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„Medizin kann importiert werden, Ärztinnen und Ärzte nicht": Die Tötung hunderter medizinischer Mitarbeiter*innen im Gazastreifen durch die israelische Armee verschärft die Krise des Gesundheitssyste

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Nach Angaben des Gesundheitsministeriums in Gaza wurden seit dem 7. Oktober mindestens 1.580 Angestellte des Gesundheitswesens im Gazastreifen getötet. Angesichts zunehmender internationaler Kritik hat die israelische Armee Behauptungen zurückgewiesen, das Gesundheitssystem absichtlich ins Visier genommen zu haben, hat aber noch keine alternativen Erklärungen für ihre zahlreichen Angriffe auf Krankenhäuser, Krankenwagen und medizinisches Personal geliefert.

Von Nir Hasson und Jack Khoury, Haaretz, 8. Juli 2025

(Originalbeitrag in englischer Sprache)

 

Ein Jet der israelischen Luftwaffe feuerte am Samstag eine Rakete auf ein Zelt im nordwestlichen Khan Yunis ab. Bei dem Angriff wurden mindestens vier Männer getötet: Dr. Musa Khafajeh, ein führender Gynäkologe in Gaza, und drei seiner Kinder. Neben Dr. Khafajeh haben israelische Angriffe in den letzten Monaten zahlreiche weitere Mediziner*innen getötet: So schlug drei Tage zuvor eine Rakete in einer Wohnung im Westen von Gaza-Stadt ein und tötete sieben Menschen, darunter Dr. Marwan Al-Sultan, den Leiter des indonesischen Krankenhauses in Beit Lahia, und vier seiner Angehörigen.

Am 6. Juni, dem ersten Tag des muslimischen Opferfestes, wurden im gesamten Gazastreifen Dutzende von Menschen getötet, darunter Dr. Eyda Khader, Leiterin der Hebammenabteilung des Gesundheitsministeriums im Gazastreifen, ihre Schwester Faten, eine Krankenschwester, Deib Al-Batah, der leitende Krankenpfleger des indonesischen Krankenhauses, der zusammen mit seinen beiden Kindern getötet wurde, sowie weiteres medizinisches Personal.

Ende Mai wurde Dr. Ahmad Nabhan, Leiter der Notaufnahme des indonesischen Krankenhauses, nach palästinensischen Angaben getötet, als eine von einer Drohne abgefeuerte Rakete sein Haus in Jabalya traf. Drei Tage zuvor war der Krankenpfleger Ahmed E'dal Abu Khalal bei einem Luftangriff auf Al-Mawasi getötet worden. Zwei Tage zuvor schlug eine Rakete im Haus des Ehepaars Dr. Hamdi und Dr. Alaa Al-Najjar in Khan Yunis ein und tötete neun ihrer zehn Kinder. Der Vater starb später an seinen Verletzungen.

Am 22. April wurde Dr. Rawya Al-Harazin durch Schüsse verwundet, als sie in Abasan al-Kabira im südlichen Gazastreifen aus einem Bus stieg. Ihr Ehemann, Dr. Nahed Abu Taima, der Direktor des Nasser-Krankenhauses, ist seit 18 Monaten inhaftiert.

Nach Angaben des Gesundheitsministeriums im Gazastreifen sind seit dem 7. Oktober 2023 1 580 Ärzt*innen und medizinisches Personal durch israelischen Beschuss getötet worden. Mehrere von ihnen wurden bei der Ausübung ihres Dienstes getötet: Die bekanntesten Fälle sind der Tod von 15 Sanitätern in Rafah im März und die Tötung einer Krankenwagenbesatzung, die im Januar 2024 versuchte, die 6-jährige Hind Rajab zu retten.

Viele medizinische Mitarbeiter*innen wurden jedoch zusammen mit ihren Familien in ihren Häusern oder Zelten für Vertriebene getötet. Die israelische Armee weist die Behauptung zurück, dass medizinisches Personal absichtlich verletzt wurde, und bezeichnet dies als „Kollateralschaden“. Dennoch bietet die Armee keine anderen Erklärungen für ihre zahlreichen Angriffe auf Krankenhäuser, Krankenwagen und medizinisches Personal an.

Über die genaue Zahl der Opfer herrscht Uneinigkeit. Vor über einem Jahr berichtete Reuters, dass Israel 55 Fachärzte im Gazastreifen getötet habe. Im Oktober berichtete die Organisation Healthcare Workers Watch – Palestine (HWW), dass sie den Tod von 587 medizinischen Fachkräften dokumentiert habe und dass Hunderte von weiteren Fällen geprüft werden. Die Zahl der Todesfälle habe in den letzten Monaten zugenommen. In den letzten 50 Tagen habe Israel 70 Ärzt*innen und medizinisches Personal getötet. Bei der Angriffswelle am 5. und 6. Juni seien neun Ärzt*innen und medizinisches Personal bei Angriffen der israelischen Armee getötet worden.

Von allen Schäden, die Israels Angriffe dem Gesundheitssystem des Gazastreifens zugefügt haben, ist die Tötung von leitenden Ärzt*innen am schwersten zu verkraften. Nach dem Tod von Al-Sultan aus dem indonesischen Krankenhaus sagte Aseel Aburass, die Geschäftsführerin der Abteilung für die besetzten palästinensischen Gebiete bei Physicians for Human Rights-Israel: „Medikamente können importiert werden, Ärzt*innen nicht. Er wurde umgebracht, und wir werden 30 Jahre warten müssen, bis ein Spezialist ersetzt werden kann." Dr. Al-Sultan war der letzte Krankenhausdirektor im nördlichen Gazastreifen, der noch nicht getötet oder verhaftet worden war.

Zu Beginn des Krieges wurden die Leiter der Krankenhäuser Kamal Adwan und El-Awda verhaftet. Der stellvertretende Direktor des Kamal Adwan Krankenhauses wurde im Dezember verhaftet. Al-Sultan war auch einer der beiden letzten Kardiologen im nördlichen Gazastreifen, und sein Tod hat die Überlebenschancen von Herzpatient*innen im Gazastreifen stark verringert.

Auf einem Foto von der Abschlussfeier der medizinischen Fakultät der Islamischen Universität im Jahr 2022 steht Al-Sultan neben drei anderen leitenden Ärzten. Alle sind inzwischen tot: Der Direktor des Krankenhauses für Innere Medizin, Dr. Rafat Labad, und der ehemalige Dekan der medizinischen Fakultät, Dr. Omar Farwana, wurden zu Beginn des Krieges bei Bombenangriffen getötet. Der vierte Arzt, Dr. Adnan Al-Bursh, starb in der Haft im Ofer-Gefängnis im Westjordanland. Nach Angaben seiner Familie war er vor seiner Verhaftung völlig gesund und starb an den Folgen von Misshandlung, Folter und Hunger.

Laut HWW wurden seit Ausbruch des Krieges folgende Abteilungsleiter des Shifa-Krankenhauses getötet: Innere Medizin, Entbindungsstation, Notaufnahme, Pathologie, Radiologie und Orthopädie. Der Direktor des Shifa-Krankenhauses wurde verhaftet und wieder freigelassen, und drei stellvertretende Abteilungsleiter wurden ebenfalls verhaftet.

Dr. Al-Sultan war im nördlichen Gazastreifen eine sehr bekannte Persönlichkeit. Wie die Leiter anderer Krankenhäuser in Gaza wurde er zu einem Symbol der Aufopferung für seine Patient*innen. Anfang Mai wurde das Krankenhaus von der israelischen Armee belagert. Einige Wochen später sagte er in einem Interview mit einem indonesischen Nachrichtensender: „Wir stehen an der Seite unserer Patient*innen im Krankenhaus. Unsere Botschaft ist, dass Sie Druck auf Ihre Regierungen ausüben müssen, damit die Israelis den Beschuss einstellen." Tage später war er gezwungen, das Krankenhaus mit den Patient*innen zu evakuieren. Die Familien der Patient*innen schleppten die Betten ihrer Angehörigen durch die zerstörten Straßen von Jabalya.

Dr. Ezzideen Shehab, ein Kollege, erinnert sich an Al-Sultan: „Er glaubte nicht an Gewalt, sondern nur an Präsenz. Er ging zwischen den Verwundeten umher, als wäre ihr Schmerz sein eigener, und das war er auch. Seine Hände, die mit dem Blut von Fremden befleckt waren, zitterten nicht. Er stand nicht über uns, sondern neben uns, Schulter an Schulter, nicht wie ein Manager, sondern wie ein verzweifelter Bruder. Als die Sirenen ertönten, floh er nicht, er schaute nur gen Himmel und flüsterte: „Macht euch bereit“. Nicht in Angst, sondern in Bereitschaft, denn er wusste, dass diese Welt kein Ort für die Sanftmütigen ist."

Die israelische Armee belagerte das Krankenhaus monatelang, bevor sie alle zwangen, es zu verlassen. Danach richtete Al-Sultan medizinische Hilfsstationen in Privathäusern und öffentlichen Gebäuden in Shujaiyeh und Sheikh Radwan ein. „Wir wurden ständig aufgefordert, zu evakuieren, wir mussten ständig neu improvisieren, aber er ging nicht und zog seinen Kittel nicht aus“, sagt Salah Haj Yahya, Direktor der mobilen Klinik von Physicians for Human Rights-Israel.

Bei dem Angriff, bei dem Al-Sultan getötet wurde, wurden auch seine Frau, seine Schwester, seine Tochter und sein Schwiegersohn getötet. Der Guardian zitiert eine weitere Tochter, Lobna, mit der Aussage, die Familie habe die Wohnung kurz vor dem Angriff gemietet, nachdem sie aus ihrem Haus in der Nähe des Krankenhauses evakuiert worden war. Der Luftangriff zielte speziell auf das Zimmer ihres Vaters. „Alle Zimmer waren in Ordnung, außer seinem, die Rakete hat es genau getroffen“, sagte sie dem Guardian. Sein Sohn Ahmed sagte, es gebe „keine andere Erklärung“.

Daraufhin erklärte die Armee gegenüber The Guardian: „Die israelische Armee hat einen wichtigen Terroristen der Hamas-Terrororganisation in der Gegend von Gaza-Stadt getroffen. Die Behauptung, dass durch den Schlag unbeteiligte Zivilist*innen zu Schaden gekommen seien, wird geprüft." Die Armee stellte nicht klar, ob Dr. Al-Sultan der angegriffene „Terrorist“ war.

In Israel und in der ganzen Welt wächst die Kritik an den als vorsätzlich angesehenen israelischen Angriffen auf medizinisches Personal in Gaza. Letzte Woche hat die British Medical Association in einem außergewöhnlichen Schritt ihre Beziehungen zur Israel Medical Association gekappt, bis diese die Angriffe auf das Gesundheitssystem in Gaza verurteilt. In Israel unterzeichneten 600 Mediziner*innen eine Petition, in der ein Ende der Angriffe auf das Gesundheitssystem in Gaza und eine klare Stellungnahme der IMA zu diesem Thema gefordert wird.

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Das Büro des Sprechers der israelischen Armee lehnte es ab, Fragen zu den kürzlich getöteten Ärzten zu beantworten und bat Haaretz, die genauen Koordinaten der Angriffe zu nennen.

Zum Tod von Al-Sultan erklärte die Armee: „Die israelische Armee hat einen wichtigen Terroristen der Hamas-Terrororganisation in der Gegend von Gaza-Stadt getroffen. Die Behauptung, dass infolge des Treffers unbeteiligte Zivilist*innen zu Schaden gekommen sind, wird derzeit geprüft. Die IDF bedauern jeglichen Schaden für unbeteiligte Personen und bemühen sich, den Schaden für sie so weit wie möglich zu mindern. Die Terrororganisation Hamas verstößt systematisch gegen internationales Recht, indem sie zivile Infrastrukturen für terroristische Aktivitäten und die Zivilbevölkerung als menschliche Schutzschilde benutzt. Der Vorfall wird derzeit untersucht."



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