Israel wird definitiv nach anderen Maßstäben beurteilt – nur nicht so, wie es glaubt
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- 10. Sept.
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Von geheimen Atomwaffen bis hin zu offenen Kriegsverbrechen hat seit dem Zweiten Weltkrieg kein Staat – und dazu gehören auch die Vereinigten Staaten, die Sowjetunion, Russland und China – eine solche Straffreiheit genossen wie der Staat Israel.
Von Mouin Rabbani, Zeteo News, 8. September 2025
(Originalbeitrag in englischer Sprache)
Israel und seine Anhänger beklagen sich immer wieder darüber, dass Israel nach anderen Maßstäben beurteilt werde als andere Staaten.
Diese Behauptung ist sachlich richtig, wenn auch nicht in der intendierten Art und Weise.
Kein Staat seit dem Zweiten Weltkrieg, einschließlich der Vereinigten Staaten, der Sowjetunion, Russlands und Chinas, hat sowohl soviel Straffreiheit als auch soviel Freiheit von Kritik genossen wie Israel.
Es war kaum ein Tabu, die Kriege der USA gegen Vietnam oder den Irak, den Krieg der Sowjetunion in Afghanistan, die Kriege Russlands in Tschetschenien oder der Ukraine oder die Innenpolitik Chinas zu verurteilen. Im Gegensatz dazu lassen sich prominente Politiker*innen, die es wagten, Israel beispielsweise für seine mörderische Invasion im Libanon 1982 ausdrücklich zu verurteilen, an den Fingern einer amputierten Hand abzählen.
Israel beklagt sich gerne darüber, dass die Vereinten Nationen, die 1947 die entscheidende Resolution zur Gründung eines jüdischen Staates in Palästina verabschiedeten, eine antiisraelische Organisation seien, deren Hauptziel es sogar sei, eine antiisraelische Agenda zu verfolgen.
Doch mit Ausnahme der Mitglieder des UN-Sicherheitsrats, die über ein Vetorecht verfügen, ist kein Staat in der Geschichte der Weltorganisation mit einer auch nur annähernd ähnlichen Bilanz wie Israel systematischen Sanktionen und Verurteilungen entkommen. Das ehemalige Rhodesien, das ehemalige Regime der weißen Minderheit in Südafrika, das ehemalige Jugoslawien, der Sudan, der Iran, Nordkorea, der Jemen und Myanmar, um nur einige zu nennen, hätten nichts lieber gehabt, als sich in Israels gehobener internationaler Position zu befinden. Keine Wirtschaftssanktionen, keine Waffenembargos, keine von der UNO angeordneten Strafgerichtshöfe, nichts, was praktische Konsequenzen zur Folge hätte.
Das Gleiche gilt für Israels Atomwaffenarsenal. Der Iran ist seit Jahrzehnten Sanktionen des Westens und der UNO ausgesetzt, unter dem Vorwand, dass diese notwendig seien, um ihn daran zu hindern, Atomwaffen zu entwickeln. Anfang dieses Jahres unterstützte Washington einen Krieg Israels gegen den Iran und beteiligte sich daran, dessen erklärtes Ziel es war, die Fähigkeit des Iran zur militärischen Nutzung seines Atomprogramms zu zerstören. Die vor einem Jahrzehnt aufgehobenen UN-Sanktionen gegen den Iran werden auf Drängen Europas mit ziemlicher Sicherheit noch in diesem Jahr wieder aufgenommen werden.
Im Gegensatz zum Iran hat Israel sich geweigert, den Atomwaffensperrvertrag (NPT) zu ratifizieren, und verfügt seit den 1960er Jahren über ein Atomwaffenarsenal. Westliche Regierungen weigern sich systematisch, die Existenz dieses Arsenals überhaupt anzuerkennen, geschweige denn Konsequenzen aus dem Besitz Hunderter Atomwaffen und fortschrittlicher Trägersysteme durch Israel zu ziehen. Zuletzt hat Deutschland Israel wissentlich mit atomwaffenfähigen U-Booten beliefert und einen Großteil der Kosten dafür subventioniert. Die Gewährleistung eines dauerhaften israelischen Atomwaffenmonopols im Nahen Osten bei gleichzeitiger Weigerung, dessen Existenz anzuerkennen, ist die unausgesprochene Politik des Westens.
Russland und China haben nicht nur für die Resolutionen des Sicherheitsrats gemäß Kapitel VII gegen den Iran, sondern auch gegen Nordkorea gestimmt. Und dann ist da natürlich noch der Irak, gegen den Sanktionen verhängt wurden, die Hunderttausende Todesopfer forderten, lange nachdem das Land keine Massenvernichtungswaffen mehr besaß. Im Gegensatz dazu wurde Israels Atomwaffenarsenal, das mittlerweile mehr als ein halbes Jahrhundert alt ist, noch nie als Tagesordnungspunkt im Sicherheitsrat diskutiert.
Vor dem Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) führten die Anklage gegen den russischen Präsidenten Wladimir Putin und der Haftbefehl gegen ihn im Jahr 2023 nicht zu einer internationalen Krise. Der russische Staatschef reagierte mit einem Wutanfall, nahm es dann gelassen hin, mied bestimmte Länder und damit war die Sache erledigt.
Die Anklage des IStGH gegen zwei israelische Politiker im Jahr 2024 hat hingegen zu einer anhaltenden, konzertierten Kampagne geführt, um den Gerichtshof vollständig zu diskreditieren. Ungarn ist aus dem IStGH ausgetreten. Griechenland, Italien und Frankreich haben das Römische Statut faktisch abgelehnt und ihre vertraglichen Verpflichtungen aufgegeben, indem sie dem internationalen Flüchtigen Benjamin Netanjahu wiederholt die Durchquerung ihres Luftraums gestattet haben. Zuletzt hat der amerikanische Außenminister Marco Rubio die drei führenden palästinensischen Menschenrechtsorganisationen [Al Haq, Al Mezan Center for Human Rights und das Palestinian Centre for Human Rights (PCHR), Anm.] mit der Begründung sanktioniert, dass sie mit dem IStGH kooperieren.
Jede Organisation, die die Kühnheit besitzt, Israel an denselben Maßstäben zu messen wie andere, muss zerstört werden – mit allen notwendigen Mitteln.
Ich habe kürzlich mit einer Person zu Abend gegessen, die seit vielen Jahren an einer britischen Universität lehrt. Fast unmittelbar nach den Anschlägen vom 7. Oktober 2023 schickte die Universitätsverwaltung eine Mitteilung an alle Mitarbeiter*innen, in der sie sie aufforderte, vorsichtig zu sein, wie sie sich zu diesem Thema äußern. Zu keinem anderen Thema, weder im In- noch im Ausland, hatte es jemals eine ähnliche Mitteilung gegeben. Weder zum Irak, noch zu den Klimaprotesten, noch zur Sparpolitik der Regierung, noch zu den schweren Terroranschlägen, die Großbritannien in den letzten Jahren erlebt hat.
Mir schien klar, dass diese Warnung dazu dienen sollte, Angst zu schüren und Diskussionen über Ursachen und Folgen zu unterbinden, genauso wie die Kampagne gegen die Meinungsfreiheit an US-amerikanischen Universitäten alles übertrifft, was während des Vietnam- oder Irakkriegs zu beobachten war – Kriegen, an denen die USA direkt beteiligt waren und Tausende Menschenleben verloren haben.
Was sich während des Völkermords im Gazastreifen geändert hat, ist, dass das Tabu, Israel zu kritisieren und zu verurteilen – das Tabu, offen über das Wesen des israelischen Staates und seine Politik zu diskutieren – unwiderruflich gebrochen wurde.
Einzelpersonen, Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens und zunehmend auch Politiker*innen lassen sich nicht mehr von den falschen Anschuldigungen einschüchtern, die ihnen unweigerlich entgegengeworfen werden, wenn sie es wagen, Israel an denselben Maßstäben zu messen, die sie ihr ganzes Leben lang instinktiv auf andere und ähnliche Regime angewendet haben. Sogar die Washingtoner Zweigstelle des israelischen Parlaments, der US-Senat, debattierte kürzlich über ein teilweises Waffenembargo gegen Israel, eine Entwicklung, die noch vor drei Jahren undenkbar gewesen wäre.
Jüdische Kritiker*innen Israels haben bei diesen Entwicklungen eine entscheidende Rolle gespielt. Ihre Worte und Taten haben die Behauptung ad absurdum geführt, dass Kritik an Israel in jeder Hinsicht Kritik an Juden als Juden sei, und die ständige Behauptung der Defamation League widerlegt, dass Antizionismus Antisemitismus sei. Damit haben sie vielen anderen, die zuvor oft wenig über den Nahen Osten wussten und sich instinktiv und zu Recht dagegen wehrten, mit Hass und Diskriminierung in Verbindung gebracht zu werden, das Selbstvertrauen gegeben, Israel wie jede andere politische Einheit zu beurteilen.
Ihre Zahl nimmt auch spürbar zu. In den vergangenen Jahrzehnten galten jüdische Antizionist*innen oder öffentliche Kritiker*innen Israels oft als eine Art Anomalie, und ihre Zugehörigkeit wurde immer wieder erwähnt, als wären sie Mitglieder einer vom Aussterben bedrohten Spezies, die auf Borneo auf wundersame Weise gesichtet wurde. Das ist heute größtenteils nicht mehr der Fall. Die Spaltung zwischen Israel und den jüdischen Gemeinden in der Diaspora, oder zumindest mit bedeutenden Teilen der letzteren, ist ebenso real wie sichtbar. Dasselbe gilt für die wachsende Kluft zwischen den jüdischen Gemeinden und den Organisationen, die behaupten, sie zu vertreten, in der Praxis jedoch Stellvertreter der israelischen Regierung sind.
Aus israelischer Sicht mag es sich, nach einem Leben in Straffreiheit, durchaus so anfühlen, als würde man einer Sonderbehandlung unterzogen, wenn man nach denselben Maßstäben beurteilt wird wie andere. Die Realität sieht jedoch natürlich genau umgekehrt aus. Endlich wird die Gans wie der Ganter behandelt und ist nicht länger der unerkannte Elefant im Raum. Daher der anhaltende Zusammenbruch und der systematische Rückgriff auf formelle Maßnahmen, um nicht nur Proteste, sondern auch Debatten zu unterbinden und diejenigen zu bestrafen, die darauf bestehen, ihre Meinung zu sagen.
Mouin Rabbani ist ein niederländisch-palästinensischer Wissenschaftler, Analyst und Kommentator, der sich auf palästinensische Angelegenheiten, den arabisch-israelischen Konflikt und den zeitgenössischen Nahen Osten spezialisiert hat. Er ist Senior Non-Resident Fellow am Middle East Council on Global Affairs Center und Mitherausgeber von Jadaliyya.




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