Israelische Soldaten sprechen über die Tötung von Zivilist*innen in Gaza
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Soldaten der israelischen Armee berichten in einer Dokumentation von unprovozierten Schüssen und willkürlichen Entscheidungen darüber, wer als Feind galt.
Von Julian Borger, The Guardian, 10. November 2025
(Originalbeitrag in englischer Sprache)
Israelische Soldaten haben laut Aussagen in einer Fernsehdokumentation von einem allgemeinen Chaos in Gaza und einem Zusammenbruch von Normen und rechtlichen Vorschriften berichtet, wobei Zivilist*innen nach Belieben einzelner Offiziere getötet wurden.
„Wenn man ohne Einschränkungen schießen will, kann man das tun“, sagt Daniel, der Kommandant einer Panzereinheit der israelischen Streitkräfte, in der Dokumentation „Breaking Ranks: Inside Israel’s War“, die am Montagabend im britischen Fernsehen auf ITV ausgestrahlt wird. Einige der israelischen Soldaten, die mit der Sendung sprachen, baten um Anonymität, während andere sich öffentlich äußerten. Alle sprachen über die Aufhebung des offiziellen Verhaltenskodexes in Bezug auf Zivilist*innen.
Die Soldaten, die sich zu einem Gespräch bereit erklärten, bestätigten den routinemäßigen Einsatz menschlicher Schutzschilde durch die israelische Armee, was im Widerspruch zu offiziellen Dementis steht, und gaben Einzelheiten darüber preis, wie israelische Truppen ohne Provokation das Feuer auf Zivilist*innen eröffneten, die zu den von der von den USA und Israel unterstützten Gaza Humanitarian Foundation (GHF) eingerichteten militarisierten Verteilungsstellen eilten, um Lebensmittel zu erhalten.
„In der Grundausbildung für die Armee haben wir alle ‚Mittel, Absicht und Fähigkeit‘ gepredigt“, berichtet Hauptmann Yotam Vilk, ein Offizier der Panzertruppe, in Bezug auf die offiziellen Ausbildungsrichtlinien der israelischen Armee, die vorschreiben, dass ein Soldat nur schießen darf, wenn das Ziel über die Mittel verfügt, die Absicht zeigt und die Fähigkeit hat, Schaden anzurichten.
„In Gaza gibt es so etwas wie ‚Mittel, Absicht und Fähigkeit‘ nicht“, so Vilk weiter. „Kein Soldat erwähnt jemals ‚Mittel, Absicht und Fähigkeit‘. Es geht nur um den Verdacht, dass jemand dort unterwegs ist, wo es nicht erlaubt ist. Ein Mann zwischen 20 und 40 Jahren.“
Ein anderer Soldat, der in der Sendung nur als Eli identifiziert wird, berichtet: „Über Leben und Tod entscheiden nicht Verfahren oder Vorschriften zum Abfeuern von Waffen. Es ist die Haltung des Kommandanten vor Ort, die entscheidet.“
Unter diesen Umständen werde die Einstufung, wer ein Feind oder Terrorist ist, willkürlich, sagt Eli in der Dokumentation. „Wenn sie zu schnell gehen, sind sie verdächtig. Wenn sie zu langsam gehen, sind sie verdächtig. Sie planen etwas. Wenn drei Männer gehen und einer von ihnen zurückbleibt, ist das eine Zwei-zu-Eins-Infanterieformation – das ist eine militärische Formation“, sagt er.
Eli beschreibt einen Vorfall, bei dem ein hochrangiger Offizier einem Panzer befahl, ein Gebäude in einem als sicher für Zivilist*innen ausgewiesenen Gebiet zu zerstören. „Ein Mann stand auf dem Dach und hängte Wäsche auf, und der Offizier entschied, dass er ein Späher sei. Er war kein Späher. Er hängte nur seine Wäsche auf. Man konnte sehen, dass er Wäsche aufhängt“, sagt er. „Dieser Mann hatte weder ein Fernglas noch Waffen. Die nächste militärische Einheit war 600 bis 700 Meter entfernt. Wenn er also nicht gerade Adleraugen hatte, wie hätte er dann ein Späher sein können? Der Panzer feuerte eine Granate ab. Das Gebäude stürzte zur Hälfte ein. Das Ergebnis waren viele Tote und Verletzte.“
Eine Analyse der Geheimdienstdaten der israelischen Armee durch den Guardian im August ergab, dass nach Schätzungen israelischer Militärvertreter 83 Prozent der in Gaza Getöteten Zivilist*innen sind, ein historischer Höchststand für moderne Konflikte, obwohl die israelische Armee diese Analyse bestritt. Seit Beginn des Krieges wurden mehr als 69 000 Palästinenser*innen getötet, und trotz eines vor einem Monat begonnenen Waffenstillstands werden weiterhin Menschen getötet.
In einer schriftlichen Erklärung erklärte die israelische Armee: „Die Armee bekennt sich weiterhin zur Rechtsstaatlichkeit und handelt auch weiterhin im Einklang mit ihren rechtlichen und ethischen Verpflichtungen, trotz der beispiellosen Komplexität der Operationen aufgrund der systematischen Einbettung der Hamas in die zivile Infrastruktur und ihrer Nutzung ziviler Einrichtungen für militärische Zwecke.“
Einige der in der Dokumentation „Breaking Ranks“ interviewten Soldaten gaben an, dass sie von den Äußerungen israelischer Politiker*innen und religiöser Führer beeinflusst worden seien, die nach dem Angriff der Hamas am 7. Oktober 2023, bei dem etwa 1 200 Israelis und Ausländer*innen getötet wurden, suggerierten, dass jeder Palästinenser und jede Palästinenserin ein legitimes Ziel sei.
Eine UN-Kommission kam im September zu dem Schluss, dass Israel in Gaza Völkermord begangen habe. In Bezug auf die Frage der Absicht verwies sie auf die Hetze israelischer Politiker wie Präsident Isaac Herzog, der kurz nach dem Angriff vom 7. Oktober sagte: „Es ist eine ganze Nation, die dafür verantwortlich ist. Diese Rhetorik, dass die Zivilbevölkerung nichts davon weiß und nicht daran beteiligt ist, ist absolut falsch.“
Daniel, der Kommandant der Panzereinheit, sagt in der Dokumentation, dass die Rhetorik, es gäbe keine Unschuldigen in Gaza, bis in die Reihen der Armee vorgedrungen sei: „Man hört das ständig, also fängt man an, es zu glauben.“
Ein Sprecher von Herzog sagte, der israelische Präsident habe sich offen für humanitäre Anliegen und den Schutz Unschuldiger eingesetzt.
Die Dokumentation liefert auch Beweise dafür, dass solche Ansichten von einigen Rabbinern in den Streitkräften propagiert wurden. „Einmal setzte sich der Brigaderabbiner neben mich und erklärte mir eine halbe Stunde lang, warum wir genauso sein müssen wie sie am 7. Oktober. Dass wir uns an allen rächen müssen, auch an Zivilist*innen. Dass wir nicht differenzieren dürfen und dass dies der einzige Weg ist“, berichtet Maj Neta Caspin. Rabbi Avraham Zarbiv, ein extremistischer jüdischer Geistlicher, der mehr als 500 Tage in Gaza gedient hat, sagt in der Dokumentation: „Alles dort ist eine einzige große terroristische Infrastruktur.“
Zarbiv hat nicht nur der massiven Zerstörung palästinensischer Stadtviertel religiöse Legitimität verliehen, sondern selbst Militärbulldozer gefahren und beansprucht für sich, eine Taktik entwickelt zu haben, die von der gesamten israelischen Armee übernommen wurde, indem er auf den Massenkauf von gepanzerten Bulldozern hinweist. „Die israelische Armee investiert Hunderttausende Schekel, um den Gazastreifen zu zerstören. Wir haben das Verhalten einer ganzen Armee verändert“, so Zarbiv in der Sendung.
Die Soldaten, die in Breaking Ranks zu Wort kommen, bestätigen auch übereinstimmende Berichte aus dem zweijährigen Krieg über den Einsatz palästinensischer Zivilist*innen als menschliche Schutzschilde, eine Praxis, die informell als „Moskito-Protokoll“ bekannt ist.
„Man schickt das menschliche Schutzschild unter die Erde. Während er den Tunnel entlanggeht, kartiert er alles für einen. Er hat ein iPhone in seiner Weste und während er geht, sendet es GPS-Informationen zurück“, berichtet Daniel, der Panzerkommandant, in der Dokumentation. „Die Kommandeure sahen, wie es funktioniert. Und die Praxis verbreitete sich wie ein Lauffeuer. Nach etwa einer Woche setzte jede Kompanie ihren eigenen Moskito ein.“
Die israelische Armee erklärte in einer Stellungnahme, dass „die Armee den Einsatz von Zivilist*innen als menschliche Schutzschilde oder deren Nötigung zur Teilnahme an militärischen Operationen verbietet. Diese Befehle wurden den Streitkräften während des gesamten Krieges regelmäßig eingeschärft. Vorwürfe wegen Fehlverhaltens werden gründlich geprüft, und wenn identifizierende Details vorliegen, wird die Angelegenheit eingehend untersucht. In mehreren Fällen wurden Ermittlungen durch die Kriminalabteilung der Militärpolizei (MPCID) eingeleitet, nachdem Verdachtsmomente im Zusammenhang mit Palästinenser*innen bei Militäreinsätzen aufgetreten waren. Diese Ermittlungen dauern noch an.“
Die Macher von „Breaking Ranks“ sprachen mit einem Söldner, der nur als Sam vorgestellt wurde und an Lebensmittelverteilungsstellen der GHF arbeitete. Er sagt, er habe gesehen, wie die israelische Armee unbewaffnete Zivilist*innen getötet habe. Er beschreibt einen Vorfall an einer Verteilungsstelle, wo zwei junge Männer in der allgemeinen Hektik um Hilfsgüter rannten. „Man konnte sehen, wie zwei Soldaten ihnen hinterherliefen. Sie ließen sich auf die Knie fallen und schossen einfach zweimal, und man konnte sehen, wie ... zwei Köpfe nach hinten schnellen und einfach umfielen“, erzählt Sam. Er berichtet von einem weiteren Vorfall, bei dem ein Panzer der israelischen Armee in der Nähe einer der Verteilungsstellen „ein normales Auto ... mit vier ganz normalen Menschen darin“ zerstörte.
Nach Angaben der Vereinten Nationen wurden mindestens 944 palästinensische Zivilist*innen getötet, als sie in der Nähe von GHF-Hilfsstellen Hilfe suchten. Die GHF und die israelische Armee haben stets bestritten, Zivilist*innen ins Visier genommen zu haben, die an Hilfsverteilungsstellen nach Lebensmitteln suchten, und die israelische Armee hat die Vorwürfe systematischer Kriegsverbrechen zurückgewiesen und betont, dass sie in Übereinstimmung mit dem Völkerrecht handelt und Maßnahmen ergreift, um zivile Opfer bei ihren Operationen gegen die Hamas zu minimieren. Sie wurde um eine Stellungnahme zu den Vorwürfen in der Dokumentation „Breaking Ranks“ gebeten. Interne Untersuchungen von Vorfällen, bei denen Zivilist*innen getötet wurden, haben praktisch zu keiner disziplinarischen oder rechtlichen Rechenschaft geführt.
Breaking Ranks zeigt die psychische Belastung zumindest einiger Soldaten in Gaza. „Ich habe das Gefühl, dass sie meinen ganzen Stolz darauf, Israeli zu sein – darauf, Offizier der israelischen Armee zu sein – zerstört haben“, sagt Daniel in der Sendung. „Alles, was übrig bleibt, ist Scham.“




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