Israels Lebensmittelverteilungsstellen sind nicht nur Todesfallen – sie sind ein Vorwand für die Aushungerung des Gazastreifens.
- office16022
- 28. Juli
- 5 Min. Lesezeit
Wir haben Hungersnöte in Biafra und Äthiopien erlebt. Im „Hilfsgüterverteilungssystem“ der Gaza Humanitarian Foundation sehen wir das Alibi, um eine ganze Gesellschaft zu zerstören.
Von Alex de Waal, The Guardian, 26. Juli 2025
(Originalbeitrag in englischer Sprache)
Wenn eine Gemeinschaft von einer Massenhungersnot heimgesucht wird, geschieht etwas Seltenes und Schreckliches. Hungersnot ist nicht nur das biologische Phänomen des Verfalls des Körpers. Sie ist auch das Todesröcheln der gesellschaftlichen Ordnung. Hungersnot ist der Anblick von Menschen, die in Müllhaufen nach Essen suchen. Es ist eine Frau, die heimlich kocht und Essen vor ihren hungernden Cousins versteckt. Es ist eine Familie, die den Schmuck ihrer Großmutter für eine einzige Mahlzeit verkauft, mit ausdruckslosen Gesichtern und glasigen Augen. Es bedeutet Erniedrigung, Demütigung, Scham – und ja, auch Entmenschlichung –, die entstehen, wenn Menschen wie Tiere nach Essen suchen.
Das ist eine Realität, die keine Statistik erfassen kann. Und die Methoden zur Messung von Nahrungsmittelkrisen und deren Einstufung – wobei „Hungersnot“ die schlimmste Stufe ist – versagen, wenn eine Gesellschaft auf diese Weise zusammenbricht.
Aber genauso wie ein erfahrener Arzt Fieber diagnostizieren kann, ohne Blutproben ins Labor schicken zu müssen, erkennen erfahrene humanitäre Helfer, die 1969 in Biafra oder 1984 in Äthiopien das ganze Ausmaß menschlichen Leids miterlebt haben, die Symptome, wenn sie sie sehen.
Und sie sehen sie heute in Gaza.
Werfen Sie einen Blick auf die Erklärungen der Gaza Humanitarian Foundation (GHF) – der von den USA und Israel unterstützten Organisation, die im Mai ihre Arbeit aufgenommen hat – und Sie betreten eine andere Welt. Die GHF präsentiert sich als professionelle, mitfühlende Organisation, die für das 21. Jahrhundert konzipiert ist. Sie sehen Bilder von Ordnung und Effizienz und eine stolze Ankündigung, dass sie gestern mehr als 2 Millionen Mahlzeiten von ihren vier „sicheren Verteilungsstellen” aus geliefert hat.
Und neben den Bildern hungernder Kinder und Frauen, die vor Hunger zusammenbrechen, gibt es auch Bilder von gesunden jungen Männern. Im Gegensatz zu den Aufnahmen palästinensischer Journalist*innen, die den verzweifelten Kampf um die wenigen Hilfsgüter zeigen, die noch von der UNO bereitgestellt werden, zeigt die GHF Bilder von geordneten Verteilungen, auf denen ihre eigenen Mitarbeiter die Hände palästinensischer Kinder halten.
Israelische Sprecher behaupten, dass die Vereinten Nationen Hunderte von Lastwagen voll mit Lebensmitteln innerhalb des Gazastreifens haben, die sie jedoch nicht verteilen wollen.
Aber dieses rosige Bild hält selbst der einfachsten Überprüfung nicht stand. Es gibt vier Gründe, warum es sich bestenfalls um eine Improvisation von Amateuren und schlimmstenfalls um eine Vertuschung des Verbrechens der anhaltenden Massenhungersnot handelt.
1.
Erstens stimmen die Zahlen einfach nicht. Im April berechnete die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen die noch vorhandenen Lebensmittelvorräte in Gaza nach 18 Monaten Belagerung und Krieg und zwei Monaten vollständiger Blockade durch Israel. Sie schätzte, dass die verfügbaren Lebensmittel zwischen Mai und Juli auf nur noch die Hälfte des zum Überleben notwendigen Bedarfs sinken würden. Das bedeutet, dass die Hilfsmaßnahmen den gesamten Lebensmittelbedarf Gazas decken müssen. Zwei Millionen Mahlzeiten pro Tag sind weniger als die Hälfte des Bedarfs. Die GHF-Rationen mögen den Vormarsch der Hungersnot verlangsamt haben, aber nicht wesentlich.
2.
Zweitens kann man eine Hungersnot nicht allein mit Zahlen lindern. Das GHF-System ist, als würde man am Ufer eines großen Teiches stehen und die Fische mit Brotkrumen füttern. Wer bekommt die Rationen zu essen?
Hungersnöte treffen die vulnerabelsten Bevölkerungsgruppen. Die UNO definiert akute Ernährungsunsicherheit als Hungersnot, wenn 20 Prozent der Familien unter extremer Nahrungsmittelknappheit leiden. Hungersnöte treffen die Schwächsten, nicht die Stärksten.
Im Laufe der Jahrzehnte haben humanitäre Programme herausgefunden, wie man am besten die Ärmsten erreicht, beispielsweise Frauen ohne Ehemann, die mehrere Kinder und vielleicht auch noch ältere Eltern versorgen müssen. Es kommt auf die letzte Meile der Hilfslieferung an.
Die GHF betreibt vier Verteilungsstellen. Drei davon befinden sich im äußersten Süden Gazas in den Ruinen von Rafah, eine im Zentrum Gazas. Sie alle liegen in Militärzonen. Sie sind nur für kurze Zeit und kurzfristig geöffnet. Um diese Lebensmittelrationen zu erhalten, müssen die Menschen in den Trümmern lagern – bereit, jederzeit zu den Toren zu stürmen und sich den Militärposten der israelischen Streitkräfte zu stellen. Sie wissen, dass die Soldaten der israelischen Streitkräfte zur Kontrolle der Menschenmassen nur scharfe Munition einsetzen – selbst, wenn sie nicht tödlich schießen.
Wenn die GHF von „sicheren Verteilungsstellen“ spricht, bezieht sie sich darauf, wie sie ihre Pakete bis zur Übergabe kontrolliert, und nicht darauf, wie sie diese sicher an die Bedürftigsten liefert. Jeden Tag kommen Dutzende von Hilfsbedürftigen ums Leben, wenn sie versuchen, diese Stellen zu erreichen.
Wie sollen überlastete Mütter hungriger Kinder, ältere Menschen oder Behinderte sich dieser Menschenmenge anschließen? Wie sollen sie nicht nur die Militärposten überwinden, sondern auch die Banditen, die darauf aus sind, die wertvollsten Lebensmittel für sich selbst zu stehlen oder auf dem Markt zu verkaufen? Die GHF hat keine Ahnung, wer die Rationen isst. Ihr Konzept ist keine Formel zur Ernährung der Ärmsten. Es ist das Gesetz des Dschungels.
3.
Drittens muss die Hilfe auf die tatsächlichen Bedürfnisse der Menschen zugeschnitten sein. Ganz oben auf der Liste stehen spezielle Lebensmittel für unterernährte Kinder, die keine normalen Mahlzeiten zu sich nehmen können, wie beispielsweise Plumpy'Nut, ein gebrauchsfertiges therapeutisches Nahrungsmittel. [Plumpy’nut ist eine energiereiche Paste aus Erdnussbutter zur Behandlung von Unterernährung, Anm.]
Die GHF-Rationskiste enthält in der Regel Mehl, Nudeln, Tahini [Sesammus, Anm.], Speiseöl, Reis und Kichererbsen oder Linsen. Keine Babynahrung. Kein Plumpy'Nut. Und es gibt keine ausgebildeten Krankenpfleger*innen oder Ernährungsberater*innen vor Ort, die hungernden Kindern tatsächlich therapeutische Hilfe leisten könnten.
Denken Sie an die verzweifelte Mutter, die buchstäblich am Ende der Nahrungskette steht: Wie soll sie die Rationen, die sie erhält, zubereiten? Wie findet sie sauberes Wasser? Israel hat die Wasserverfügbarkeit auf einen Bruchteil des Bedarfs reduziert und bombardiert die verbleibenden Entsalzungsanlagen. Womit kann sie ein Feuer machen? Ohne Strom oder Kochgas verbrennt sie möglicherweise Müll, um Essen zu erhitzen.
Und schließlich, was am aussagekräftigsten ist: Eine wirklich humanitäre Operation unterstützt die betroffenen Menschen, respektiert die Würde der Bedürftigen und arbeitet mit den Gemeinden zusammen. Die GHF tut im Wesentlichen das Gegenteil: Sie demütigt und schwächt.
Der soziale Zusammenbruch, den wir erleben, die Erniedrigung von Menschen, ist kein Nebenprodukt des Leids, das Israel verursacht. Das ist das zentrale Element des Verbrechens: die Zerstörung der palästinensischen Gesellschaft. Die israelische Regierung zeigt keinerlei Anzeichen dafür, dass sie sich auch nur im Geringsten darum kümmert, ob Palästinenser*innen leben oder sterben. Sie will das Stigma vermeiden, des Hungers und Völkermords beschuldigt zu werden, und die GHF ist ihr derzeitiges Alibi. Lassen wir uns nicht täuschen.
Alex de Waal ist Geschäftsführer der World Peace Fundation an der Tufts University in Massachusetts. Seit 40 Jahren ist er als humanitärer Helfer tätig und gilt als einer der weltweit größten Experten für Hungersnöte und damit im Zusammenhang stehende Themen.




Kommentare