Meine letzten Worte an Gaza
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Nachdem ich mich verabschiedet hatte, drehte ich mich nicht um, um meine Familie noch einmal anzusehen. Ich schämte mich zu sehr. Ich ging, um Frieden zu finden, und alles, was ihnen blieb, waren Hungersnot und Krieg.
Von Abdallah Aljazzar, 972Mag, 21. Oktober 2025
(Originalbeitrag in englischer Sprache)
„Ich brauche einen Haarschnitt“, sagte ich zu meinem Friseur Mohammed. „Okay. Das Übliche?“, fragte er. „Nein, ich werde morgen meiner Liebsten einen Heiratsantrag machen.“ Die Lüge fiel mir leicht: Ich bin alleinstehend, und das schon seit langer Zeit. Aber ich brauchte die Hand eines Friseurs, die mit besonderer Sorgfalt und Hingabe arbeitete, denn dies war kein gewöhnlicher Haarschnitt.
Kurz zuvor hatte mich die irische Regierung angerufen. Es war ein Dienstag im August. „Bereiten Sie sich darauf vor, Gaza zu verlassen und nach Irland zu kommen. Die Maynooth University steht für Sie bereit.“ Seit mehr als einem Jahr hatte ich meine Abreise aus meiner Heimat Gaza genau geübt, so wie mein kleiner Bruder Ali das Drachensteigen übt. Jetzt war die Probe vorbei.
Ich hatte große Pläne, aber wie verlässt man sein Leben? Wie gibt man sein Zuhause auf? Ich wollte aufrecht und in Würde abreisen. Ich wollte nicht das Gefühl haben, wegzulaufen. Aber in „Würde“ sein Zuhause verlassen? Dieses Wort hat jede Bedeutung verloren.
Zunächst einmal, so entschied ich schließlich, geht es darum, wie ich aussehe. Im Spiegel des Friseurs sah ich meinen Bruder Nour – ein Polizist, der seit seinem Verschwinden während der israelischen Bombardierung von Khan Younis vermisst wird. „Wie sehe ich aus?“, fragte ich ihn still. „Sehe ich menschlich genug aus für Irland?“
Mein ganzes Leben lang war ich derjenige gewesen, der zurückblieb und zusah, wie andere in die Möglichkeit eines anderen Ortes verschwanden: Cousins, Freund*innen, Bekannte. Aber dieses Mal war ich der Geist, der sich darauf vorbereitete, zu verschwinden. Meine Freude war von Angst umhüllt, wie eine zweite Haut. Was, wenn ein israelischer Soldat am Kerem-Shalom-Übergang nach Israel beschließen würde, mich nicht gehen zu lassen - oder noch Schlimmeres? Das ist die Realität des Lebens in Gaza: Mir war bewusst, dass Aufregung nur bedeutet, sich auf Enttäuschungen vorzubereiten.
An diesem Abend trug ich zwei Gallonen Wasser zu meinem provisorischen Badezimmer und goss es über meinen Körper. Meine Haut erinnerte sich langsam wieder daran, wie es sich anfühlte, sauber zu sein. Niemand sah mich dort weinen, gebadet in Wasser und Sand, Salz und Seife und meiner eigenen Trauer.
Ich zog meine einzigen sauberen Kleider an und ging durch die Umarmungen, wobei ich mir die meiner Mutter für den Schluss aufhob. Meine Mutter ist reine Liebe, unfähig zu Hass, obwohl der Hass so viele ihrer Lieben getötet hat. Ich sog ein letztes Mal den Duft von Zuhause ein. Dann trat ich aus meinem Zelt, und meine Familie folgte mir wie ein Trauerzug auf die Straße.
Ich fand ein Taxi statt eines Eselskarren, das mich von Al-Mawasi nach Deir Al-Balah im Zentrum des Gazastreifens brachte, wo mich der Evakuierungsbus abholen würde. Im letzten Moment wurde mir klar, dass dies vielleicht der endgültige Abschied sein könnte. Was sollte ich sagen? Bevor ich in das Taxi stieg, sah ich meinen kleinen Bruder Ali an und sagte: „Deer balak ʻala ammak.“ Ich war mir nicht sicher, ob er mich verstanden hatte. „Ali, pass auf dich auf und pass auf Mama auf, okay?“
Das waren meine letzten Worte an Gaza.
Ich drehte mich nicht um, um meine Familie noch einmal anzusehen. Ich schämte mich zu sehr. Ich ging, um Frieden zu finden, und alles, was ihnen blieb, waren Hungersnot und Krieg. Ich versuchte mir einzureden, dass ich ging, um sie eines Tages auch herauszuholen. Aber das glaubte ich selbst nicht.
In dieser Nacht, während ich auf den Bus wartete, lag ich auf dem Asphalt und benutzte meinen Rucksack als Kopfkissen. Aber ich blieb wach und befolgte die Anweisungen der Iren mit der Hingabe eines Mönchs. Um 3 Uhr morgens stieg ich zusammen mit einer Gruppe von mehr als 40 anderen Stipendiat*innen in den Bus und begab mich ins Unbekannte.
Als der Bus losfuhr, sah ich nur eine Landschaft der Zerstörung, Gaza in Trümmern, Alis Augen voller Verantwortung und Nours Abwesenheit. Um 7 Uhr morgens erreichten wir Rafah, den Ort, an dem ich geboren wurde. Der Krieg hatte ihn in einen Friedhof verwandelt, besetzt von Streitkräften, die ihn zu einer No-Go-Zone machten.
Dennoch versuchte ich, einen Blick auf die Ruinen zu erhaschen. Vielleicht war mein Bruder Nour irgendwo gefangen und wartete. Nours Name bedeutet auf Arabisch „Licht“, und ohne ihn ist mein Leben in Dunkelheit gehüllt.
Am Grenzübergang Karem Abu Salem/Kerem Shalom bot mir einer der Beamten auf palästinensischer Seite eine Zigarette an. Im Gazastreifen kostete eine einzige Zigarette einen Tageslohn. Ich hatte mit dem Rauchen aufgehört, nahm aber trotzdem eine, um mich dem Ritual dieser Gemeinschaft anzuschließen. Bald befand ich mich in einem Kreis von Mitverbannten, die Rauch in die Morgenluft bliesen und zusahen, wie er über die Grenze driftete.
Schließlich überquerten wir die Grenze zur israelischen Seite. Die Mitarbeiter*innen der irischen Botschaft warteten wie Engel auf uns. Sie gaben uns genießbares Essen und Wasser, das nicht rationiert war. Ich wurde auch Zeuge jenes magischen Moments, als mein Visum aus einem Drucker kam. Als ich es ansah, verlor mein Blick den Fokus. Dieses eine kleine Stück Papier war alles, was nötig war?
Der Rest dieser Reise – nach Jordanien, dann in die Türkei, bevor wir in Dublin ankamen – ist noch immer verschwommen. Doch im Halbschlaf hörte ich immer wieder Nours Stimme: „Nimm mich mit, nicht als Last, sondern als deine Flügel.“
Während des Krieges 2014 verloren wir die Marmorfabrik, die unser Familienunternehmen war. Einige Jahre später bauten wir sie wieder auf, aber 2021 wurde sie abermals teilweise zerstört. Jetzt ist sie komplett verschwunden, zusammen mit meinem Haus und meiner Farm und vielleicht auch Nour.
Die Ankündigung eines Waffenstillstands letzte Woche fühlt sich surreal an. Ich kann nur daran denken, meine Familie herauszuholen, um ihre Last zu erleichtern, ihnen zu helfen, Trost zu finden, das Trauma zu verarbeiten und neu anzufangen. Aber ich weiß nicht, wie.
Nachts träume ich davon, dass Nour mich sucht. „Ich bin in Irland, Habibi“, rufe ich ihm zu. „Alles ist grün und wunderschön. Ich bin in meine Unterkunft in Maynooth gezogen. Nur ein Zimmer, aber groß genug für zwei. Ich habe dir einen Platz am Fenster freigehalten. Sag mir einfach, wo du bist, Habibi. Ich werde dich holen kommen.“
Ich frage mich, ob er irgendwo in einem israelischen Gefängnis lebt und uns nicht erreichen kann. Wird er im Rahmen des Abkommens freigelassen werden? Wird er mich aus unserem Familienzelt in Gaza anrufen und sagen: „Ich vermisse dich auch, großer Bruder.“?
Und dann, letzten Dienstag, wachte ich auf, weil meine Familie mich anrief. Sie hatten drei Palästinenser getroffen, die gerade aus israelischer Haft entlassen worden waren, und sie sagten, sie hätten Nour gesehen. Er lebt. Es geht ihm den Umständen entsprechend gut.
Ich lag auf dem Boden und weinte.
Sag mir einfach, wo du bist, Habibi.
Ich werde dich holen kommen.
Abdallah Aljazzar ist Palästinenser aus Gaza. Derzeit absolviert er ein Masterstudium an der Maynooth University in Irland, wo er als Programmkoordinator für palästinensische Studierende aus Gaza tätig ist.




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