidet, darunter eine schwere Glutenunverträglichkeit. Wenn sie Angst hat, kann ihr Blutdruck dramatisch abfallen, und manchmal verliert sie das Bewusstsein oder ist vorübergehend gelähmt - eine Reaktion, die sich seit Kriegsbeginn noch verschlimmert hat.
Als er zu seinem Haus zurückkehrte, um bei der Flucht seiner Familie zu helfen, wurde ihm klar, dass er Nagham nicht allein tragen konnte. Er rief seinen Cousin Saeed zu Hilfe. In dem Chaos flohen sie ohne Hab und Gut - nur eine von Dutzenden von Familien, die versuchten, unter dem anhaltenden schweren Bombardement aus dem nördlichen Gazastreifen zu entkommen.
Bei der Evakuierung wurde Hammads 27-jährige Cousine Afnan von einem Schrapnell getroffen. „Sie blutete, und wir konnten sie kaum tragen, weil wir von Bomben umgeben waren“, berichtet er.
Hammad und seine Familie hatten kein Ziel. Schließlich trafen sie die schwere Entscheidung, sich zu trennen: Eine Gruppe ging in eine etwas ruhigere Gegend in Jabalia, während Hammad und Nagham in Sheikh Radwan im Norden von Gaza-Stadt Zuflucht suchten.
„Wir haben uns getrennt, damit im Falle eines Bombenangriffs zumindest vielleicht ein paar Familienmitglieder überleben würden“, sagt er leise. „Ich zittere immer noch von der Anspannung. Wir sind am Verhungern. Wir sind erschöpft. Wir haben schreckliche Angst."
Jedes Mal, wenn die Familie auf ein Ende des Krieges zu hoffen wagt, scheint sich die Situation zu verschlechtern, so Hammad. „Das ist kein Leben. Wir brauchen die arabischen Länder – und die ganze Welt – um Druck auf Israel auszuüben, damit Lebensmittel und Medikamente nach Gaza gelangen können. Wir können das nicht mehr ertragen. Es ist genug."
Khaled Al-Zainati, 25, Bewohner des Flüchtlingslagers Jabalia, erzählt +972, dass das Haus seiner Familie am 16. Mai getroffen wurde, wobei zehn seiner Verwandten ums Leben kamen: „Ein Nachbar rief an und sagte, dass das Haus meiner Cousins bombardiert worden war und dass sie ihre Hilfeschreie hören konnten, aber niemand konnte sein Haus verlassen, um sie zu retten. Quadcopter schossen auf jeden, der sich bewegte, und es gab immer wieder Angriffe.“
„Am Morgen eilten wir zum Haus meiner Cousins und gruben mit unseren Händen, um sie zu bergen, aber es war niemand mehr am Leben“, sagte er mit Schmerz in den Augen. "Sie starben entweder durch Ersticken oder an ihren Verletzungen.“
„Was im nördlichen Gazastreifen, insbesondere in Jabalia, geschieht, ist entsetzlich“, fährt er fort. „Ganze Familien wurden ausgelöscht und unter den Trümmern zurückgelassen. Leichen stapeln sich, Kinderkörper sind in Stücke gerissen. Israel hat den Boden unter unseren Füßen verbrannt. Die ganze Nacht hindurch gab es heftigen Beschuss. Wir haben gebetet, dass die Nacht schnell zu Ende geht", fügt er hinzu. „Die Explosionen hörten sich an, als ob sie direkt neben uns wären. Wir wussten nicht, wo die Einschläge landeten und wie wir dieser Hölle entkommen können."
Mahmoud Muqbil, 38, hat mindestens 15 Familienmitglieder verloren, nachdem ihre Häuser im Flüchtlingslager Jabalia am Donnerstagabend bombardiert wurden. Zehn wurden verschüttet, fünf liegen noch unter den Trümmern. „Die israelische Armee hat ihre Angriffe auf Krankenhäuser und Wohnhäuser extrem intensiviert“, berichtet er gegenüber +972. „Es ist erschütternd. Ich habe versucht, meine Kinder vor den Geräuschen von Explosionen und Luftangriffen zu beruhigen. Der Lärm, den sie machen, ist unbeschreiblich."
Während Muqbil und seine Familie um ihre Angehörigen trauerten, wurde in der Nacht auch das Haus seines Nachbarn angegriffen. „Das Haus der Familie Al-Ghandour, nur zwei Häuser von unserem entfernt, wurde ebenfalls angegriffen. Wir hörten ihre Schreie und Hilferufe, konnten aber niemanden retten, weil die Armee auf jeden schoss, der sich in der Gegend bewegte", erinnert er sich.
Am Freitagabend erklärte die Menschenrechtsorganisation Euro-Mediterranean Human Rights Monitor in einer Erklärung, dass ihr Team vor Ort die Tötung von mehr als 115 Palästinenser*innen allein im nördlichen Gazastreifen in weniger als 12 Stunden dokumentiert habe. Die Angriffe trafen mindestens zehn Häuser in Tel Al-Zaatar in Jabalia und im Stadtteil Al-Salateen in Beit Lahia und zerstörten sie vollständig, während sich die Bewohner*innen darin aufhielten, wobei Dutzende von Zivilist*innen, darunter Frauen und Kinder, in Massakern getötet wurden, die das zunehmende Muster der systematischen Massentötung palästinensischer Zivilist*innen widerspiegeln.
In der Erklärung heißt es, dass diese Entwicklung „die umfangreichsten und tödlichsten Angriffe seit Beginn des Krieges“ und eine „Eskalation des israelischen Völkermordes in Gaza“ darstelle. Israel begehe „Massaker und wende eine Politik der verbrannten Erde an, die auf die vollständige Zerstörung der verbliebenen Stadtteile und der Infrastruktur abzielt“. Dies sei Teil einer „19 Monate andauernden Strategie des Massentötens, des Aushungerns und der systematischen Zerstörung aller Lebensgrundlagen, wobei palästinensische Zivilist*innen in ihren Häusern, Unterkünften und lebenswichtigen Einrichtungen gezielt angegriffen werden.“
Ahmed Ahmed hat zu diesem Bericht beigetragen.
Ibtisam Mahdi ist eine freiberufliche Journalistin aus Gaza, die sich auf die Berichterstattung über soziale Themen, insbesondere über Frauen und Kinder, spezialisiert hat. Sie arbeitet auch mit feministischen Organisationen in Gaza in den Bereichen Berichterstattung und Kommunikation zusammen.

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